Anklage gegen Neuköllner Neonazis
Im Berliner Neukölln-Komplex - einer Serie von rechten Brandanschlägen und Sachbeschädigungen gegen politische Gegner_innen - wurde Anfang September 2021 Anklage gegen die beiden beschuldigten Neonazis Sebastian Thom und Tilo Paulenz erhoben. Paulenz sitzt seit Anfang November 2021 als Tatverdächtiger für einen Angriff auf einen Taxifahrer in U-Haft.
Anklagen nach Zufallsfunden
Die Vorwürfe umfassen zwei KfZ-Brandstiftungen am 1. Februar 2018 an den PKWs des Linken-Politikers Ferat Kocak und eines Buchhändlers, zu denen vor allem Indizien vorliegen: Thom und Paulenz hatten den Politiker schon seit 2017 immer wieder ausspioniert. Im Januar 2018 wurde Kocak nach einem Treffen sogar unter den Augen des Verfassungsschutzes in seinem Auto verfolgt. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits seit 2016 zwölf PKW von linken bzw. zivilgesellschaftlich Aktiven vor allem in Südneukölln angezündet worden. Zwei Wochen nach der Beschattung stand Kocaks Wagen samt Carport in Flammen und das Feuer griff fast auf das angrenzende Wohnhaus über. Noch am selben Tag erfolgten Durchsuchungen bei den beiden Neonazis.
Anhand des Computers von Paulenz ergab sich, dass dieser via „Google Earth“ das Haus des Politikers ausspähte. Auf Thoms Rechner fanden sich Hinweise, dass er schon kurz nach der Tat im Internet nach Berichten über den Brandanschlag recherchierte. Gefunden wurde zudem eine umfangreiche Datensammlung von über 580 Personen, die er offenbar als politische Gegner_ innen einordnet.
Nachdem Paulenz aus den Maßnahmen entlassen wurde, prahlte er gegenüber dem LKA: „Wir wissen doch alle, wer die Autos anzündet. Sie wissen das, ich weiß das, alle anderen wissen das. Aber keiner kann es Thom nachweisen.“
Ebenfalls angeklagt sind gesprühte „politische Parolen und Drohungen mit Schusswaffenattentaten“ bei mehreren Betroffenen in einer Nacht im März 2019. Im Rahmen der Anschlagsserie kam es immer wieder zu solchen Drohgraffiti an den Fassaden von politischen Gegner_innen. Zudem soll Thom im Zuge der Corona-Pandemie unberechtigt Hilfsgelder in Höhe
von 20.000 Euro beantragt haben sowie über das Jobcenter längere Zeit eine Wohnung finanziert haben, die er aber untervermietet hatte, da er in Wirklichkeit bei seiner Lebensgefährtin gewohnt haben soll. Dabei soll er 10.000 Euro erhalten haben.
Bei der neuen Anklage handelt es sich nicht um die einzigen Verfahren gegen Thom, zwei weitere sind allerdings Resultat von Zufallsfunden. Bereits Ende August 2020 stand er mit Paulenz wegen Rudolf-Heß-Sprühereien vor Gericht. Bei den Ermittlungen zu den Brandanschlägen hatten Observationstrupps des LKA die Taten dokumentiert. Das Verfahren musste jedoch ausgesetzt werden, weil die Polizeizeugen keine Aussagegenehmigung vor Gericht hatten. Zudem wurde Thom in einem ähnlichen Sachverhalt Ende Januar 2021 angeklagt, wieder bei Observationen beobachtete Sprühereien von Heß-Propaganda, jedoch zu anderer Zeit und mit anderen Mittätern. Neben Stefan K. und Samuel B. ist hier Oliver Werner unter den Beschuldigten.
Werner ist seit Jahren bekannt, seine Gewaltkarriere beginnt schon in den 1990er Jahren und umfasst diverse Taten wie Verstoß gegen das Sprengstoff - und Waffengesetz, Zuhälterei, Körperverletzung, Sachbeschädigung. Jahre später tauchte er an Infoständen der NPD-Neukölln und NW-Berlin auf. Er gilt als eine Art „Ziehvater“ von Sebastian Thom und war bereits vor 30 Jahren als „Anti-Antifa“-Aktivist tätig. Er sammelte Daten von politischen Gegner_innen oder schritt selbst zur Tat: Am 14. Oktober 1992 verübte er mit anderen Neonazis einen Brandanschlag auf einen alternativen Jugendverein in Lichtenberg.1
Die beiden Verfahren sollen nach dem Willen der Generalstaatsanwaltschaft mit der neuerlichen Anklage zusammengelegt werden.
Vermutlich kommt bald ein weiteres Verfahren hinzu. Der ehemalige AfD-Politiker Tilo Paulenz soll einen "Taxifahrer mit Migrationshintergrund" wegen eines Verkehrskonfliktes u.a. mit einem Teleskop-Schlagstock angegriffen haben. Am Abend des 3. November wurde demnach der Taxifahrer in Berlin-Steglitz von Paulenz mit dem Knüppel auf sein Bein geschlagen, nachdem sein Taxi von Paulenz blockiert worden war. Der Versuch des Taxifahrers deswegen auf dem Polizei-Abschnitt Anzeige zu stellen mißlang. Anschließend traf er am Tatort erneut auf Paulenz und einen Begleiter. Der Taxifahrer versuchte die Beiden mit seinem Auto zu verfolgen und die Polizei telefonisch zur Festnahme zu bewegen. Doch Paulenz und seine Begleitperson sollen abrupt angehalten und auf den Taxifahrer losgegangen sein, wie die "bz-berlin" zuerst berichtete.2 Demnach sollen sie versucht haben den Taxifahrer aus dem Auto zu ziehen und auf seinen Kopf eingeschlagen haben. Die Tatverdächtigen konnten anschließend problemlos fliehen, obwohl Paulenz angeblich im Fokus diverser polizeilicher "Sonderermittler" steht. Nur weil der Taxifahrer sich das KfZ-Kennzeichen von Paulenz Wagen einprägt hatte kam es zwei Tage später zur Festnahme von Tilo Paulenz. Der Mittäter konnte bisher nicht ermittelt werden.
Netzwerke übersehen ?
Bisher ist ungeklärt woher die Neonazis die Informationen über ihre Ziele hatten und es darf nach den erfolglosen „NW-Berlin“-Ermittlungen bezweifelt werden, dass sich das LKA diesmal auch mit dem Umfeld und politischen Strukturen der jetzt angeklagten Neonazis außerhalb der Neuköllner Bezirksgrenzen auseinandergesetzt hat. Seit Jahrzehnten praktizieren Berliner Neonazis bezirksübergreifend „Anti-Antifa-Arbeit“. In der Generation Thoms fielen vor allem Protagonisten wie der frühere Führungskader der 2005 verbotenen „Kameradschaft Tor“ und ehemalige Chef der JN-Berlin Björn Wild und andere Neonazis aus Lichtenberg damit auf. In den 2000er Jahren nutzte Wild eine zeitweilige Anstellung beim Finanzamt Friedrichshain/Prenzlauer Berg um personenbezogene Daten abzurufen. Auch für die Veröffentlichung von Outings und einer Feindesliste auf der früheren Homepage des „NW-Berlin“ soll er laut einem ehemaligen Neonazi mitverantwortlich gewesen sein. Thom wurde ebenfalls dem „NW-Berlin“ zugerechnet, Fotos zeigen ihn hinter einem entsprechendem Transparent. Zudem war er Vorsitzender eines Tarnvereins, mit dem Neonazis aus dem Netzwerk in der Lichtenberger Lückstraße zeitweilig einen Treffpunkt betrieben.
Von einem berlinweiten Austausch über politische Gegner_innen in diesem Netzwerk muss ausgegangen werden. Weder im Abschlussbericht der Soko „BAO Fokus“, noch durch dem vom Innensenator eingesetzten Sonderermittler finden sich Hinweise auf solche Ermittlungen. Dies ist einer der Gründe, warum viele Betroffene seit längerem einen Untersuchungsausschuss fordern.