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Russische Neonazis wollen »nationale Revolution«

Ulrich Heyden (Moskau)
Einleitung

Zunächst eine gute Nachricht: Die Zahl der Überfälle russischer Neonazis auf StudentInnen aus Afrika und GastarbeiterInnen aus dem Kaukasus oder Mittelasien geht weiter zurück. Nach dem vom Moskauer Sova-Zentrum 1
vorgelegten Jahresbericht 2009 gab es in Russland im letzten Jahr 71 Tote und 333 Verletzte in Folge rechtsradikaler und rassistischer Gewalt. 2008 waren es noch 110 Tote und 487 Verletzte gewesen, wobei Sova erklärt, dass es bei den rassistischen Überfällen noch eine Dunkelziffer gibt.

  • 1Seit sechs Jahren dokumentiert das Sova-Analyse-Zentrum (http://sova-center.ru/194F418) rechtsradikale Gewalt in Russland. »Sova« heißt übersetzt »Eule«. Der Sova-Jahresbericht 2009 wurde finanziert von: National Endowment for Democracy (USA), Soros Foundation (USA), Helsinki-Komitee (Norwegen), Außenministerium Großbritannien, Präsident der Russischen Föderation.
Bild: Ulrich Hejden

Gedenkkundgebung an ermordete Neonaziopfer in Moskau.

Die Neonazi-Szene kann nicht mehr ungehindert agieren. Seit Mitte 2008 wurden mehrere Gruppen in Moskau und St. Petersburg vor Gericht gestellt. Nach dem Jahresbericht 2009 stieg die Zahl der wegen rechter Gewalt Verurteilten von 26 (2004) auf 127 (2009). Die Zahl der Personen, die wegen »Schüren von Hass« gegen Nicht-Slawen verurteilt wurden, erhöhte sich von drei (2004) auf 48 Personen (2009).

Einschüchterung und Mord

Nach den Analysen des Sova-Zentrums stieg jedoch die Militanz der Neonazis. Im letzten Jahr gab es 20 Anschläge auf PolizistInnen und ErmittlerInnen sowie auf Wehrämter und andere staatliche Institutionen, erklärt Galina Koschewnikowa, die Autorin des Jahresberichts, die selbst schon mehrfach Morddrohungen erhielt. Die Neonazis hätten ihre Strategie geändert, schreibt die Expertin. Sie hätten begriffen, dass es unrealistisch sei, alle MigrantInnen aus Russland zu vertreiben. Hauptziel sei nun »die Destabilisierung der politischen Situation« mit dem Ziel einer »nationalen Revolution«.

Überraschende Verhaftungen

Anfang Februar 2010 wurden in St. Petersburg überraschend vier Neonazis verhaftet. Gegen sie laufen jetzt Strafverfahren wegen Bombenanschlägen und Morden an GastarbeiterInnen. Der 20jährige Walentin Mumschijew aus dem Gebiet Tjumen und der 19jährige Georgi Timofejew aus St. Petersburg werden des Mordes an dem Ghanaer Solomon Gvadjo verdächtigt. Außerdem sollen sie am 2. Februar 2010 einen Anschlag auf einen Reperatur-Zug auf der Strecke St. Petersburg-Moskau verübt haben, bei dem ein Gleis zerstört und der Zugführer verletzt wurde. Auch wurden die 21 Jahre alten Igor Grizkewitsch und Wladimir Smirnow verhaftet. Sie sollen für mindestens drei Bombenanschläge in St. Petersburg, auf Läden und Wohnungen von GastarbeiterInnen aus dem Kaukasus und Zentralasien, verantwortlich sein.

»Weiße Wölfe« verurteilt

Eine Bande russischer Jung-Neonazis erhielt wegen Mord in sechs Fällen Haftstrafen zwischen sechs und 23 Jahren. Ende Februar 2010 verkündete ein Moskauer Gericht das Urteil gegen neun jugendliche Mitglieder der Neonazi-Bande »Weiße Wölfe«. Die Angeklagten wurden wegen »Mord aus Ausländerhass« verurteilt. Der 18jährige georgische Anführer Alexej Dschawachischwili, Spitzname »Dschawa«, wurde zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilt. Er bestritt vor Gericht, Führer der Bande zu sein. Ihm werden zwei Morde zur Last gelegt, den übrigen Angeklagten zwischen einem und neun Morden. Die Bande »Weiße Wölfe« wurde am 20. April 2007, dem Geburtstag Adolf Hitlers, gegründet. Ziel der Gruppe, zu der Jugendliche im Alter zwischen 18 und 22 Jahren gehörten, war die Jagd auf GastarbeiterInnen mit nichtslawischem Äußeren, insbesondere Tadschiken, Usbeken und Kirgisen. Die GastarbeiterInnen wurden abends überfallen und mit Messern und Schraubenziehern traktiert. Dabei schrien die Neonazis Parolen wie »Russland den Russen!« und »Moskau den Moskauern!«. Einem Opfer wurden 79 Stiche beigebracht. Die Anwälte der Angeklagten haben erklärt, dass sie die Urteile anfechten werden. Die Staatsanwaltschaft hat sich noch nicht endgültig zu dem Urteil geäußert.

Pilotprojekt »Komitee 19. Januar«

Immerhin hat das Ausmaß des Neonazi-Terrors dazu geführt, dass sich die politische Szene, die sich als antifaschistisch versteht und sich beim Schutz vor Neonazis nicht auf den Kreml verlassen will, das erste Mal auf eine große, gemeinsame Aktion verständigt hat. In Russland kommt dies aufgrund des weit verbreiteten und lange kultivierten Sektierertums einer kleinen Revolution gleich. Allerdings waren im letzten Jahr auch fünf AntifaschistInnen von Neonazis ermordet worden, was ein gemeinsames Handeln geradezu erzwang. Die erste gemeinsame Aktion waren zwei Trauerkundgebungen am ersten Jahrestag des Doppelmordes an dem linken Anwalt Stanislaw Markelow (34) und der auf Antifaschismus spezialisierten Journalistin Anastasia Baburowa (25), die am 19. Januar 2009 am helllichten Tage in Moskau erschossen wurden. Die TäterInnen sollen Neonazis sein. Sicher ist das jedoch nicht. Zu den beiden Trauerkundgebungen am 19. Januar 2010 kamen insgesamt 1.000 TeilnehmerInnen, was für russische Verhältnisse sehr viel ist. Eine Demonstration wurde von der Stadtverwaltung nicht zugelassen. Viele der KundgebungsteilnehmerInnen trugen Vermummung. Die AktivistInnen hatten Angst fotografiert zu werden, denn russische Neonazis führen im Internet »schwarze Listen« mit Photos und Wohnadressen ihrer GegnerInnen. Die öffentliche Trauer war von einem überparteilichen »Komitee 19. Januar« organisiert worden. An der Aktion nahmen Antifa-Jugendliche, AnarchistInnen, unabhängige Linke und Liberale teil. Die Opposition wird durch verschiedene Maßnahmen des Staates derart behindert, dass sich die einzelnen Gruppen, um überhaupt in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, für bestimmte Aktionen zusammenschließen. Demonstrationsverbote wie das vom 19. Januar 2010 werden die jugendlichen AntifaschistInnen vermutlich radikalisieren. Denn es ist zu offensichtlich, dass der Staat mit unterschiedlicher Elle misst. So wird jedes Jahr am 4. November in mehreren Städten ein von Neonazis organisierter »Russischer Marsch« genehmigt, wo aggressiver Rassismus und auch der Hitler-Gruß gezeigt wird. 2009 genehmigte die Stadtverwaltung einen »Russischen Marsch« mit 3.000 TeilnehmerInnen im Stadtteil Lublino und ein Konzert der Neonazi-Rock-Gruppe »Kolowrata« auf dem Moor-Platz, in Sichtweite des Kreml, zu dem 2.000 Personen kamen.

Rache für verurteilte Neonazis?

Im Mordfall Markelow/Baburowa gibt es jetzt erste Ermittlungserfolge und ein Strafverfahren. Im November letzten Jahres wurde der vermutliche Mörder und seine Helferin festgenommen. Es handelt sich um den »Historiker« Nikita Tichonow, Mitglied der Organisation »Russki Obras« (»Russische Art«). Seine Freundin, die Journalistin Jewgenija Chasis, soll Markelow beschattet haben. Bei der Durchsuchung der Wohnung wurde nach einem Bericht der Nowaya Gazeta ein ganzes Waffenarsenal gefunden. Nach der Verhaftung war Tichonow geständig, widerrief seine Aussage aber später. Jewgenija Chasis bestreitet jede Tatbeteiligung.

Gefahr wird klein geredet

Mit ihren Straßenaktionen gegen Neonazis stören die jungen Antifas das staatliche Antifaschismus-Konzept, welches sich auf historische Themen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges beschränkt. Dass sich in Russland heute eine neue Nazi-Ideologie breit macht, versuchen die offiziellen Stellen klein zu reden. Unterdessen greifen Kreml-nahe Jugendorganisationen wie die »Junge Garde« Stichworte der Neonazis auf, wenn sie Kampagnen machen mit Parolen wie »Unser Geld – für unsere Leute« und damit die rassistische Stimmung im Land anheizen. In einzelnen Fällen kommt es auch zur direkten Zusammenarbeit von Neonazis und staatlichen Einrichtungen. So veranstaltete das Katastrophenschutzministerium in St. Petersburg im Dezember 2009 einen »Kampf-ohne-Regeln« Sportwettbewerb, an dem zahlreiche Neonazis teilnahmen. Diese hielten Transparente mit Aufschriften wie »Halte das Blut sauber!« Niemand schritt ein.

Ulrich Heyden ist Moskau-Korrespondent und berichtet für die Sächsische Zeitung, der Freitag und Die Wochenzeitung.