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„Living History“

Karl Banghard
Einleitung

Spätestens seit Beginn der 1980er Jahre tauchten auch in der Living-History-Szene rechte und neonazistische Gruppen auf. Die Agitatoren stammten in dieser Anfangszeit meist aus völkischen, neuheidnischen Gemeinschaften oder aus dem Umfeld (extrem) rechter Jugendorganisationen.

Museumspädagogik bei der feierlichen Eröffnung der archäologischen Großausstellung „Eine Welt in Bewegung“ in Paderborn. Das öffentliche Zurschaustellen des SS-Spruches „Meine Ehre heißt Treue“ ist in Deutschland eigentlich eine Straftat nach § 86a des Strafgesetzbuches.

Der Mensch stammt bekanntlich vom Affen ab. Deshalb äfft er nach Leibeskräften und mit einschlägigem evolutionärem Erfolg alles nach, was in seine Reichweite kommt. Auch seine eigene Geschichte. Wenn er Krieg spielt, nennt er das Reenactment, wenn er Frieden spielt, heißt das Living History. Irgendetwas scheint er damit verarbeiten zu wollen — auf eine Art und Weise, die bereits vor seinem Primatendasein von der Evolution angelegt wurde. Nun ist der spielerische Umgang mit Geschichte durch seine Offenheit und seine Unverbindlichkeit kein guter Anknüpfungspunkt für die extreme Rechte. Diese nimmt Geschichte in der Regel todernst.

Die moderne Living History entwickelte sich aus ganz unterschiedlichen Szenen heraus, die in der Regel alles andere als rechts waren: Aus der frühen Ökobewegung der 1970er Jahre, aus den „Indianervereinen“ der DDR, aus Rollenspielkreisen, die das 1971 entwickelte Regelwerk Chainmail („Kettenrüstung“) nutzten, und nicht zuletzt aus den Geschichtswerkstätten, die in der Tradition der Arbeiterbildungsvereine die Menschen dazu animieren wollten, den Zugang zu ihrer Geschichte in die eigene Hand zu nehmen. Alles Gruppen aus dem damaligen alternativen Spektrum.

Selbst das tendenziell eher reaktionäre Nachstellen von Schlachten wird heute aus den unterschiedlichsten Motivationen heraus betrieben. Es begann zunächst als herrschaftstragende Geschichtsinszenierung. Dies blieb über Jahrhunderte hinweg bis in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auch so. Heute gibt es vielfältige Einstiege in das Thema, wie etwa das Reenlarpment, ein Mix aus Reenactment und Rollenspiel. Europaweit dürfte die Zahl der Living-History-Aktiven — bei steigender Tendenz — die Millionengrenze überschritten haben.

Spätestens seit Beginn der 1980er Jahre tauchten aber auch in dieser Szene intensiv missionierende rechte Gruppen auf. Die Agitatoren stammten in dieser Pionierzeit meist aus völkischen, neuheidnischen Gemeinschaften oder aus dem Umfeld (extrem) rechter Jugendorganisationen. Initialwirkung für eine professionelle (extrem) rechte Germanen- und Wikingerdarstellung hatte ein Besuch des Briten Peter Seymour von den Thorguard Vikings des Ostara-Things des ariosophischen Armanenordens im Jahr 1983. Seymour bekannte sich zu dieser Zeit nach Selbstzeugnissen im Neuheidenmagazin Runestone zu „rassischen Werten“ und zur „Ideologie der Stärke“.

In der Folge gründeten einige Mitglieder des Armanenordens 1985 die Living-History-Gruppe Thorswikinger. Die Gruppe sollte nach einem Mitbegründer, Harry Radegeis, „einen Modellversuch für größere Gemeinschaften“ darstellen. Tatsächlich wuchs die Gruppe derart, dass sie bald deutschlandweit in Stämme unterteilt werden musste. Nach kritischen Medienberichten über die rechts­lastigen Publikationen von Harry Radegeis zerbrach die Gruppe Ende der 1980er Jahre. Die Thorswikinger haben die aktuelle Frühmittelalter- und Germanendarstellung bis zu einem gewissen Grad mitgeprägt. In den frühen 1990er Jahren war dann die Neuheidengruppe Wotansvolk des US-Rechtsterroristen David Lane für die osteuropäische Wikingerszene stilbildend.

Insbesondere das 2000 in Deutschland verbotene, aber in anderen Ländern immer noch frei agierende "Blood & Honour"-Netzwerk trug seit Mitte der 1980er Jahre zum Wikinger- und Germanenkult bei. "Blood & Honour" ist eine internationale Vereinigung zur Verbreitung nationalsozialistischer Musik und Gedanken. In den 1980er Jahren arbeitete die Band Skrewdriver des "Blood & Honour" Mitbegründers Ian Stuart Donaldson in neuartiger Weise mit religiös aufgeladenen Themen zu Thor und Wotan. Skrewdriver war das Vorbild für viele nachfolgende Rechtsrock-Bands. Auch jenseits des Musikgeschäfts spielten frühgeschichtliche Themen im "Blood & Honour"-Netzwerk eine ungewöhnlich große Rolle. Vor allem in Osteuropa war "Blood & Honour" mit diesem nicht selten religiös anmutenden Angebot erfolgreich. In vielen ehemaligen Ostblockstaaten waren christliche Erzählungen so weit verdrängt, dass sie durch andere ersetzt werden konnten.

Auch Wikinger-Reenactment war damals in der rechten Szene ein Thema. Ein Beispiel von vielen ist das neonazistische Fanzine "White Supremacy", an dessen Erstausgabe offensichtlich das NSU-Mitglied Uwe Mundlos beteiligt war. In den Ausgaben 2 und 3 wird intensiv über Wikinger-Reenactmentveranstaltungen berichtet. Dies war um die Jahrtausendwende noch ein exotisches Thema. Eine sich "III. Heerbann" nennende Gruppe schreibt etwa ausführlich in "White Supremacy" von einer Schlacht, die im Jahr 2000 bei der Burg Rabenstein in Chemnitz stattgefunden hat. Mit dem Ruf „Töten für Wotan“ hatten sich die frühgeschichtlich kostümierten Skinheads in beachtlicher Zahl ihren Gegnern entgegengeworfen. Stolz wird fallen gelassen, dass auch der Mitteldeutsche Rundfunk einen positiven Beitrag über eine Schlachteninszenierung der Gruppe ausgesendet habe. In der nächsten Ausgabe brachte eine sich F. l. s. p. nennende Gruppe aus Pirna einen längeren Bericht zu einem Osterfest mit frühmittelalterlicher Schlacht. Bereits im Sommer 1997 erschienen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Bönhardt und Holger Gerlach auf polizeilichen Kontrolllisten zu einem vom "Thüringer Heimatschutz" (THS) organisierten Wikingerfest. Das Programm bestand aus dem unvermeidlichen Axtwerfen, aus Hinkelsteintragen und Metausschank.

Zeitgleich erlebte auch die nicht-rechte frühgeschichtliche Living-History nach eher bescheideneren Anfängen einen Boom. Spätestens seit dem Varusschlachtjubiläum wurde sie in den Medien allgegenwärtig. Kaum eine der ungezählten TV-Produktionen zum Thema, aber auch kaum eine museale Großveranstaltung kam 2009 ohne Germanendarstellung aus. In dieser Zeit konnte sich die Gruppe Ulfhednar als erfolgreichste Marke in der Geschichte der Germanendarstellung etablieren. Diese Gruppe verfügte über hervorragende Referenzen durch deutsche Großmuseen und das Leitmedium Fernsehen. Ulfhednar hat das Bild der Frühgeschichte in den Medien wesentlich geprägt. Das durch Ulfhednar vertretene Frühgeschichtsbild wurde dabei durch führende deutsche Archäologieinstitutionen legitimiert. Archäologische Leitmuseen wie etwa das Museum für Vor- und Frühgeschichte der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, das Rheinische Landesmuseum Bonn oder das Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz engagierten die Gruppe für öffentliche Präsentationen. Eine Bremer Landesausstellung des Jahres 2007 wählte ein Lebensbild von Ulfhednar sogar als Titelmotiv für Prospekt und Plakat.

Es war eine lange Diskussion, bis die großen staatlichen Museen in Deutschland Abstand davon nahmen Ulfhednar zu fördern. Dies geschah erst nach Offenlegung eines Bündels unterschiedlicher Verstrickungen mit extrem rechter Propaganda: Ein Auftritt von Ulfhednar-Mitgliedern mit dem heute verbotenen, neonazistischen und paramilitärischen "Slawjanski Sojus" in Moskau, demonstrativ im Netz und auf einem CD-Cover zur Schau gestellte Kontakte zu Rob Darken, einer Ikone des internationalen, genozidbejahenden Neonazismus, die öffentliche Präsentation einer pizzatellergroßen „Meine Ehre heißt Treue“-Tätowierung bei der Eröffnung einer der größten Frühmittelalter-Ausstellungen der letzten Jahre in Paderborn, die überbordende, nach Selbstzeugnissen programmatische Verwendung von Hakenkreuzen bei Ulfhednar und vieles mehr.

Ein besonders plakatives Beispiel sind einige Schilde der Gruppe, auf denen das Hakenkreuz auf bombastische Dimensionen projiziert wird. Solche Darstellungen verbinden lange nichts mehr mit dem, was wir aus dem Frühmittelalter kennen. Um so verwunderlicher ist es, dass ausgerechnet prominente Vertreter des Faches Vor- und Frühgeschichte auch nach Offenlegung der ersten Skandale demonstrativ an Ulfhednar festhielten. Insbesondere die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und das Rheinische Landesmuseum Bonn versuchten noch lange, Ulfhednar mit ihrer amtlichen Deutungsmacht reinzuwaschen. Keine andere Living-Historygruppe in Deutschland wurde so von diesen Großmuseen unterstützt.

Den engen Kontakt ins Fach zeigt ein Vorfall auf dem Deutschen Archäologiekongress in Mannheim 2008, der im Zweijahresrhythmus stattfindenden zentralen Archäologietagung der Bundesrepublik. Dort gab der renommierte Münsteraner Vor- und Frühgeschichtsprofessor Albrecht Jockenhövel eine Protestnote zu den für ihn unerträglichen Vorkommnissen mit Ulfhednar auf öffentlichen Veranstaltungen in staatlichen Museen ab. Die hervorragende Vernetzung der Gruppe führte dazu, dass sie sofort über den Vorgang informiert wurde. Bereits am folgenden Tag erschienen führende Ulfhednar-Mitglieder mit ihren Wolfshunden auf dem Kongress. Mit Unterstützung der Veranstalter wurde nach dem Münsteraner Professor gesucht, der über einen Hinterausgang die Tagung verlassen musste.

Bis heute genießt die Gruppe in Frankreich und Polen sowie in den Medien einen guten Ruf. Einige Mitglieder bauen in Thüringen ein eigenes Freilichtmuseum. Eine klärende Aufarbeitung des Themas fand nicht statt.

Welche Wirkung Botschaften haben, die als staatlich zertifiziertes Bildungsgut in Umlauf geraten, zeigt ein anderes Beispiel: „Bildung auf höchstem Niveau“ verspricht Planet Schule, ein neues Fernsehformat von WDR und SWR. Lehrern wird hier scheinbar zertifiziertes Filmmaterial für den Unterricht angeboten, die Verlässlichkeit der Informationen mit öffentlich-rechtlichem Selbstverständnis hervorgehoben. Der Film „Das Kelten Experiment — Wie lebten die Kelten?“ entstand als aufwändiges, mehrfach auch im normalen TV-Programm verwertetes Kooperationsprojekt mit der Landesdenkmalpflege Baden-Württemberg sowie der Goethe-Universität Frankfurt. In seinen ersten Szenen wird recht anschaulich und mit amtlichem Impetus über die Eisenzeit in Baden-Württemberg berichtet. Insbesondere der Ipf bei Bopfingen, einer der bedeutendsten Fundplätze Baden Württembergs, erfährt eine angemessene Würdigung. Danach jedoch glaubt man — wie so häufig — die Erzählung mit Living-History-Bildern würzen zu müssen. Ab diesem Zeitpunkt kommen Mitglieder der "Naturreligiösen Siedlungsgemeinschaft Dorflinde von 1992 e. V." ins Bild. Zentrum dieser „deutsch/heidnischen Gemeinschaft“ ist der so genannte Runenhof in Echsheim (Bayerisch Schwaben). Das Runenhof-Gelände wurde von Anton Pfahler erworben, der bereits in den 1970er-Jahren für die Wehrsportgruppe Hoffmann die Militärfahrzeuge beschaffte.

In einem ganz ähnlichen völkischen Siedlungsprojekt im unweit entfernten Sinning hatte Pfahler den Verlag und die Redaktion des NPD-Blattes Deutsche Stimme implementiert. 1998 flog Pfahlers Siedlungsprojekt durch den bis dahin größten Polizeieinsatz in Süddeutschland gegen Neonazis auf: Ungefähr 300 Einsatzkräfte fanden bei der Großrazzia in 22 Verstecken Tretminen, Handgranaten, Maschinenpistolen, Sturmgewehre und vieles mehr. Pfahler wurde in der Folge wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffen-Kontrollgesetz zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Auch nach seiner Haftentlassung blieb er der rechten Szene treu. 2005 wurde er zum Kassenwart der "Naturreligiösen Siedlungsgemeinschaft Dorflinde" gewählt.

Hervorgegangen ist die Siedlungsgemeinschaft aus der international vernetzten Siedlungsunternehmung Lebensquell e. V. von Heinrich Jörn Schönlaub, der u.a. im ariosophischen "Armanenorden", in der "Deutschen Alternative" (DA) und der "Nationalistischen Front" wirkte. Susanne Morgaine Schönlaub, die heute den Namen Susanne Kube trägt, war bis 2007 Vereinsvorsitzende der "Naturreligiösen Siedlungsgemeinschaft Dorflinde". Danach wurde das Amt an ihren Mann Karsten Kube abgetreten, ein ehemaliger Meister im Armanenorden und bayerischer Bezirksführer des neonazistischen "Internationalen Hilfskomitee für nationale politisch Verfolgte und deren Angehörige e. V.". Auch der Versandhandel „Lebensquell, Germania — Wehr- und Sportbestände“ blieb in der Familie, er wurde gemeinsam von Karsten Kube und Heinrich Jörn Schönlaub betrieben. Susanne Morgaine Schönlaub ist Gründungsmitglied der "Arbeitsgemeinschaft Naturreligiöser Stammesverbände Europas", für die sie bereits in den frühen 1990er Jahren zentrale süddeutsche Sonnwendfeiern organisierte. In einem Living-History-Forum erläutert sie freimütig ihre Zusammenarbeit mit Facharchäologie und Filmemachern. Dort verrät sie weiterhin, dass „wir auch oft an Schulen sind“.

Der im Unterricht verwendete und mehrfach im SWR und WDR ausgestrahlte Lehrfilm dürfte auf die Siedlungsgemeinschaft nicht nur wegen der lebendigen Bilder zurückgegriffen zu haben. Auch inhaltlich scheint die Vorstellung von Vorgeschichte auf den Film abgefärbt zu haben, wofür allein schon das Übergewicht der religiösen Inhalte spricht. Völlig aus der Luft gegriffene, aber im Rahmen einer überzeitlichen, völkischen Erzählung sinnvolle Thesen werden mit aktuellen archäologischen Forschungsergebnissen gemixt. Erstere stammen — bleibt zu hoffen — nicht aus der Fachwissenschaft. So wird behauptet, dass der „keltische Fruchtbarkeitsbaum“ (was immer das auch sein mag) ein Vorläufer des Maibaums sei. Um den Schülern die Realität des Vermittelten plastisch zu verdeutlichen, wird ein skurriler Vorzeit-Maibaum inmitten einer rekonstruierten eisenzeitlichen Siedlung abgefilmt. In den Schwenks kann der aufmerksame Schüler überdies mehrere kahlrasierte Thorshammerträger aus der Baumannschaft erkennen. Thorshämmer haben überhaupt nichts mit der keltischen Zeit, etwas mehr mit dem Frauenschmuck der Wikingerzeit, ausgesprochen viel aber mit modernem Neonazi-Lifestyle zu tun.

Die Siedlungsgemeinschaft zeigt im Schulfilm wohl nichts anderes als das, was sie auch intern als vorzeitliche Kulturhöhe propagiert. Heute gibt sie sich unpolitisch. Dies zu bewerten ist aber in unserem Zusammenhang nicht die zentrale Fragestellung. Vielmehr sollte geklärt werden, ob in dieser Form Geschichte in Museen präsentiert werden sollte. Bei der Interpretation der Frühgeschichte geht es nicht nur um die Erzeugung unverbrauchter Bilder für den Medienmarkt. Vielmehr liefern die Fachinstanzen unbewusst ein Erklärungsmodell dafür, wie es zu unserer heutigen Gesellschaft gekommen ist. Angesichts der täglichen beliebigen Informationsflut erwarten die Besucherinnen und Besucher in Museen valide Informationen. Sie erwarten von den Aussagen in einem Museum, dass sie in einem hohen Maß allgemeingültig sind. Auch gehen sie davon aus, dass sie für unsere Gesellschaft eine besondere — also erhaltenswerte — Bedeutung haben. Und sie vertrauen mehr oder weniger auf diese Allgemeingültigkeit und Wertigkeit. Wertende Botschaften haben deshalb in einem historischen Museum ein fundamental anderes Gewicht als an anderen Orten, wie etwa auf einem Mittelaltermarkt oder im Internet.

(Der Artikel ist der Broschüre „Nazis im Wolfspelz - Germanen und der rechte Rand“ entnommen. Wir danken für die freundliche Nachdruckgenehmigung)