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„Draußen im Outback, da muss man halt Realpolitik machen...“

Einleitung

2013 gelangte der Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf mit dem „Braunen Dienstag“ bundesweit in die Schlagzeilen, als anlässlich der bevorstehenden Eröffnung einer Flüchtlingsunterkunft in Hellersdorf hunderte Personen auf einer bezirklichen Informationsveranstaltung ihre Ablehnung zum Ausdruck brachten. Gut ein Jahr später verkündete der Senat die Eröffnung von Containerunterkünften für Geflüchtete in fünf weiteren Bezirken, darunter auch Marzahn. Seitdem finden beinahe jeden Montag Aufmärsche gegen die Unterkunft statt (vgl. AIB Nr. 105). Wir haben uns mit zwei Antifaschist_innen aus Marzahn-Hellersdorf getroffen, um uns ein Bild von den Protesten machen zu können. 

AIB: Bitte stellt euch selbst kurz vor.

Hans: Ich wohne in Marzahn-Hellersdorf und bin dort seit mehreren Jahren aktiv.

Sarah: Ich bin vom Antifa-Referat des AStA der Alice-Salomon-Hochschule, wohne aller­dings nicht im Bezirk. Seit gut einem Jahr machen wir zusammen mit Gruppen vor Ort Stadtteilarbeit. Auch andere studentische Gruppen der ASH sind im Bezirk aktiv. Des weiteren bin ich in einer Innenstadtgruppe organisiert.

Hat sich mit der nun „zweiten Welle“ der Mobilisierung in Marzahn etwas verändert, im Vergleich zu Hellersdorf?

Hans: Es fing damit an, dass die erste Demo in Marzahn von „normalen“ Bürger_innen angemeldet wurde, die auch eine Initiative gegründet hatten. In Hellersdorf war die „Bürgerdemo“ von Neonazis organisiert. Als die Neonazis die Demo in Marzahn recht schnell übernommen hatten, war das aber ein ganz anderes Niveau.

Sarah: Die Einschätzung teile ich. Allein quantitativ ist das ein Unterschied. In Marzahn sind das viel mehr Demonstrationen mit viel mehr Teilnehmenden. Nach unserer Wahrnehmung ist auch die Stimmung im Bezirk mehr auf Seiten der HeimgegnerInnen. In Hellersdorf war das auch der Fall, aber wir hatten den Eindruck, dass es auch andere Stimmen gab, so dass sich die Leute schnell den Protesten gegen die rassistische Mobilisierung anschlossen.

Wie schätzt ihr das Potential der Rassist_innen und Neonazis ein? Glaubt ihr, dass der Bezirk zu einem Brennpunkt neonazistischer Gewalt werden könnte?

Hans: Schwer zu sagen. Es gibt ein starkes Hooligan und Neonazi-Klientel, was anders gewalttätig  ist als in Hellersdorf, wo es eher „normale“ Leute waren. Im Marzahn sind das jene, die in den 90ern aktiv waren, älter geworden sind, Familie gegründet haben und jetzt durch die Proteste wieder aktiv werden. Aber inwieweit sich das in Anschlägen äußern wird, wird sich zeigen. Vor kurzem gab es einen Buttersäure-Angriff auf den Sitz der SPD am Blumberger Damm.

Sarah: Ich denke schon, dass es einen qualitativen Unterschied gibt, zumindest in der Präsenz auf der Straße. Anschläge gab es in Marzahn noch nicht, weil die Unterkunft noch nicht existiert. Waren es am Anfang vor allem AnwohnerInnen, die auf die Straße gingen, sind es in den letzten Wochen fast nur Neonazis und Hooligans gewesen. Das ist bedrohlicher und gefährlicher, weil tatsächlich Schlägertrupps durch die Gegend ziehen, was in Hellersdorf nicht der Fall war. Es gab auch von Anfang an Übergriffe auf Gegendemonstrant_innen und Journa­lis­t_in­nen.

Wie seht ihr die innerstädtische Mobilisierung zu den Gegenprotesten?

Hans: Die kam erst, als medial Welle geschlagen wurde. Davor stand unsere „Zivilgesellschaft“ auf der Straße, anfänglich 30, 40 aus dem Kiez, beim zweiten und dritten Mal ein paar Studierende zusammen mit Kirchenvertreter_innen. So richtig los ging es erst, als 500 Neonazis aufmarschierten und für den ersten Samstag mobilisiert wurde und es hieß, es kommen vielleicht tausend. Da gab es medial und intern eine große Mobilisierung. Das ließ aber schnell nach. Es gab diese rassistischen Mobilisierungen ja drei Mal die Woche, nicht nur in Marzahn, auch in Köpenick, Hohenschönhausen und Buch. Das schraubt die Kapazitäten ziemlich runter.

Sarah: Es hatte sich eine Vernetzung gegründet, die dazu arbeitet. Da sind Antifas aus der Innenstadt dabei, wobei die meisten eher aus den Randbezirken kommen. Auch die Zugtreffpunkte waren für einen Montag gut besucht. Aber an sich gestaltet sich das schwierig, da das Mobilisierungspotential nicht gehalten werden konnte und es eher Einzelpersonen sind, als organisierte Gruppen. Unabhängig von den Mobilisierungen ist es auch auffällig, dass Neonazis, die in den Randbezirken aktiv sind, so ein bisschen machen können, was sie wollen. Das war schon in Hellersdorf so. Da sind krasse Sachen passiert. Es gab Anschläge auf die Unterkunft, ein Auto einer Person die Spenden ins Heim brachte wurde angezündet,  Aktivist_innen wurden bedroht. Reaktionen gab es keine, weder Demos, noch irgendwas anderes. Das wäre schon was, das die Innenstadt leisten könnte.

Es gab im „Lowerclass-Magazine“ eine Debatte, wo eine Quintessenz war: „Ich bin da hin, stand in einer Blockade und bekam von den politischen Parteien Tee. Das war der Punkt, nach Hause zu fahren.“ Wo seht ihr vielleicht Unterschiede im Vergleich zum Zentrum der Stadt?

Hans: Das ist typisch: „Wir aus dem Szenekiez fahren raus und erklären den Leuten die Welt.“ Die Leute kommen aus Friedrichshain oder Kreuzberg, wo tausende Linke wohnen und spontan eine Demo mit tausend Menschen organisiert werden kann, ohne Parteien. Draußen im Outback, da muss man halt Realpolitik machen. Eine Kundgebung gegen die rassistischen Demos zu organisieren, ohne zivilgesellschaftliches Bündnis, inklusive den Kommunalpolitiker_innen, ist hier verdammt schwierig. Da ist man froh, wenn hundert Leute kommen, um sich den Neonazis entgegen zu stellen.

Sarah: Die Leute, die da jeden Montag standen waren vor allem von Parteien, wobei das meist so fünf Leute waren. Ich verstehe, dass das die Leute frustriert, ich fand auch die meisten Montage frustrierend. Aber diese Debatte, die da losgetreten wurde, haben wir vor Ort als extrem unsolidarisch empfunden. Auch weil sie demobilisierte.

Konntet ihr durch die Auseinandersetzungen auf Bündnisse im Bezirk zurückgreifen und hat es euer Netzwerk gestärkt?

Hans: Ins linke Projekt „La Casa“ sind seitdem mehr Leute gekommen. Auch gibt es jetzt eine Gruppe in Marzahn von bis zu 10 Schüler_innen, die sich zusammengefunden hat, um sich zu engagieren und um aufzuklären. Gerade bei jungen Leuten gibt es mehr Selbstorganisierung. Auch politisch sind wir enger vernetzt, unter uns, aber auch hin zur Innenstadt und zu anderen Randbezirken.

Sarah: Der AStA war vor den Protesten in Hellersdorf nicht so vernetzt. Bei Hochschulpolitik geht es ja um die Hochschule. Für uns hat sich da viel verändert. Natürlich kannten wir vorher schon Leute aus dem „La Casa“, aber dass wir uns politisch im Bezirk einbringen, ist für uns relativ neu.

Seht ihr daran anknüpfend auch Chancen, als Antifa mehr als einen Abwehrkampf zu betreiben?

Sarah: Wir versuchen es, aber in den letzten Monaten war es schwierig, zusätzlich etwas anderes zu machen. Gerade versuchen wir den Fokus zu verschieben. Zum Beispiel flächendeckend in den Platten Flyer zu stecken und eine Zeitung herauszubringen, die bei allen im Briefkasten landet. Das sind Versuche, was anderes anzubieten und Leute zu erreichen, die auch das Gefühl haben, dass die rassistischen Mobilisierungen nicht das Richtige sind.

Hans: Das ist wieder der Unterschied zur Innenstadt. Flyer stecken in einem Kiez, der 30.000 Haushalte hat, ist schon eine andere Hausnummer als wenn es nur 3000 auf gleicher Fläche sind.

Wie schätzt ihr denn die aktuelle Situation im Bezirk ein und was sind eure Erwartungen oder auch Befürchtungen für den Zeitpunkt der Eröffnung der Unterkunft in Marzahn?

Hans: Wenn die Unterkunft eröffnet wird erwarten wir ein Aufflammen der Proteste. Inwieweit das dann Gehör finden wird, ist schwer zu sagen. Durch den Wechsel von Facebook zur Homepage seitens der Neonazis ist da ein großer Teil des Sprachrohrs weggebrochen. Der Blog kommt nicht so an. Dadurch dass nur noch der harte, radikale Kern aktiv ist, wird sich nun relativ offen geäußert. Da wird NS-Propaganda gepostet, da gibts einfach keine Hemmschwelle.

Sarah: Und obwohl es nur noch klares Neo­nazi-Publikum ist, hat sich die Stimmung im Bezirk nicht verändert. Die richtet sich nach wie vor gegen die Geflüchteten.

Hans: Ich habe ja die Hoffnung, dass wenn die Unterkunft bezogen wird, sich eine Willkommenskultur entwickelt. Es gibt auf jeden Fall Gruppen und Jugendclubs, die sich dahingehend zusammenschließen. In Hellersdorf kamen die Leute auch erst, als die Geflüchteten da waren und meine Hoffnung ist, dass man dann endlich wieder die Gegenstimmen sieht und hört.

Vielen Dank für das Gespräch