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Colonia Dignidad wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ verurteilt

Dieter Maier
Einleitung

Der Wehrmachtssanitäter und Laienprediger Paul Schäfer floh 1960/61 mit etwa 300 Anhängern nach Chile, da er in der BRD wegen Missbrauchs von Minderjährigen gesucht wurde. Im Süden des Landes gründete er eine Sektensiedlung, die als Colonia Dignidad bekannt wurde. Seitdem hat sie immer wieder durch Skandale, Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen von sich reden gemacht. Heute gibt es eine solide Mythenbildung: Sie sei eine Nazi-Siedlung gewesen, ein Teil der SS-Fluchtorganisation ODESSA (die es nie gab)1 und Franz Josef Strauß sei dort gewesen (war er nicht).2 Jüngst wurde die Führung der Colonia Dignidad als kriminelle Vereinigung verurteilt. Heute wird dort unter dem Namen Villa Baviera Tourismus betrieben.

  • 1Vgl. Goñi, Uki: ODESSA : Die wahre Geschichte : Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Heinz Schneppen: Odessa und das Vierte Reich : Mythen der Zeitgeschichte, Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht : wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen; menschenrechte.org/lang/de/lateinamerika/odessa-arbeit-am-mythos
  • 2Redaktionelle Anmerkung: In einer offiziellen Verlautbarung der Hanns-Seidel-Stiftung hieß es noch bis 2012: „Tatsächlich kam es anlässlich seines Aufenthalts in Chile vom 17.—23. November 1977 zu einem kurzen Besuch der von Auslandsdeutschen geführten Siedlung, weitere Kontakte entwickelten sich daraus aber nicht.“  Das Statement ist auf fjs.de mittlerweile gelöscht.

Der Colonia Dignidad Gründer Paul Schäfer.

Die Sekte war in der Tat mehr als ein Sektiererhaufen. Intern hing sie einer Art Privatreligion Schäfers an, hatte rassistische Züge und einige Mitglieder, die Hitleranhänger gewesen waren, aber nicht mehr als im damaligen deutschen Durchschnitt. Politische Bedeutung erhielt sie, als sie in den drei Jahren der sozialistischen Regierung an rechtsextremen Verschwörungen teilnahm und danach integraler Bestandteil der Pinochet-Diktatur wurde, die nach einem Putsch 1973 die Macht ergriffen hatte.1 Der Putsch der Militärs sollte das ganze „Volk“ verändern, der „Marxismus“ aus dem Gedächtnis gelöscht werden, die Linke vernichtet werden. Dieser Vernichtungswille traf zusammen mit der Praxis der Sekte, den Teufel durch Folter, Zwangsmedikamentierung in Überdosis und Unterdrückung der Sexualität auszutreiben. Der Marxismus, über den die Junta-Mitglieder wetterten, und der Teufel, den Schäfer beschwor, verschmolzen zu einer Einheit. Dieser gemeinsame Vernichtungswille führte dazu, dass Pinochets Geheimdienst DINA2 seine Gefangenen — mindestens 2.000 — spurlos verschwinden ließ und die letzte Spur vieler „Verschwundener“ sich in der Colonia Dignidad verliert.3

Die Siedlung war Teil eines verzweigten informellen Netzwerks. Sie trieb Waffenhandel und geflohene Nazis sowie europäische Rechtsterroristen versteckten sich in ihr oder verkehrten dort.4 1963 hatte der Jugendliche Wolfgang Müller erfolglos zu fliehen versucht. Die deutsche Botschaft, die das erfahren hatte, schickte zwei Beamte in die Siedlung. Sie ließen sich von dem Colonia-Repräsentanten Hermann Schmidt einwickeln. Schäfer sei nicht mehr da, man wisse nicht, wo er sei. 1966 gelang Müller die Flucht. Er berichtete auch gegenüber der deutschen Botschaft von Schlägen, Gehirnwäsche, sexuellem Missbrauch und Zwangs­medikationen. Vor allem belastete er Schäfer. Der meldete sich mit einem Abschiedsbrief tot. Spätestens von da an wussten deutsche Behörden, was in der Siedlung geschah.

1972 verfasste Botschaftsmitglied Dr. Werner Kaufmann-Bühler nach einem Besuch in der Kolonie, eine Aufzeichnung von 23 Seiten, die eine Reihe von Fragwürdigkeiten aufzählt. Der Schlusssatz lautet: „So ist die Kolonie ein Stück Auslandsdeutschtum, das uns auch weiterhin mehr belasten als nützen wird.“ Als amnesty international 1977 zum ersten Mal ausführlich über die Folterungen in der Colonia Dignidad berichtete, begann die Sekte einen Hungerstreik. Die Akten des Auswärtigen Amtes (AA) zeigen, wie eng Botschaft und das AA zur Colonia Dignidad standen. Der Botschafter bat seinen persönlichen Freund, den chilenischen Gesundheitsminister General Matthei, um Hilfe, der sofort mit einem Ärzteteam in die Siedlung flog. Nach sechs Stunden Verhandlung brach die Sekte den Hungerstreik ab. Dies wurde bei einem Empfang in Santiago bekannt und löste „beim Staatspräsidenten [Pinochet] und beim Innenminister offensichtlich große Erleichterung aus.“

Zum Jahreswechsel 1984/ 85 flohen die Ehepaare Baar und Packmor aus der Siedlung und informierten die deutsche Botschaft über Freiheitsberaubung und Misshandlungen. Nun ging es nicht mehr um Folter und Mord an Chilenen, sondern um deutsche Opfer. Der deutsche Staat ging auf Distanz, es dauerte aber noch Jahre, bis sich etwas änderte. Auch als Pinochet 1990 sein Amt abgab, herrschte Schäfer weiter in der Siedlung. Er floh erst 1997 nach Argentinien, wo er 2005 aufgespürt wurde, und 2010 in einem chilenischen Gefängnis starb.

Die juristische Aufarbeitung der Verbrechen verlief in Deutschland und Chile schleppend. Der chilenische Richter Zepeda hatte 2005 ein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung an sich gezogen, aber erst 2014 ein Urteil gefällt, als mehr als die Hälfte der 18 Beschuldigten tot oder geflohen waren. Die Verurteilten legten Berufung ein. 2015 bestätigte das Appellationsgericht in Santiago das Urteil. Es fasste alle Verbrechen der Colonia Dignidad, also Waffenhandel und -schmuggel, Kindesmissbrauch, Misshandlung der Sektenmitglieder, Mord und Folter zusammen. Die Verteidigung ging wieder in die Berufung. Erst Ende Dezember 2016 verkündete nach siebzehn Jahre Verfahrensdauer der chilenische Oberste Gerichtshof das letztinstanzliche Urteil: Drei ehemalige Führungsmitglieder der Colonia Dignidad und zwei Mitglieder der DINA wurden zu jeweils fünf Jahren und einem Tag Haft verurteilt. Der Oberste Gerichtshof erhöhte damit die in erster und zweiter Instanz verhängten Haftstrafen von vier Jahren.

Die verurteilten Colonia-Mitglieder waren Karl van den Berg (wegen Beteiligung an der Herstellung von und Handel mit Kriegswaffen), Kurt Schnellenkamp und Gerhard Mücke. Schnellenkamp und Mücke verbüßten bereits eine Haftstrafe. Van den Berg wurde im Februar 2017 inhaftiert. Die verurteilten Chilenen waren Pedro Espinoza und Fernando Gomez. Vier weitere Mitglieder der Sekte wurden freigesprochen. Während der langen Verfahrensdauer waren sechs der Angeklagten verstorben. Drei hatten sich der Verurteilung durch Flucht nach Deutschland entzogen (Hartmut Hopp, Hans Jürgen Riesland und der bereits verstorbene Albert Schreiber).

Das Urteil befasst sich zum ersten Mal juristisch damit, dass Führungsmitglieder der Colonia Dignidad gemeinsam mit Agenten der DINA eine kriminelle Vereinigung gebildet hatten, die hierarchisch organisiert war und jahrzehntelang systematisch geplante Verbrechen beging. Opfervertreter und Menschenrechtsanwälte zogen nach dem Urteil eine gemischte Bilanz. Für Myrna Troncoso von der Angehörigenorganisation der Verschwundenen benennt es nur die Spitze des Eisbergs der Verbrechen: „bis heute kennen wir noch nicht einmal die Namen derjenigen, die in der Colonia Dignidad ermordet wurden.“ Rechtsanwalt Hernán Fernández, der die Opfer der Colonia Dignidad vertritt, äußerte: „Dutzende Verbrechen der Colonia Dignidad wurden bis heute nicht untersucht. Alle Taten müssen von der chilenischen und deutschen Justiz aufgeklärt und die Verantwortlichen bestraft werden. Dass Täter der Colonia Dignidad wie Hartmut Hopp heute in Deutschland straflos leben, ist ein Skandal.“5 Mit dem Urteil wurde die Colonia Dignidad endgültig als das bezeichnet, was sie immer war: eine kriminelle Vereinigung.

Die Colonia Dignidad ist einzigartig. Dennoch trägt sie Züge, die etwas darüber aussagen, was Faschismus heute sein kann und wie er sich vom historischen unterscheidet. Es gab ein klares Führerprinzip und strikte Hierarchien. Machtmittel waren sexuelle und psychische Unterdrückung sowie eine fundamentalistische Religion. Große Mengen an Dokumenten, die in der Colonia Dignidad gefunden wurden und erst zum Teil bearbeitet sind, zeigen, dass die Foltersiedlung viele und sehr flexible Allianzen mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren einging. Politisch war die Colonia Dignidad schillernd, und diese Uneindeutigkeit schützte sie. Konkret fassbar ist sie als antikommunistische, stark rechts­lastige kriminelle Vereinigung.

Dieter Maier: Publizist, 1946 geboren, beschäftigt sich seit 1972 und bis heute mit Chile. Autor von Colonia Dignidad : Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile. Stuttgart, Schmetterlingverlag 2016 und: Friedrich Paul Heller, Colonia Dignidad : Von der Psychosekte zum Folterlager. 2. Auflage. Stuttgart, Schmetterlingverlag

  • 1Der General Augusto Pinochet war 1973 führend an dem von den USA geförderten Militärputsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende beteiligt.
  • 2Dirección de Inteligencia Nacional
  • 3Seriöse Schätzungen gehen von über 100 „Verschwundenen“ und weit mehr überlebenden Folteropfern in der Colonia ausSeriöse Schätzungen gehen von über 100 „Verschwundenen“ und weit mehr überlebenden Folteropfern in der Colonia aus
  • 4Redaktionelle Anmerkung: So berichtete die Zeitung "Stern" das der Neonazi und spätere NPD-Funktionär Udo Pastörs die "Colonia Dignidad" zweimal besucht habe. Er habe sich dort mit dem "Sicherheitschef" Gerhard Mücke getroffen.
  • 5Pressemitteilung FDCL-Berlin, Dezember 2016