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»Victims & Neighbors«

Interview: Hannah Schultes und Sebastian Friedrich
Einleitung

Interview mit Frances Henry über die Aufarbeitung des NS in einer deutschen Kleinstadt

Foto: flickr.com; rajue/CC BY-NC-SA 2.0

Museums-Ausstellungsstück: Post in Bad Sobernheim.

Warum besuchten Sie in den 1970er Jahren erneut Bad Sobernheim?

Meine Motivation rührte wohl daher, dass ich mit Mitte vierzig die Mitte meines Lebens erreicht hatte und mehr über meine Vergangenheit verstehen wollte. Es war eine Art Reise zu meinen Wurzeln, die im starken Kontrast stand zu dem Hass und der Feindschaft, die ich bis dahin wäh­rend des Großteils meines Lebens verspürt hatte. Davor wollte ich überhaupt nichts von Deutschland wissen. Wenn ich zu einem Treffen, einer Party oder auch in ein Restaurant ging und einen großen, blonden Mann mit schwarzer Hose und schwarzen Stiefeln sah, stellten sich mir die Nackenhaare auf. Es dauerte sehr lange, bis ich bereit war, noch mal zurückzugehen und zwar alleine – ohne Hilfe, ohne Namen oder Adres­sen, die meine Mutter mir hätte geben können. Das brachte mich zuerst nach Kassel, wo ich geboren wurde, und dann nach Bad Sobernheim. Niemand dort wusste, dass ich kommen würde, aber alle empfingen mich aufge­schlossen. Die alten Leute redeten Stunde um Stunde und brachten all diese Leute an, mit denen ich sprechen sollte. Es war wie ein Wasserhahn, der aufgedreht wurde. Ich er­kannte, dass die Menschen dort das Reden so dringend brauchten, wie ich das Zuhören. Ich hatte keine Ahnung, dass daraus eine Studie werden würde.

Welche Gründe spielten für Sie eine Rolle, ein Forschungsprojekt durch­zu­führen?

Die Leute sprachen bereitwillig mit mir, weil ich diese Verbindung zu ihnen hatte. Ich dachte mir, daraus könnte ich eine anthropologische Studie machen und versuchen, mit mehr Menschen systematisch zu sprechen und Überlebende aus So­bernheim zu fin­den. Ich verstehe den Sobernheimer Dialekt, weil mein Vater und mein Onkel so sprachen, was die Sobernheimer sehr erstaunt hat. Es dauerte dann noch vier oder fünf Jahre, bis ich als Professorin For­schungsurlaub nehmen konnte.

Zum einen hatte ich also einen lei­ch­­ten Zugang, weil sie mich nicht als »von außen« kommend wahrnahmen. Die Tat­sache, dass es eine Studie war, bedeu­tete für die Menschen in Sobernheim absolut nichts. Für sie war wichtig, dass sie meine Familie kannten. Ich denke nicht, dass ein ­gewöhnlicher Forscher den gleichen Erfolg mit diesem Projekt gehabt hätte. Zum anderen ist die Durchführung einer Studie aber auch ein Weg, Gefühle zu professionalisieren. Diese in wissenschaftliche Termini zu verpacken, verschafft ein Stück weit Erleichterung davon. Sobernheim hatte damals ein kleines Hotel mit Kneipe. Zum Stamm­tisch dort kam regelmäßig eine Gruppe von Männern zum Trinken und Skatspielen. Ich kannte Skat von meinem Vater und konnte zuhören, wie sie über »diese schreckliche Zeit« sprachen – durch das Zuhören habe ich einiges verstanden.

In Ihrer Studie ging es um die Beziehungen zwischen Verfolgten und ihren Nachbarn in einer Kleinstadt im NS, ein damals eher un­übliches Thema in der Forschung. Was hat sie daran interessiert?

Den Großteil der NS-Forschung damals würde ich als »top-down«-Forschung bezeichnen. Sie befasste sich mit dem Regime und wie es sich auf Menschen auswirkte und das fast immer bezogen auf Großstädte. Ich fand damals nur eine anthropologische Studie zu Bildung und Erziehung, die das all­tägliche Leben und menschliche Be­ziehungen im NS beschrieb. Da mein Arbeitsschwerpunkt im Bereich race, Religion, Ethnizität liegt, waren die ›interethnischen‹ Beziehungen für mich interessant. Aufgrund meines eigenen Familienhintergrundes wusste ich, dass mein Vater, mein Onkel, meine Tante Schulfreunde hatten, die sie alle namentlich erinnerten. In dieser kleinen Stadt lebten ja alle zusammen, waren Nachbarn, gingen auf die gleiche Schule. Allein die reli­giöse Praxis – katholisch, evangelisch, jüdisch – fand an getrennten Orten statt. Es gab diese ganze Zusammengehörigkeit, die plötzlich zerbrach, und das war mein Hauptinteresse. In einer Kleinstadt kann man das wesentlich besser untersuchen als in einer Großstadt und deshalb war Sobernheim für Forschungszwecke ideal.

Wie reagierten die Menschen, die in Sobernheim lebten, auf ihre Fragen nach dem NS? Welche Rechtfertigungsversuche gab es?

Die Hauptausrede war diese Idee der Machtlosigkeit. Ihrer Ansicht nach waren sie gewöhnliche Leute gewesen, hatten keine Macht, Autorität, waren nicht politisch involviert und hätten daher nichts tun können. Viele sagten mir, sie seien keine Nationalsozialisten gewesen. Einer meinte, er habe schon damals gedacht, dass Hitler ein Idiot sei. Aber das ist eine Rationalisierung, eine wahrscheinlich konstruierte Erinnerung, weil er noch nicht einmal sich selbst gegenüber zugeben konnte, dass er ihn vielleicht doch bewundert hat. Sie wussten mir aber immer zu be­richten, wer die »echten Nazis« waren. Sie kannten alle zwölf Leute beim Namen, von denen manche SA-Mitglieder waren, die später SS-Mitglieder wurden. Davon kamen einige aus »guten Familien«, die Mehrheit wurde aber als »Lumpen« betrachtet, denn sie waren ungebildet und arbeitslos. Das Problem für mich als Forscherin war, dass ich niemanden finden konnte, der zugab, ein Nazi zu sein oder zumindest einer gewesen zu sein. Keiner von denen lebte mehr dort, sofern sie noch lebten. Ich denke aber auch, dass ein Mann, der so stark verwickelt war, einem Interview wahr­scheinlich nicht zuge­stimmt hätte.

Die deutsche Ausgabe der Studie verzichtete auf eine Anonymisierung der Namen der Menschen und der Stadt, wie es sonst in der Forschung üblich ist. Wie war die Rezeption in Bad Sobernheim?

Die Rezeption war im Großen und Ganzen sehr gut. Es gab eine Gruppe von Leuten, zu deren Aktivitäten das Buch gut passte. Sie und die Gemeinde wollten, dass alle wissen, um welche Stadt es ging. Auch die Menschen, die von mir befragt wurden, hatten kein Problem damit, dass ihre realen Namen im Buch auftauchten. Diese Gruppe organisierte damals zwei oder drei Vorträge und Diskussionen, zu denen Massen von Menschen kamen. Es war die dritte Generation, die dort von mir Dinge über ihre Großeltern hörte. Sie wussten, dass ihre Großeltern zumindest zu einem gewissen Grad beteiligt waren und erkannten das an. Zum größten Teil, denke ich, kann man seine Großeltern nicht ablehnen und man weiß auch nicht, was man selbst damals getan hätte. Aber niemand sagte mir, es sei nicht wahr. Sie akzep­tierten recht gut, was ihre Großeltern mir erzählt hatten, weil sie wussten, dass diese bestimmte Erfahrungen haben mussten, auch wenn die Großeltern nicht darüber redeten.

Wie haben die jüdischen Überlebenden auf ihre Idee reagiert, diese Studie durchzuführen?

Alle interviewten Überlebenden kamen aus Sobernheim und waren sehr unterstützend, interessiert und ein bisschen geschmeichelt, dass eine Studie sich mit der Stadt beschäftigt, in der sie früher gelebt hatten. Insgesamt stieß ich in meinen Nachforschungen auf Familien in Montreal, Israel und  den USA, die ich aber nicht alle befragen konnte.

Wichtiger als diese Reaktionen war auch für sie die Möglichkeit zu sprechen. Immer wieder hörte ich von diesen älteren Leute: »Meine Enkel interessieren sich ja nicht dafür, die sind zu hundert Prozent Amerikaner und wollen nichts davon hören, was in Sobernheim während dem NS passiert ist.« Die Überlebenden drückten ihre Feindschaft und ihren Hass offen aus, aber mit einer Ambivalenz, die ich sehr interessant fand. Von deutscher Politik, Kultur und ihrem Leben in Deutschland vor dem NS sprachen sie in den höchsten Tönen und mit großer Liebe und Verbundenheit, aber diese Liebe verwandelte sich in absolute Bitterkeit und in Hass, sobald wir über die Zeit danach sprachen. Diese beiden Gefühle können anscheinend derart aufgespalten in einer Person exis­tieren. Auf der einen Seite schwelgten sie in Erinnerungen über ihre glücklichen Tage in der Schule, um in der nächsten Minute zu sagen, dass niemand von ihnen gut war und niemand sie mochte. Das war nicht wahr, aber es war ihre Wahr­nehmung, die hin und her schwankte. Das Buch zeigt beides: die Lie­bens­würdigkeit der Nachbarn und die schrittweise ansteigende und entsetz­liche Verfolgung von Juden und Jüdinnen.

Frances Henry ist Anthropologin und Historikerin. Die emeritierte Professorin der York University in Toronto arbeitet vor allem zu Rassismus und Antirassismus. Gemeinsam mit weiteren Kolleg_innen ist sie die Projekt­leiterin des Social Science and Humanities Research Council of Canada, das weiterführende Studien zu Rassismus an Universitäten unterstützt und fördert.

Ihre 1984 veröffentlichte Studie »Victims and Neigbors« beruht auf Gesprächen mit Nachbar_innen, Mitschüler_innen und anderen über den Alltag, Ausgrenzung und Entrechtung während der Nazi-Zeit und über die Zeit davor. So entstand das Bild einer typischen deutschen Kleinstadt im NS.

Aufgrund einer Einladung zur Berliner Konferenz »Racial Profiling Reloaded« reiste Frances Henry im Oktober 2012 nach vielen Jahren erneut nach Deutschland. Im Zuge einer von kritisch-lesen.de, dem Migrationsrat und der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) organisierten Lesung aus »Nachbarn und Opfer« fand dieses Interview mit ihr statt.