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Der Fall Sacramento

Einleitung

In den vergangenen Jahren wurden Antifaschist_innen in den USA, die sich etwa in Portland, Berkeley und Washington DC gegen Neonazis stellten, aggressiv von den Sicherheitsbehörden strafrechtlich verfolgt, obwohl tödliche Angriffe in den USA in diesem Zeitraum ausschließlich durch die extreme Rechte erfolgt sind. 

Foto: Change.org/BAMN

In der Bildmitte mit Messer: Derik Punneo. Der Polizei-Ermittler kam zu der Auffassung, dass der Abgebildete hier seine Bürgerrechte wahrnähme, „ein rechtmäßiges Messer besaß, von den Demonstranten angegriffen wurde und sich gegen die Angriffe wehrte“.

Durch den Guardian1  wurde Ende Januar 2019 aufgedeckt, dass ein Polizeioffizier in Kalifornien aktiv gewalttätige Neonazis von der Strafverfolgung verschont und dafür ihre Opfer ins Visier der Ermittlungen genommen hatte.

Die Transparenz-­Organisation „Property of the People“ - eine Bürgerrechtsgruppe, die mit Anfragen auf Grundlage des „Freedom of Information Act“ Licht in die Funktionsweise staatlicher Behörden bringt - erstritt sich in dem Zusammenhang FBI-Unterlagen und stellte diese der Öffentlichkeit zur Verfügung2 . Aus ihnen ging hervor, dass das „Federal Bureau of Investigation“ (FBI) - die zentrale Sicherheitsbehörde der Vereinigten Staaten - eine umfassende Untersuchung der antifaschistischen Gruppe „By Any Means Necessary“ (BAMN) veranlasst hatte. Deren Anhänger_innen wurden während einer Neonazi-Kundgebung in der kalifornischen Hauptstadt Sacramento im Juni 2016 von Neonazis niedergestochen und schwer verletzt. Die Logik dahinter: Die Neonazis seien durch die antifaschistischen Gegenproteste in ihrem Recht auf eine ungestörte rassistische Machtdemonstration gefährdet worden. BAMN ist nicht der einzige linke Zusammenschluss, der ins Visier vom FBI geraten ist. Auch Klima-Aktivist_innen oder „Pro-Choice“-Gruppen (auch als „Pro-­Abortion Extremists“, Pro-Abtreibungs-­Extremist_innen bezeichnet), die sich für die reproduktiven Selbstbestimmungsrechte von Frauen einsetzen, gehören gleichermaßen ins Feindbild der staatlichen Behörde3 .

Im AIB Nr. 112 hatten wir Ende 2016 im Beitrag „Schwer­verletzte bei Neonazikundgebung in Sacramento (USA)“ über die Vorgänge berichtet. Folge der Messer­attacken auf linke Demonstrant_innen waren verschiedene Strafverfahren gegen Antifaschist_innen, es kam jedoch zu keiner einzigen Anklage gegen die bewaffneten Neonazis.

Die Aussage eines kalifornischen Polizisten, der die Untersuchung der Verletzungen durch Messerstiche bei der Neonazikundgebung leitete, zeigt hingegen, dass er seine Ermittlungen lieber auf linke Aktivist_innen konzentriert hatte. Der Offizier Donovan Ayres sagte als Hauptzeuge im Prozess gegen drei Antifaschist_innen aus, die nach den Auseinandersetzungen beim Neonaziaufmarsch vor dem Capitol in Sacramento im Juni 2016 wegen Körperverletzung und „Aufruhr“ angeklagt worden waren. Bei den Auseinandersetzungen wurden mindestens acht antifaschistische Demonstrant_innen schwer verletzt. Ayres Aussage vor Gericht, die Ermittlungsberichte sowie seine einseitige Ermittlungsführung zeigen nicht nur dessen Zustimmung für den Neonaziaufmarsch, sondern verdeutlichen darüber hinaus, wie sehr er sich dafür einsetzte, dass es strafrechtliche Konsequenzen nicht für Neonazis, sondern einzig für Antifaschist_innen geben sollte.

Ayres sagte vor Gericht aus, er habe einen Durchsuchungsbeschluss eingereicht, um auf die Facebook-Konten der linken Demonstrant_innen und Antifaschist_innen zugreifen zu können. Er entschied sich aber dafür, keine gleichwertigen Informationen über neonazistische Verdächtige zu suchen - für einen Strafverfolgungsbeamten der Neonazi-Gewalt untersuchen soll, erstaunlich. Nach eigenen Aussagen wollte er die politische Einstellung der Anwesenden auf der Neonazidemonstration nur aufgrund ihrer Teilnahme an der dortigen Versammlung nicht beurteilen.

Zur Erinnerung: Die Kundgebung am 26. Juni 2016 in Sacramento war von zwei rassistischen Gruppierungen, der „Traditio­nalist Worker Party“ (TWP) und einer angeschlossenen kalifornischen Einheit, den „Golden State Skinheads“ organisiert worden. Ayres war einem „taktischen Team“ auf dem Dach des Kapitols zugewiesen. Von dort aus konnte er die Auseinandersetzungen zwischen den Neonazis und linken Gegenprotestant_innen, die zu mindestens acht Messerstichen und Dutzenden anderer Verletzungen führten, genau beobachten.

Nach der Veranstaltung begannen Ayres und andere Polizei-Offiziere der „California Highway Patrol“ (CHP), verletzte Antifaschist_innen im Krankenhaus zu befragen und ihre politischen Hintergründe zu ermitteln. Die Polizei suchte hierbei nach „Zugehörigkeiten“ zur „AntiFa“ und zur „Black Lives Matter“-Bewegung.

Drei Monate später beantragte auch die CHP Durchsuchungsbeschlüsse für die Facebook-Konten von Antifaschist_innen. Gesucht wurden Informationen über „mehrere hundert Demonstrant_innen“, die „sich ille­gal versammelten (...) mit dem erklärten Ziel, die traditionelle Arbeiterpartei daran zu hindern, ihr Recht auf Versammlung und Äußerung ihrer Botschaft auszuüben“. Zu den Protestgruppen gehören „AntiFa“ und „Black Lives Matter“, schrieb die CHP in ihrer Antragsbegründung und fügte hinzu, dass sie „private Nachrichten“, „Metadaten“, „Freundeslisten“, Informationen über vergangene und zukünftige Ereignisse und anderes Material über Personen suche, die mit Antifa- und Protestseiten in Verbindung stehen.
Daneben führte Ayres eine umfassende Überwachung der politischen Aktivitäten der Antifaschist_innen durch und entdeckte dabei Verbindungen einiger Demonstrant_innen zu „Native American“ und „Chicano“-Gruppen. Ayres schrieb mehr als 120 Einzelberichte über die Anwesenden in Sacramento. Für Antifaschist_innen und Gegendemonstrant_innen war der Sprachgebrauch im Allgemeinen der Gleiche: Sie „randalierten“ und „bedrohten das freie Rede­recht“, eine strafrechtliche Verfolgung sei zu empfehlen.

Bei den identifizierten Neonazis kam er hingegen zu dem Schluss, dass er nicht mit Sicherheit feststellen könne, ob sie „allein verantwortlich für bestimmte Verletzungen“ seien. Dazu gehören auch Neonazis, die aufgrund von Videobeweisen als Messerführer zu sehen sind. Bei viele gäbe es angeblich nicht genügend Beweise für die Begehung von Straftaten.

Der Neonazi Sean Würzburg wurde beispielsweise dabei „beobachtet, wie er ein scheinbar klappbares Klingenmesser in der rechten Hand hielt, als er sich zunächst mit einem Gegendemonstranten beschäftigte“. Dann ist zu sehen, wie sie in den Büschen rollen: „ ... und Würzburg wurde gesehen, wie er einige nach unten schiebende Bewegungen machte. Der Demonstrant erlitt eine Stichwunde am Bauch“. Für Ayres jedoch keine ausreichenden Beweise, um festzustellen, ob Würzburg für die Wunde verantwortlich ist, die der Gegendemonstrant erlitten hat. In einem anderen Bericht empfahl er hingegen, den Verletzten wegen 13 verschiedener Straftaten anzuklagen, darunter wegen eines Angriffs mit einer „tödlichen Waffe“ (Fahne), Verschwörung, Teilnahme an einem Aufstand, Mitführen eines unrechtmäßigen Transparentes „über 30 Zoll“ und so weiter.

Im gleichen Atemzug verkündete Ayres, dass der tatverdächtige Neonazi Derik Punneo auf dem Aufmarsch „ein rechtmäßiges Messer besaß, von den Demonstranten angegriffen wurde und sich gegen die Angriffe wehrte“. Auch hier empfahl der Ermittler keine Anklage gegen Punneo zu erheben, drängte aber auf die Verfolgung der drei niedergestochenen Antifaschist_innen aufgrund verschiedener Straftaten.

Insgesamt empfahl Ayres, keine Anklage auch nur gegen einen einzigen neonazistischen Messerstecher zu erheben, aber Strafanzeige gegen alle 100 Gegendemonstrant_innen zu stellen, die er identifiziert hatte - darunter acht Schwerverletzte und eine Vielzahl von friedlichen Demonstrant_innen. Die Staatsanwaltschaft beschloss schließlich, drei der von Ayres denunzierten Antifaschist_innen anzuklagen: Yvette F., eine 48-jährige Lehrerin und die zwei indigenen Aktivisten Michael W. (58) und Porfirio P. (21). Die für die Lehrerin Yvette F. zu verhandelnde Straftat: Sie soll den Keltenkreuz-Fahne schwingenden Neonazi Nigel Walker an seinem Rucksack gezogen haben.