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Fadenscheinige Vorwürfe gegen die Parade für sexuelle Gleichberechtigung

Einleitung

Die Entlassung eines seit über acht Wochen in Warschau in Untersuchungshaft sitzenden Berliners am 11. August 2006 war eine positive Überraschung. 7.500 Euro Kaution mussten beim zuständigen Strafgericht hinterlegt werden, um René K. aus dem Gefängnis zu bekommen. Er war am 10. Juni 2006 in die polnische Hauptstadt gefahren, um die inzwischen vierte »Parada Równosci« (Parade für sexuelle Gleichberechtigung) zu erleben. Die Parade reiht sich ein in den weltweit begangenen »Christopher Street Day«. Beteiligt hatten sich rund 8.000 Menschen. Ziel ist es, eine kritische Öffentlichkeit für die nicht nur in Osteuropa vielfach mit Füßen getretenen Rechte der LesBiSchwulTransgender-Bewegung zu sensibilisieren.

Neonazistische Gruppen, darunter die »Allpolnische Jugend« und die »Liga der polnischen Familien« bei der Gegendemonstration zur Parade der sexuellen Gleichberechtigung 2006

In den vergangenen Jahren waren ähnliche Demonstrationen durch Behörden mehrfach untersagt worden. Dennoch hatten sich Aktivisten immer wieder »illegal« versammelt und waren massiven Übergriffen seitens der Polizei und aufgebrachter Gegendemonstranten ausgeliefert. Gerade entsprechende Vorfälle in Mos-kau und Belgrad hatten weltweit Aufsehen erregt. Die LesBiSchwulTransgender-Szene wird in Osteuropa durch konservative Politiker und Medien seit Jahren massiv angefeindet. René, so mutmaßen AktivistInnen der Solidaritätsgruppe »Queer Berlin«, sei kurz vor Ende der Parade aus politischen Gründen herausgezogen worden, um an ihm ein Exempel zu statuieren.

»Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort«, erklärte René nach seiner Ankunft am 12. August in Berlin. Zuvor hatten ihn etwa 50 UnterstützerInnen und FreundInnen am Ostbahnhof empfangen. Bereits nach der Festnahme Anfang Juni war eine breite Solidaritätsbewegung für den 24jährigen Berliner Schüler angestoßen worden: zahlreiche AktivistInnen aus der LesBiSchwulTransgender- und Antifa-Szene, Politiker und ein deutsch-polnisches Juristen-Team hatten wochenlang für Renés Freilassung gekämpft und immer wieder auf die fadenscheinigen Vorwürfe der Staatsanwaltschaft aufmerksam gemacht. Zu Solidaritätsaktionen war es in zahlreichen Städten gekommen: In Berlin protestierten etwa 200 Menschen vor dem polnischen Konsulat im Stadtteil Grunewald, Aktionen gab es auch in Dresden, Warschau, Hamburg, Köln und anderen Städten. An vielen Hauswänden waren Graffities mit dem Spruch „Free René“ zu lesen, an Hausprojekten hingen entsprechende Transparente.

Homophobe Stimmung

Die Parade am 10. Juni war immer wieder durch rechtskonservative Homosexuellenhasser und Neonazis angegriffen worden. In rechten Gazetten wurde zuvor homophobe Stimmung gemacht. Neonazistische Gruppen, darunter die »Allpolnische Jugend« und die »Liga der polnischen Familien«, hatte zu Gegendemonstrationen aufgerufen. Mehrfach wurden durch Mitglieder neonazistischer und katholischer Organisationen Steine, Tränengasgranaten, Flaschen und Eier auf die Teilnehmer der Parade geworfen, zudem gab es teilweise heftige Handgemenge. Der rechte Mob aus etwa 200 Teilnehmern trug Transparente, auf denen gegen Homosexualität und die EU gehetzt wurde. Die Polizei ließ immer wieder zu, daß sie an die Paradestrecke vordringen konnten und beobachtete die Angriffen teilweise ohne Reaktionen.

René wird vorgeworfen, während der Abschlusskundgebung vier Polizisten mit einem Teleskopschlagstock und CS-Gas angegriffen zu haben. Dabei soll ein Beamter zu Fall gebracht worden sein. René und mehrere Zeugen bestreiten dies. Er sei kurz vor der Festnahme zufällig in der Nähe von Auseinandersetzungen zwischen Parade-Teilnehmern und Neonazis gewesen, sagt René. Dafür spricht auch, dass ein Schlagstock und Gas während der Durchsuchung nicht gefunden wurden. Auch der Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck sieht seinen Mandanten wegen seiner schlanken Statur nicht in der Lage, einen martialisch ausgestatten Polizisten niederzuschlagen. Im Anschluss an seine brutale Festnahme musste René mehrere Stunden mit drei Neonazis in der Zelle eines Polizeireviers verbringen. Einen Dolmetscher gab es nicht. Anschließend ging es in eine Sammelzelle mit einer Größe von neun Quadratmetern, in der über 15 Menschen untergebracht waren. Vor seinem Verhör beobachtete René, wie sich die vier Polizisten für die Aussagen gegen ihn absprachen. Ohne Verteidigung wurde anschließend U-Haft angeordnet. Er habe keinen Wohnsitz in Polen und die zu erwartende Strafe lasse eine Haftverschonung nicht zu, so die Begründung.

Im Bialoleka Gefängnis

Drei Tage nach der Festnahme war eine 15-Quadratmeterzelle mit sechs Personen im Warschauer Bialoleka-Gefängnis fast acht Wochen Renés »Zuhause«. Die »Gefährlichkeit« der Häftlinge misst sich hier an der Etage: René war in der ersten und galt so als »ungefährlich«. In seiner Zelle waren es häufig 50 Grad, geduscht wurde einmal pro Woche im Keller. Das »Trinkwasser« war nicht genießbar, das Essen miserabel, die medizinische Versorgung katastrophal. Täglich gab es eine Stunde Hofgang. Mithäftlinge hatten sich untereinander besser ärztlich versorgt, als das Fachpersonal dazu in der Lage war. Toilettenpapier gab es eine Rolle pro Monat und Häftling. Erst nach zwei Wochen konnte René seine Kleidung wechseln, die er bei der Parade getragen hatte. Deutschsprachige Tageszeitungen und Bücher wurden ihm verwehrt. Sie hätten übersetzt werden müssen, so die Begründung. Dafür aber fehlten Kapazitäten.

Aus Selbstschutz verheimlichte René seinen Mitgefangenen den Hintergrund der Inhaftierung. Diesen Rat hatte er von einer Sozialarbeiterin bekommen, die René nach der Einlieferung ins Bialoleka am 12. Juni empfangen hatte. Um nicht als verhasster Homosexueller angesehen zu werden, trug René das Urteil mit dem Tatvorwurf immer bei sich. Zudem dachte er sich eine gefakete Vorgeschichte der Festnahme aus: Er sei nach Warschau zum Party Machen gefahren und wäre später zufällig in eine Schlägerei mit Polizisten verwickelt worden. Bialoleka ist das größte Gefängnis Europas, bis zu 3.000 Menschen können hier zusammengepfercht werden. Bei seinen Mitgefangenen hatte René nach eigenen Angaben jedoch einen Glücksgriff: in seiner Zelle waren lediglich Betrüger, ein paar Räuber und Autoknacker. Schwierig war die Kommunikation wegen der Sprachbarrieren.

Auch wenn es unter den Gefangenen viele Arschlöcher gibt, die Ablehnung gegenüber dem Gefängnispersonal und der Justiz schweißt dann doch viele zusammen, erzählte René im Gespräch mit dem Internetportal x-berg.de. Von seiner Freilassung am 11. August erfuhr René vier Stunden vorher. Sie wurde auf einmal möglich, weil genug Geld angeboten wurde. Bisher ist unklar, wann in Warschau der Prozess gegen René stattfinden wird. Das Juristenteam um Wolfgang Kaleck will eine Freilassung durchfechten, eine Bewährungsstrafe ist jedoch zu erwarten.

Unterstützung möglich

Der Fall zeigt erneut die Notwendigkeit von Solidaritätsarbeit für Betroffene von staatlicher Repression, auch wenn die Situation manchmal aussichtslos erscheinen mag. Der Unterstützungsgruppe »Queer Berlin« ist es gelungen, eine breite Öffentlichkeit mit Informationen über die unhaltbaren Vorwürfe der Staatsanwaltschaft und die Haftbedingungen zu erreichen sowie Forderungen für Renés Freilassung im Berliner Stadtbild und darüber hinaus offensichtlich werden zu lassen. Nur so konnte auch Druck auf die zuständige Staatsanwaltschaft und die deutsche Botschaft in Polen ausgeübt werden. Eine solche Solidaritätsarbeit muss es im übrigen auch geben, wenn Antifaschisten, die sich gegen die homophoben Angriffe der Neonazis in direkter Konfrontation zur Wehr setzen, inhaftiert werden.


Mehr Informationen unter: www.queerberlin.tk