Maurice Pollei wurde in Untersuchungshaft genommen, nachdem er am 4. Juli im Berliner Ortsteil Rudow, nahe dem Sportplatz Stubenrauchstraße, eine Person rassistisch beschimpft und mit einem Messer am Hals verletzt haben soll. Laut Polizei kam das Opfer mit einer Schnittwunde ins Krankenhaus, über die Schwere der Verletzung wurde nichts bekannt.
Zwischen NPD, "Schutzzone" und "Dienstagsgespräch"
Maurice Pollei und der gleichaltrige Robin-Oliver B. traten erstmals bei der "Rudolf-Heß-Demonstration" 2018 in Berlin-Friedrichshain öffentlich in Erscheinung und waren seitdem fast ausschließlich gemeinsam zu sehen. In diesem Zeitraum begann die NPD neben einer handvoll anderer Regionen auch in Berlin ihre „Schutzzone“-Kampagne, die sich an der Social-Media-kompatiblen Inszenierung des extrem rechten Bürgerwehr-Narrativs versuchte und bereits 2020 mit einem lapidaren Facebook-Beitrag wieder eingestellt wurde. Nach innen war die Kampagne für die schwächelnde NPD ein Versuch, potentielle Neulinge mit einem niedrigschwelligen Angebot zu binden und für weitere Parteiarbeit zu gewinnen. Dies scheint immerhin bei Philipp Lindlahr funktioniert zu haben, der später in Treptow-Köpenick für das Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung kandidierte - und 2016 auch Teilnehmer bei einer AfD-Veranstaltung mit Björn Höcke am Wannsee war. Nach außen bestand die Kampagne neben den manchmal geradezu grotesken Inszenierungen auch aus Aktivitäten, die durchaus als aktive Raumnahme verstanden werden sollten, wie z.B. das Patrouillieren in roten Warnwesten an Bahnhöfen, Märkten und Stadtfesten.
Darüber hinaus stellte der Berliner Ableger Statisten für Wahlkampfvideos mit dem NPD-Vorsitzenden Frank Franz sowie den Schutz des monatlichen „Dienstagsgesprächs“, einem NPD-nahen Veranstaltungs- und Vernetzungstreffen der extremen Rechten, an dem teilweise auch AfD-Funktionäre teilnahmen.
Drei Aktive des Berliner "Schutzzonen"-Ablegers, darunter Robin-Oliver B., nahmen im November 2019 in Riesa am „Schutzzone-Tag“ teil, einem überregionalen Treffen mit Vorträgen und einem Kampfsporttraining. Maurice Pollei und das NPD-Mitglied Robin-Oliver B. gehörten in Berlin zum aktiven Kern der „Schutzzone“-Kampagne. Nach den ersten dokumentierten Freitagabenden in roten Warnwesten in Südneukölln waren Maurice Pollei, Robin-Oliver B. und weitere „Schutzzone“-Aktive am 28. September 2018 mutmaßlich in einen versuchten Angriff auf die linke Kneipe "Syndikat" im Neuköllner Schillerkiez involviert. Maurice Pollei zeigte einige Tage später bei der extrem rechten Demonstration „Tag der Nation“ in Berlin-Mitte deutliche Verletzungen, die zu der dortigen Auseinandersetzung passen dürften. Eine Woche nach dem ersten Angriff versuchten sich Neonazis an einem zweiten Angriff in derselben Gegend und wurden abermals vertrieben.
Neben den überschaubaren Aktivitäten der Kampagne in Berlin ist die zeitliche Überschneidung mit der Selbstauflösung des Neuköllner NPD-Kreisverbands bemerkenswert, die dessen Vorsitzender Jens Irgang im Oktober 2018 frustriert auf Facebook bekannt gab. Sein Vorgänger Sebastian Thom, einer der mutmaßlichen Haupttäter im "Neukölln-Komplex" um eine Reihe neonazistischer Brandstiftungen, suchte schon seit 2016 die Nähe der AfD. Thoms "Kamerad", Jugendfreund und Mitverdächtiger Tilo Paulenz hatte bei der AfD bereits eine erfolgversprechende politische Heimat gefunden. Vom "NPD-Kreisverband Neukölln" war also nicht mehr viel übrig, denn viele Aktive waren zur AfD oder gleich zur Neonazi-Gruppe „Der III. Weg“ gewechselt. Der NPD-Kreisverband wurde 2005 u.a. von Sebastian Thom gegründet und war in Teilen eher eine Ortsgruppe des militanten Netzwerks „NW-Berlin“ als eine Parteigliederung.
Der potentielle Nachwuchs Maurice Pollei und Robin-Oliver B. dürfte für Jens Irgang und den NPD-Kreisverband die letzte Hoffnung gewesen sein. Am 3. Oktober 2018 wurden sie von Irgang und dem ehemaligen Neuköllner NPD-Bezirksverordneten Jan Sturm auf einer rechten Demonstration begleitet, am 3. November 2018 besuchten Irgang, B. und Pollei eine AfD-nahe Demonstration in Eberswalde. Irgang und Sturm dürften dabei festgestellt haben, dass Pollei und B. für herkömmliche, kaderorientierte Parteiarbeit weder zu begeistern noch zu gebrauchen sind. So wurde B. u.a. nachgesagt, einen mehr oder weniger offenen Konsum von Kokain zu pflegen. Irgang und Sturm, die ohnehin frustriert vom politischen Kurs des NPD-Bundesvorsitzenden Frank Franz und auch dessen „Schutzzone“-Kampagne waren, traten in der Folge aus der NPD aus. Irgang gab am 31. Oktober 2018 die Auflösung des NPD-Kreisverbands bekannt und besuchte bereits am 24. November eine Veranstaltung der AfD Neukölln im „Casino Zwickauer Damm“. Diese Veranstaltung wurde maßgeblich von Tilo Paulenz organisiert, der inzwischen nicht nur Mitglied des AfD-Bezirksvorstands war, sondern auch Koordinator für die AfD-Gruppierung „Flügel“ in Neukölln. Ebenfalls im Publikum waren Sebastian Thom, der zwischen 2016 und 2018 Stammgast bei der AfD war, und weitere Neuköllner Neonazis wie Harald B., der 2014 wegen des Ablegens von Schweineköpfen vor der Sehitlik-Moschee in Neukölln zu einer Geldstrafe verurteilt wurde.
Auch wenn ein Bericht der Polizeisondereinheit „BAO Fokus“ Robin-Oliver B. als eine Kontaktperson von Sebastian Thom benannte, bleibt zunächst unklar, wie dieser Kontakt ausgesehen haben könnte. In den engeren Kreis der etablierten Neuköllner Neonazistrukturen um Thom, Paulenz und W. wurden Pollei und B. offenbar nicht weiter eingeführt, sondern blieben bei der „Schutzzone“.
Mehr Fragen als Antworten
Die Berichterstattung zum rassistischen Angriff durch Pollei im Juli hinterlässt viele Fragezeichen. Neben Erkenntnissen zu Pollei, die die Behörden hauptsächlich bei der Antifa gelesen zu haben scheinen, zitiert die „Berliner Morgenpost“ die Behörden auch mit den Worten, Pollei sei eine „militante Führungsfigur“ und gehöre zum Umfeld von der militanten Neonazi-Organisation „Combat 18“ (C 18). Ob Pollei zur "Führungsfigur" taugt, darf jedoch basierend auf frühere antifaschistische Berichten über ihn bezweifelt werden. Auch dass Pollei zum Umfeld von „Combat 18“ gehört, scheint nach den öffentlich vorliegenden Informationen zumindest fraglich. Die C-18-Shirts und Jacken, die Pollei und B. mehrfach öffentlich und durchaus provokativ trugen, sind zwar tatsächlich eine eindeutige Sympathiebekundung, dürften aber vermutlich eher privat hergestellt worden sein und stellen damit allein keinen Hinweis auf einen direkten Bezug oder gar eine Anwärterschaft oder Mitgliedschaft im „Combat 18“-Netzwerk dar. Der Nachdruck könnte auch "unautorisiert" erfolgt sein, um den eigenen Status innerhalb der Szene zu erhöhen.
Entweder offenbaren die Behörden hier ihre analytische Schwäche, oder sie haben (zweifelhafte) Erkenntnisse aus Überwachungen bzw. von V-Personen, oder sie bewerten Pollei bewusst über, um mit Erfolgsmeldungen positive Schlagzeilen zum leidigen Thema „Neukölln-Komplex” zu produzieren.
Sonderlich genau nehmen es die Behörden bei der Überwachung dieses Umfelds möglicherweise nicht: Noch im März 2020, also zwei Monate nach dem Verbot von „Combat 18“ durch das lange zögerliche Bundesinnenministerium, postete Robin-Oliver B. ein Foto von sich in einem Shirt mit „Combat 18“-Schriftzug.
Und das größte Fragezeichen: Laut „Berliner Morgenpost“ führt die Polizei Maurice Pollei als „Gefährder“, also als einen von bundesweit nur 71 Neonazis (Stand Februar 2021), von denen „erhebliche Straftaten“ erwartet werden. Dies lässt weitere Fragen offen: Auf welchen Tatsachen basiert diese Einschätzung? Wussten die Behörden, dass Pollei üblicherweise bewaffnet das Haus verlässt? Gab es nach dem Angriff im Juli eine Hausdurchsuchung bei Pollei? Wird auch Robin-Oliver B. als "Gefährder" geführt? Gab es Observationen und Telekommunikationsüberwachungen? Haben die Behörden Erkenntnisse, die über die öffentliche Sympathiebekundung in Form von „Combat 18“-Kleidung hinausgehen? Wieviele V-Personen gibt es in Neukölln? Welchen Einfluss haben sie?