Das »Kühnen-Papier«
Fabian KunowEin Neonaziführer argumentiert Homosexualität
Das Jahr 1986 war eine Zäsur für den bundesdeutschen Neonazismus. Nicht das Aufkommen extrem-rechter Parteien mit der Option auf Parlamentssitze, wie DVU oder Republikaner, sondern ein hausgemachter Streit sorgten dafür, dass es ans Eingemachte ging. Jahrelang war die an heutigen Maßstäben gemessen kleine NS-Szene der 1980er Jahre in Deutschland gespalten. Ursache war eine Debatte über die Frage, ob ein Nationalsozialist schwul sein dürfe und wie mit Homosexuellen in den eigenen Reihen zu verfahren sei. Der westdeutsche Neonaziführer Michael Aloisius Alfons Kühnen beantwortete die Frage mit dem Papier »Nationalsozialismus und Homosexualität«. Die Schlussfolgerung seines »Grundsatzpapier« lautete: »Nationalsozialismus und Homosexualität sind vereinbar!«1
Dies kann als Versuch gewertet werden, auch homosexuellen Männern ihren Platz in der »Bewegung« zu geben und ein nationalsozialistisches Modell des »neuen« Mannes zu entwerfen.
- 1Michael Kühnen (1986): »Nationalsozialismus und Homosexualität« S. 8.
Situation der 1980er Jahre
Eine der schillerndsten Personen des bundesrepublikanischen Neonazismus der 1980er Jahre war der 1955 geborene Michael Kühnen. Seine Funktion lässt sich am Besten mit dem Wort »Bewegungsmanager« beschreiben. Kühnen saß mehrfach wegen seiner neonazistischen Aktivitäten im Gefängnis. 1983 wurde vom Innenministerium die von Kühnen geführte Aktionsfront Nationaler Sozialisten/ Nationale Aktivisten (ANS/NA) verboten. Die ANS/NA hatte zu diesem Zeitpunkt zwischen 300–400 Mitglieder.1
Diese gingen nach dem Verbot in die FAP bzw. gründeten die Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GdNF), welcher 60–80 Personen angehörten.2
Im Laufe der Jahre wurden von den GdNF-Kadern eine Reihe von kleinen Vorfeldorganisationen und Parteien geschaffen, mit denen öffentlich Politik gemacht wurde. Ziel von diesen Anhängern der historischen SA war es, eine Wiederzulassung der NSDAP zu erreichen. Inhaltlich wurde sich auf das 25 Punkteprogramm der NSDAP bezogen.
Der Streit
Die Septemberausgabe 1986 der GdNF-Zeitschrift »Die Neue Front« teilt ihrer Leserschaft mit, dass es zu einem internen Umbau gekommen sei. Der in Paris ansässige französische Neonazi Michel Caignet wurde als Herausgeber abgelöst. Grund war seine offen ausgelebte Homosexualität. Er habe damit »der Bewegung schweren Schaden zugefügt«.3
In der gleichen Ausgabe ist eine Erklärung von Volker Heidel, Jürgen Mosler, Michael Swierzecek, »Steiner« (Thomas Wulff) und Ursula Müller abgedruckt. Diese ist überschrieben mit »Der Kampf geht weiter« und wendet sich gegen den »tückischsten Feind«, »den inneren Zerfall – die Dekadenz«.4
Für die Autoren ist klar: »schwul ist nicht normal. Es ist vielmehr eine Lebenszerstörende, krankhafte Abnormalität, die es zu bekämpfen gilt (...). Die Zeiten, in denen wir diese Schweinereien nicht aktiv und offen angeprangert haben, sind nun vorbei.«5
Normal sei hingegen die Beziehung von Mann und Frau, die »den Völkern das Überleben« sichert. Folglich seien Schwule »Verräter am Volk und damit an uns«.5
Jeder Schwule sei hiermit aus der »Bewegung« ausgeschlossen und solle zum Arzt gehen.
Dem offenen Streit gingen mehrjährige interne Auseinandersetzungen voraus. Als ein Auslöser kann der Mord an dem Neonazi Johannes Bügner, dem Kühnen sein Papier widmete, gesehen werden. »Der damals 26-Jährige wurde am 28. Mai 1981 unter dem Vorwand, es gäbe eine Meldung vom sogenannten Führer, Michael Kühnen, von mehreren ›Kameraden‹ aus der Hamburger Schwulenbar ›Can-Can‹ gelockt. Die Neonazis fuhren gemeinsam aufs Land, wo Bügner mit 21 Messerstichen getötet wurde.«6
Die Täter rechtfertigten die Tat mit der Aussage, dass Bügner ein »Verräter und Schwuler« gewesen sei.5
Dieser Mord war für Kühnen Anlass, sich mit Homosexualität in der »Bewegung« intensiver zu beschäftigen. 1986 greift er mit seinem Papier »Nationalsozialismus und Homosexualität« aus dem Gefängnis die Debatte offen auf. Herausgegeben wurde die Schrift von Caignet. Dieser war Generalsekretär der Europäischen Bewegung, Leiter der ANS-Auslandsorganisation und de-facto-Herausgeber der Zeitschriften »Neue Front« und »Neue Zeit«.7
Eine Austrittserklärung aus der GdNF Kühnens hing der Schrift an.
Kühnens Argumentation
Anders als oft kolportiert, bekennt sich Kühnen nicht selbst zu einer eigenen Homosexualität, sondern erklärt und rechtfertigt, warum Homosexualität und eine NS-Gesinnung doch einhergehen könnten. Formal verweist er darauf, dass es keine Äußerung zu Homosexualität im 25 Punkteprogramm der NSDAP gebe. In Anlehnung an seine Idee vom »Aufbau eines 4. Reiches« versucht er eine »Geschichte der Männlichkeit aus nationalsozialistischer Perspektive zu schreiben«.8
Der Nationalsozialismus zeichne sich für ihn als eine Gemeinschaft aus – ein Nationalsozialist dadurch, dass er dieser Gemeinschaft diene und gehorche. Daher gelte für Kühnen die Maxime »Nicht auf das Privatleben eines Kameraden kommt es an, nicht auf seine privaten Neigungen oder auch Schwächen, sondern auf sein Bekenntnis und seinen Einsatz für die Gemeinschaft«.5
Homosexualität sei »insgesamt keine sexuelle Perversion, sondern eine vererbte, biologische Veranlagung, gehört also zur biologischen Natur des Menschen«.9
Kühnen dekliniert Liebe und Sexualität von der Horde der vermeintlichen Urmenschen bis heute durch und kommt zu Schlüssen wie: »Sexuelle Beziehungen zwischen Männern, die aus Freundschaft und Liebe oder gar zur Vertiefung der gemeinsamen Hingabe an die Gemeinschaft entstehen, können niemals schädlich sein für diese Gemeinschaft.«5
Zudem hätten alle Männerbünde z. B. Sparta, katholische Kirche, SA – auf die bezieht sich Kühnen positiv – immer die Liebe unter Männern in sich getragen, sonst würden diese gar nicht als Männerbünde funktionieren. Der Männerbund war nach Kühnen der Schritt von der Horde zur »Kulturmenschheit«.5
Zudem sei es für die Gemeinschaft sicherlich förderlicher, »wenn der Mann, der seiner Fortpflanzungspflicht genügt, sich innerhalb eines Männerbundes sexuell betätigt, statt sich der Prostitution zu ergeben oder in fremde Ehen einzubrechen«.5
Homosexualität denkt Kühnen in seinem ganzen Text immer nur als Sexualität unter kriegerischen Männern. Alle anderen Formen sind folglich aus seiner Sicht abzulehnen.
Das Ende vom Lied
Im Jahr 1988 öffneten sich für Kühnen die Gefängnistore. Er nahm wieder die politische Arbeit im GdNF-Netzwerk auf. 1989 kam es auf Vermittlung der Leiterin der HNG und »Grandame des deutschen Neonazismus« Ursula Müller zur Beilegung des sogenannten Kühnenstreits. Die Kühnentreuen bekamen die GdNF mit ihren Vorfeldorganisationen. Die Gegner Kühnens übernahmen die FAP.
Der hier skizzierte Riss durch die Neonaziszene wird heute verdrängt. Die Debatten um Kühnens Homosexualität werden verschwiegen und auf seine Schrift nicht mehr Bezug genommen, um keine Differenzen aufkommen zu lassen. Gleichzeitig wird Homophobie als Bestandteil hegemonialer Männlichkeit deutlich. Aktuell »wird unterstellte männliche Homosexualität eher als taktische Option genutzt, um politische Gegner und Kontrahenten in den eigenen Reihen zu diffamieren, wobei sich eine stete Abwehr imaginierter ›Verweiblichung‹ durch alle Positionen zieht«7
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- 1Handbuch Deutscher Rechtsextremismus
- 2Ab den frühen 1990er Jahren 200 Mitglieder vgl. Handbuch Deutscher Rechtsextremismus.
- 3»Achtung«. In: »Die Neue Front – Publikation des nationalen Widerstandes 8/86«
- 4»Der Kampf geht weiter«. In: »Die Neue Front – Publikation des nationalen Widerstandes 8/86«
- 5a5b5c5d5e5f5gEbd.
- 6Robert Claus, Esther Lehnert, Yves Müller (Hrsg.): »Was ein rechter Mann ist...«, Männlichkeiten im Rechtsextremismus, Berlin 2010.
- 7a7bvgl. Robert Claus, Esther Lehnert, Yves Müller (Hrsg.): »Was ein rechter Mann ist...«.
- 8Vgl. Michael Kühnen (1986): »Nationalsozialismus und Homosexualität« S. 4.
- 9Michael Kühnen (1986): »Nationalsozialismus und Homosexualität« S. 11.