Skip to main content

Das gefährliche Spiel mit dem »Patriotismus«

Ulrich Heyden, Moskau
Einleitung

Homophobie und Hass auf Arbeits­migranten wird von den kreml-nahen Medien zwar gepflegt, gegen extrem rechte Gewalt gehen die russischen Sicherheitskräfte jedoch vor.

Bild: Screenshot von TLTNews.ru

Am 9. Mai 2013 ist Ilja Gorjatschow, der seit 2010 untergetauchte Gründer der russischen Nationalisten-Organisation »Russki Obras« (Russische Art) in Belgrad verhaftet worden.

Mit immer neuen Gesetzen versucht der Kreml das Leben der Menschen auf seinen patriotischen Kurs zu trimmen. Im Juni 2013 verabschiedete die Duma gleich zwei Gesetze, die ganz im Stil der neuen patriotischen Strenge sind. Eines, welches für die »Beleidigung religiöser Gefühle« bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe vorsieht sowie eins, das die »Propaganda für nichttraditionelle Sexualität« unter Strafe stellt. Das Anti-Homo-Gesetz wurde von der Abgeordneten Jelena Misulina vorgestellt. Sie gehört der Fraktion der »links«-patriotischen Partei »Gerechtes Russland« an. 436 Abgeordnete votierten für das Anti-Homo-Gesetz, einer enthielt sich. Vor der Duma wurden sich küssende Demonstrantinnen mit Fäusten und Urin aus Spritzflaschen von russisch-orthodoxen Aktivisten drangsaliert. Mit Geldstrafen von 125 Euro müssen nun Personen rechnen, die unter Jugendlichen »nicht-traditionelle sexu­elle Beziehungen anziehend dar­stel­len«. Internetzeitungen drohen Strafen von bis zu 25.000 Euro. Unter das Gesetz können nicht nur zwei Männer fallen, die auf der Straße Hand in Hand gehen – wie man es bisher nur in St. Petersburg sah –, sondern auch Lehrer, die mit ihren Schülern offen über Homosexualität sprechen ohne diese zu verdammen. Vor dem Hintergrund der aggressiven Debatten gegen Homosexuelle fühlen sich homophobe Jugendliche zu Gewalttaten ermun­tert. Mitte Mai starb in Wolgograd der 23jährige Vladislav Tornovoi, der zusammen mit drei anderen jungen Männern auf einem Kinder-Spielplatz Bier trank. Als sich im Gespräch herausstellte, dass einer der Männer schwul ist, warfen die drei Vladislav Tornovoi zu Boden und bearbeiteten ihn mit Tritten. Sie rissen dem Opfer die Kleider vom Leib und drückten ihm zwei Bierflaschen in den Darm. Dann zerschmetterten sie ihm mit einem 20 Kilogramm schwe­ren Stein den Kopf und versuchten den Toten zu verbrennen, was misslang. Ende Mai kam es auf der fernöstlichen Halbinsel Kamtschatka zu einem weiteren Mord. Der 39jährige stellvertretende Leiter des Flughafens Osernaja, Oleg Serdiuk, wurde wegen seiner angeb­lich homosexuellen Lebensweise in einem Wald ermordet.

Prognosen über den Untergang  Europas

Eine öffentliche Empörung über die neuen Gesetze und über die Morde an Homosexuellen gibt es in Russland nicht. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hält Homosexualität für »nicht natürlich«. Die meisten fordern von Homosexuellen, dass sie »ihre Veranlagung« nicht in der Öffent­lichkeit zeigen. Für die staatlichen Medien ist das Thema Homosexualität vor allem ein Anlass vor den gefäh­rlichen Einflüssen aus Europa zu warnen. Die Libe­ralisierungen für Schwule und Lesben im Westen wurden als schreckliche, unnatürliche Entwicklung dargestellt. Der »Untergang« Euro­pas sei vorprogrammiert. Neben den homophoben Ansichten in Politik und Gesellschaft gehören auch Vor­urteile und negative Zuschreibungen gegenüber Migranten zum guten Ton. Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, der sich Anfang September zur Wiederwahl stellt, erklärte Mitte Juni, Moskau wäre eine der »gesetzes­treusten Städte der Welt« wenn es die Kriminalität der Arbeitsmigranten nicht gäbe. Konkrete Zahlen als Beleg wurden nicht genannt. Die Arbeitsemi­granten aus Zentralasien und dem Kaukasus sind in Russland schon seit Jahren das Ventil für den Unmut über Sozial­kürzungen und die Angst vor dem sozialen Absturz. Neonazis versuchen immer wieder, Alltagskonflik­te zwi­schen Kaukasiern und Russen in pogromartige Aktionen umzufunktio­nieren. So Anfang Juni in der nordwestlich von Moskau gelegenen Stadt Udomlja: Der aus St. Petersburg angereiste Nationalist Nikolai Bondarik organisierte eine nichtgenehmigte »Volks-Versammlung« mit 400 Teilnehmern, auf welcher Stimmung gegen Kaukasier gemacht wurde. Die Polizei nahm u.a. Bondarik  fest, worauf die Menschenmenge »Freiheit« für die Verhafteten forderte.

Neonazimörder verhaftet

Während der Alltags-Rassismus von den Kreml-nahen Medien weiter ge­pflegt wird, gehen die Sicherheitsorgane bei bestimmten Anlässen ent­schie­den gegen Neonazis vor. So wurden im Mai diesen Jahres Ilja Gorjatschow und Michail Wolkow, zwei führende, flüchtige Mitglieder der Neonazi-Organisation »Russki Obras« (Russische Art, RO) auf russisches Drängen in Belgrad und Kiew fest­genommen. Dass die Verhaftungen zeitgleich mit dem diesjährigen Tag der Befreiung vom Faschismus statt­fanden, war offenbar als symbolischer Akt gedacht. Das Oberste Gericht in Belgrad wird Gorjatoschow an Russland ausliefern, die Verteidigung hat der prominente Moskauer Anwalt Mark Fejgin übernommen. Der Anwalt ist als Verteidiger der Frauen von Pussy Riot international bekannt. Nach einem Streit mit den Frauen legte Fejgin im November letzten Jahres sein Mandat nieder. Das russische Ermitt­lungs­komitee wirft den in Belgrad und Kiew verhafteten Neonazis die Beteiligung an neun Morden und zwei Anschlägen vor. Diese sollen von der Organisation BORN (Kämpferische Organisation russischer Nationalisten) organisiert worden seien. Zu den Verbrechen, in welche die beiden Festgenommenen verwickelt sein sol­len, gehören die Morde an den russi­schen Antifa-Aktivisten Fjodr Filatow und Iwan Chutorskoi, sowie die Morde an dem Menschenrechts-Rechtsanwalt Stanislaw Markelow und der Mord an dem Richter Eduard Tschuwaschow. Mar­ke­low hatte Tschetschenen und Um­welt­schützer verteidigt, Tschu­waschow verurteilte 2008 zwanzig Mitglieder von Neonazi-Skinhead-Banden wegen Mordes und Extremismus zu langen Haft­strafen. Die Neonazi­gewalt gegen Migranten und Antifa-Aktivisten in Russland erlebte 2008 mit 116 Toten und 499 Verletzten ihren bisherigen Höhepunkt. Wie viele Tote davon auf das Konto der BORN gehen, ist bisher nicht bekannt. 2012 wurden nach Ermittlungen des Ana­lyse-Zentrum Sova 19 Menschen bei rassistischen Gewalttaten getötet und 187 verletzt. Die Verhaftung von Gorjatschow in Belgrad war nach russischen Medienberichten möglich geworden, weil Niki­ta Tichonow, der verurteilte Mörder des Menschenrechts-Anwalts Stanislaw Markelow, vermutlich aus Rache gegen Gorjatschow ausgesagt hatte. Denn bereits im Frühjahr 2010 hatte Gorjatschow im Markelow-Mordprozess Tichonow belastet und sich unmittelbar darauf nach Serbien abgesetzt. Dass sich Gorjatschow und Tichonow gegenseitig belasten ist inso­fern erstaunlich, weil sie alte Kampf­gefährten sind. Gorjatschow und Tichonow haben beide Geschichte studiert. 2002 reisten sie zusammen nach Serbien, um zur serbischen Organisation »Obras« Kontakte aufzu­neh­men. Ein Jahr später gründeten sie in Moskau die Zeitschrift »Russki Obras« (RO), die bis 2009 erschien. 2007 ging aus der Zeitschrift die gleich­namige Organisation hervor, die zuletzt am 1. Mai 2011 bei einer Demonstration in Erscheinung trat. Nach Angaben von RO-Gründer Gorjatschow hatte die Organisation 2009 1.000 Mitglieder und 22 Regional-Gruppen.

Der Kreml wollte die Nationalisten offenbar lenken

Die RO spielte unter den Neonazi-Organisationen in Russland eine Sonderrolle, weil sie gute Kontakte in die russische Präsidialverwaltung hatte. Diese genehmigte RO verschiedene Straßenaktionen und am 4. November 2009 ein Konzert mit der Rechtsrock-Band »Kolowrat« auf dem Bolotnaja-Platz, nicht weit vom Kreml. Mit dieser Sonderbehandlung hoffte die Präsidialverwaltung offenbar, dass nationa­listische Spektrum lenken, zumindest aber besser kontrollieren zu können. Offenbar wurde RO bewusst besser behandelt als die inzwischen verbotenen Organisationen »Slawjanski Sojus« (SS) und »Bewegung gegen illegale Immigration« (DPNI). Besonderen Eindruck machte auf die Mitarbeiter der Präsidialverwaltung nach Medienberichten, dass RO um Mitglieder nicht unter »ge­scheiterten Existenzen« sondern unter Angestellten, Juristen und Unter­nehmern warb.

Mehr zum Thema

>