Absprachen, Lügen, Falschaussagen
Soligruppe JG-StadtmitteDer Prozess gegen Lothar König, Stadtjugendpfarrer und Leiter der JG-Stadtmitte in Jena läuft mittlerweile seit April 2013. Nach dem fünften Verhandlungstag ist kein Ende in Sicht.
Am 19. Februar 2011 demonstrierten in Dresden ca. 10.000 Menschen gegen die bis dahin größte Neonazidemonstration. Im Umfeld der antifaschistischen Gegenaktivitäten kam es zu vereinzelten Auseinandersetzungen mit Polizeibeamten. Über »nichtindividualisierte Funkzellenabfragen« erfassten die sächsischen Behörden hunderttausende Datensätze aus Telefongesprächen. Eingeleitet wurden 1.436 Verfahren, die im Zusammenhang mit den Blockaden der Neonazidemonstration stehen.1
Sowohl am 13. Februar als auch am 19. Februar 2011 fahren jeweils 50 Jugendliche und junge Erwachsene der JG-Stadtmitte sowie der als Lautsprecherwagen eingesetzte blaue VW-Bus nach Dresden, um sich an den Protesten zu beteiligen. Die Ermittlungen gegen Lothar König begannen jedoch bereits weit vorher und gründen auf dem Verdacht der »Bildung einer kriminellen Vereinigung« nach §129 StGB. Aufgrund einiger verletzter Neonazis seit dem Jahr 2009 wurde seitens sächsischer Gerichte die Vermutung aufgestellt, es existiere eine »Antifa-Sportgruppe«, welche Neonazis jage. Kopf dieser »Antifa-Sportgruppe« sei Stadtjugendpfarrer Lothar König, so der Verdacht der sächsischen Ermittler.
Im Juni 2011 erfährt Lothar König von diesem Ermittlungsverfahren. Am 10. August 2011 erhält er früh um 6:00 Uhr, während eines Wanderurlaubes in Südtirol, den Anruf eines sächsischen Polizeibeamten mit der Aufforderung, die Tür aufzumachen, um eine Hausdurchsuchung durchführen zu können. Die Tür öffnet sich – so die Aussage der Polizeibeamten – nach Klopfen selbstständig, obwohl niemand vor Ort ist. Anlass der Durchsuchung, inklusive Pfarrdienstzimmer, ist ein Ermittlungsverfahren nach §125a StGB – Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs.
Lothar König soll am 19. Februar in Dresden laut Anklageschrift u.a. folgende Straftaten begangen haben:
• er soll über Lautsprecherwagen eine Menge zwischen 1.000 und 5.000 (laut Anklageschrift gewaltbereite, linksautonome, teils vermummte etc.) Menschen über das Vorgehen der Polizei informiert haben und somit billigend in Kauf genommen haben, dass es zu Gewalttätigkeiten komme
• mit »Musik mit aggressivem, anheizendem Rhythmus« habe er das Vorgehen gegen Polizeibeamte unterstützt
• mit Durchsagen wie: »Eins. Zwei. Dahinten gibt es eine Auseinandersetzung der Polizei mit Demonstranten. Es werden Schlagstöcke oder Knüppel eingesetzt. Da müssen wir ein bißchen aufpassen« die Menge aufzustacheln
• er habe Lautsprechertechnik zur Verfügung gestellt, so dass eine unbekannte männliche Person über diese den Aufruf »Deckt die Bullen mit Steinen ein« tätigen konnte, welches zu entsprechenden Handlungen geführt habe
• er habe den Lautsprecherwagen als Fluchtfahrzeug für Steinewerfer zur Verfügung gestellt und versucht, damit Polizeifahrzeuge abzudrängen.
Zwischenzeitlich konnte seitens der Verteidigung nachgewiesen werden, dass mehrfach Aktenmaterial nicht zur Hauptakte gelangte und dies u.a. entlastende Aussagen von Polizeibeamten aber auch Videomaterial betraf. Am 4. und 5. Prozesstag kam es zu den bisherigen »Höhepunkten« des Verfahrens. Mehrere Polizeibeamte, unter ihnen der Hundertschaftsführer Alexander E., sagen zu den Anklagevorwürfen der Nötigung gegen Polizeifahrzeuge, der Strafvereitelung durch Fluchthilfe und dem angeblichen Aufruf über den Lautsprecherwagen »Deckt die Bullen mit Steinen ein« aus. Am Nürnberger Platz hätte E. »brennende Barrikaden« bemerkt, ca. 50 Personen wären auf die Straße gelaufen. Ein blauer VW-Transporter sei vorbeigefahren und aufgrund einer entgegenkommenden Menschenmenge habe er die neun Polizeiwagen wenden lassen. Während des Wendemanövers sei der blaue VW auf seiner Höhe gewesen und durch das geöffnete Fenster habe er den Satz »Deckt die Bullen mit Steinen ein.« gehört. Dann wären Steine geflogen und sie hätten beschleunigt, u.a. um dem Versuch des Abdrängens durch den Lautsprecherwagen auszuweichen. Musik habe er nicht gehört.
Nach dieser Aussage hielt der Verteidiger Johannes Eisenberg dem Hundertschaftsführer vor, dass ihm ein Video zur Verfügung stehe, welches die Unwahrheit der Aussagen beweise und fragte nach, ob E. die Gelegenheit nutzen wolle, seine Aussage zu korrigieren. Dies lehnte der Polizeibeamte ab. Das Video der Verteidigung wurde anschließend im Gerichtssaal gezeigt: Es beweist, dass die Aussage des Hundertschaftsführers im absoluten Widerspruch zu der von ihm geschilderten Situation steht. Anstelle der Durchsage »Deckt die Bullen mit Steinen ein« ist auf dem Video der Verteidigung zu sehen, wie der Lauti an den Polizeifahrzeugen vorbeifährt und zugleich in enormer Lautstärke laut und ohne Unterbrechung das Lied »bella ciao« aus dem Lautsprecher tönt. Nach Vorführung des Videos wurde der Polizeibeamte E. befragt, inwieweit die Bilder seiner Erinnerung entsprächen. Die Antwort war verblüffend und zugleich entlarvend für das Verhalten von Polizeibeamten vor Gericht: Es sei seine Erinnerung gewesen, dass er den Spruch beim Vorbeifahren gehört habe. Er habe sich später auf den Lauti festgelegt, nachdem er sich mit seinen Kollegen über den Vorgang unterhalten habe, nämlich »als feststand, dass ein Verfahren wegen Landfriedensbruch draus wird«. Entscheidend ist die bis dahin oft genug vermutete Information, dass Polizeibeamte, die als Zeugen in einem Verfahren geladen sind, sich im Vorfeld abstimmen und – so zumindest ist die Aussage von E. zu verstehen – eigenes Wissen mit Unterstellungen und Falschaussagen ergänzt wird. Ähnliches geschah im Verlauf der weiteren Zeugenaussagen von Polizeibeamten: Während der eine seine dienstliche Erklärung auf dem Schoß liegen hat und abliest, berichtet ein weiterer, dass der Lauti gebremst habe und er dies auch in seiner Vernehmung ausgesagt habe. Das Protokoll der Vernehmung ist – wie bereits andere entlastende Aktenteile – nicht in der Hauptakte auffindbar. Die Verteidigung vermutet nicht ohne Grund, dass dies bewusst geschehen sei. Während die Staatsanwältin des Amtsgerichts Dresden im Nachgang der aufgedeckten Falschaussagen grinst, fährt Lothar König sie – emotional berührt – an: »Für mich stehen vier Jahre auf dem Spiel und mein Beruf. Und sie grinsen.«
Nach mittlerweile fünf Prozesstagen bleibt festzustellen, dass sich Polizeibeamte im Vorfeld von Aussagen absprechen, um zu einer Verurteilung beizutragen. Dienstliche Erklärungen werden untereinander kopiert, eigene Wahrnehmungen und Aussagen ordnen sich scheinbar dem Ziel einer Verurteilung unter. Weder der Richter noch die Staatsanwältin sind irritiert, geschweige denn empört ob der Falschaussagen und Lügen von Polizeibeamten vor Gericht. Ohne die eigenen Videos der Verteidigung wäre Lothar König – aufgrund der abgesprochenen, verschärften Falschaussagen durch Polizeibeamte vor Gericht – bereits verurteilt.
Die Frage von Lothar König nach fünf Prozesstagen ist – für antifaschistische Proteste – die entscheidende: Was ist mit denjenigen, die kein Videomaterial zur Verfügung haben? Gemeint ist kein Plädoyer für die eigene Komplett-Dokumentation von antifaschistischen Protesten, sondern die bestätigte Erkenntnis, dass Staatsanwaltschaft und Polizei scheinbar fast alles dafür tun, den berechtigten und notwendigen Protest gegen Neonazis zu kriminalisieren und zu verurteilen. Die Konsequenzen in Bezug auf das Versammlungsrecht sind bisher nicht absehbar. Zu befürchten ist jedoch, dass Lothar König trotz der klaren Videobelege verurteilt wird und ebenso, dass jede_r der_die Verantwortung für Proteste gegen Neonazis übernimmt, zukünftig mit entsprechenden Anklagen und Verurteilungen rechnen muss.
- 1Mit Stand 13. Januar 2013