Der geschichtspolitische Fundamentalismus der extremen Rechten am Beispiel Rudolf Heß.
Daniel Schlüter»He, wir trauern !«1
Sein Konterfei wird auf Fahnen, Postkarten, Aufkleber, Poster und Kleidungsstücke gedruckt, auf Tassen herumgereicht und als Relief an die Wand gehängt. Mitschnitte seiner Reden werden »umrahmt von weihnachtlichen Liedern und festlichem Glockengeläut des Berliner und Salzburger Doms sowie der Marienkirche zu Danzig«.2
Zahllose Lieder aus dem Rechtsrockmilieu widmen sich seinem Schicksal. Auf Transparenten und in Pamphleten wird der »einsamste Mann auf der ganzen Welt«3
als Märtyrer, Vorbild und Kamerad gefeiert. Wenn die extreme Rechte des NS-Funktionärs Rudolf Heß gedenkt, dann gibt es wenig, was es nicht gibt.
Was diese Flut aus Papier, Keramik und variantenfreiem Liedwesen absichtsvoll unterschlägt: Rudolf Heß war Nationalsozialist der ersten Stunde, einer, dessen glühender Eifer mit einer ansehnlichen Karriere belohnt wurde, die ihn vom Sekretär des inhaftierten Hitler zum »Minister ohne Geschäftsbereich« führte. Was Heß in dieser Funktion trieb, blieb im Großen und Ganzen unklar. Umso deutlicher fielen seine Worte aus, die vor devoter Verehrung nur so strotzten: »Mit Stolz sehen wir:«, so Heß in einer seiner einschlägigen Reden, »Einer bleibt von aller Kritik stets ausgeschlossen - das ist der Führer. Das kommt daher, daß jeder fühlt und weiß: Er hatte immer recht, und er wird immer recht haben«.1
Einem solchen Mann in politischer Absicht zu gedenken, kann aus zweifacher Hinsicht schwierig sein. Zum einen ist es heute aus den bekannten Gründen kaum möglich, sich anders als in stark codierter Form positiv auf den Nationalsozialismus zu beziehen. Zum anderen handelt es sich bei Heß um einen Angehörigen der politischen Elite, der während des Nationalsozialismus nicht selten zur Zielscheibe von Flüsterwitzen wurde, die seinen Geisteszustand thematisierten. Da mag es etwas erstaunlich wirken, dass es nahe liegende Gründe geben soll, warum gerade er der einzige Funktionär aus der NS-Führungsriege ist, der in der Politik des deutschen Rechtsextremismus aktuell eine Rolle spielt. Statt zur Fußnote wurde Heß zu einem zentralen Idol, das nicht nur nach innen abstrahlt und Kameradschaftsabende mit glorifizierenden Heldensagen und Selbstvergewisserung versorgt, sondern auch der Gestaltung praktischer Politik dient. Es gibt kaum ein mobilisierungsträchtigeres Thema, an dem sich das geschichtspolitische Verständnis und die dahinter stehenden Absichten des deutschen Rechtsextremismus treffender nachzeichnen lassen als am Gedenken an Rudolf Heß.
Die Mythisierung: »Ehre den Toten die den Frieden boten«2
Das Gedenken an Heß, der 1987 im alliierten Kriegsverbrechergefängnis durch Selbsttötung verschied, besteht aus einer zunächst einfach nur anachronistisch anmutenden Reihung von kitschig-schwülstigen Worten, Tönen, Bildern und Handlungen in ewiger Wiederkehr. Zusammengenommen ergeben die unterschiedlichen Erzählungen, die sich um seine Person ranken, jedoch mehr als das. Sie begründen eine fantastische Geschichte, die an der Grenze zwischen dem angesiedelt ist, was man für wahr hält und dem, was man ohne Beweisführung einfach nur glauben will. Damit mag die Erzählung extrem abwegig klingen und ist doch gleichzeitig hoch funktional, sowohl für das Eigenbild als auch für die Entwicklung einer komplexen Gegengeschichte, deren Kern die Inszenierung des Hauptdarstellers als »Friedensflieger«, »Märtyrer« und »Vorbild« ist. Das Leben von Heß ist zum Mythos geworden, dessen Technik in der Rückbindung auf reale Ereignisse besteht, die über die Erzählung eine Umdeutung erfahren. Dieser komplexe Prozess vollzieht sich in verschiedenen Stufen und auf unterschiedlichen Ebenen.
Zunächst wird die reale Person Heß zum Opfer erklärt. Als Parlamentär sei, so die Argumentation, bereits seine Inhaftierung unrechtmäßig gewesen. Seine spätere Anklage vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal stelle nichts anderes als Siegerjustiz dar. In seiner Ernennung zum »Friedensflieger« erhält die Rolle des 'Parlamentärs' in einem zweiten Schritt eine explizit positive Wertung. Heß sei nach England - genau genommen nach Schottland - geflogen, um den 2. Weltkrieg zu beenden. Es sei ihm also um den Frieden schlechthin gegangen. Vor diesem Hintergrund wird Heß in einem weiteren Schritt als Märtyrer inszeniert der für eine sowohl untadelige als auch aufrechte Gesinnung inhaftiert wurde und nicht nur ohne Recht sondern auch ohne Gnade eingesperrt blieb.
An den jeweiligen Akzentuierungen dieser alles in allem abenteuerlichen Lesart der Ereignisse lässt sich innerhalb der Gedenkgemeinschaft eine Spaltung feststellen, die nicht allein auf strategischen Differenzen beruht. Zwischen einem meist parteiförmig verfassten, parlamentarisch ausgerichteten und tendenziell auf die Akzeptanz der bürgerlichen Mitte orientierten Spektrum und dem eher bewegungsorientierten, rebellierenden Neonazismus gibt es ohne Zweifel eine Reihe gemeinsamer Momente, die anlassbezogen immer wieder zu strategischen Allianzen und gemeinsamen Aktivitäten führen. Beiden Fraktionen gilt Heß nicht nur als reale Person, sondern gleichsam als Platzhalter für ein viel weitreichenderes Begehren. Letztendlich aber liegen ihren jeweiligen Aktivitäten unterschiedliche Schwerpunktlegungen und Intentionen zu Grunde. Während das erste Spektrum vor allem darauf abzielt die Gesamterfahrung des nationalsozialistischen System zu zergliedern, um Teile von ihm zu relativieren, geht es den Neonationalsozialisten darum, den Makel der Vergangenheit abzuschütteln, um sie in ihrer Gesamtheit als Modell für die Gegenwart zu rehabilitieren. So zeigt sich auch, dass das eher gemäßigte Spektrum implizite Verweise auf die nationalsozialistische Ausrichtung der Gesinnung von Heß eher vermeidet während sich im Neonazismus die Agitation gegen die als Unrecht bezeichnete Inhaftierung zur These steigert, Heß sei von den Alliierten ermordet worden. Der Märtyrer tritt hier nicht nur als Opfer auf, dem Mitleid gilt sondern vor allem als Träger einer Idee, die zum politischen Handeln auffordert. Diese Anrufung geht einher mit einer vollständigen Metaphorisierung der Figur. In besonderem Maße in der Agitation der Neonazis wird Rudolf Heß zum Inbegriff des deutschen Helden. In ihm sollen nicht nur vermeintlich deutsche Tugenden und spezifische deutsche Charaktereigenschaften wie Ehre, Treue und Standhaftigkeit ihren Ausdruck finden. Sein Körper selbst wird zum Ort der die gesamte Bestrafung des besiegten Deutschlands erleiden muss. Es ist wie es die Gruppe Noie Werte anteilnehmend formuliert schlichtweg »unglaublich«, was Heß ertragen hat und ertragen konnte.3
Heß litt am meisten und am besten und ist darin Leitbild für eine politische Idee, in der die Sehnsucht nach der Destruktion mit der masochistischen Lust an der Selbstzerstörung kurzgeschlossen ist. Er tritt zudem als Verkörperung eines selbst in der Niederlage ungebrochenen Deutschlands auf. »Ich bereue nichts« lautet in diesem Zusammenhang ein gewünscht vieldeutiger Satz von Heß, den das Neonazilager notorisch zitiert. Diese vier Elemente der Mythisierung weisen untereinander kaum Kohärenz auf. Insofern ist die Mythenbildung bereits Ausdruck einer typisch widersprüchlichen Argumentationsführung, die immer den Spagat zwischen offener Sympathie für den Nationalsozialismus und vorgeblicher Bekennung zu herrschenden Geschichtsparadigmen leisten muss. Die logische Klammer dieser vier Elemente des Mythos besteht so im subversiven Bestreben, die Verbrechen des Nationalsozialismus strategisch zu verharmlosen. Die Person Heß wird moralisch auf-, ihr Handeln geschichtlich völlig überbewertet. Sein Handeln wird dargestellt, als hätte es nicht im Kontext politischer Strategien gestanden. Der so genannte Friedensflug hätte, so der Kern der perfiden Argumentation, im Falle seines Gelingens einen Krieg beendet den tatsächlich niemand anders als der »Friedensflieger« und seine Gesinnungsgenossen begonnen hatten.
Die Idealisierung der Akteure
Die Funktion der Erzählung besteht allerdings nicht nur in der Idealisierung von Heß als Metapher für den Nationalsozialismus, sondern auch in der Realisierung des Begehrens nach Mystik und Mythos im Selbstbild der Akteure. Die hier erzählte Geschichte genügt beiden Ansprüchen und macht Heß zu einem der wenigen wirkungsmächtigen geschichtlichen Idole, über die das rechtsextreme Spektrum öffentlich verfügen kann. Die Geschichten von Idolen sind davon geprägt dass sie stets unerreichbar bleiben und man ihnen doch - durch eigene Anstrengung - zumindest näher kommen kann. Sie appellieren an die Chance und den persönlichen Willen. Sie erzählen, dass man - was auch immer - schaffen kann. Die Geschichte von Rudolf Heß appelliert gleichzeitig an die Amnesie. In seiner Figur verbinden sich das Wissen um den Charakter und die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Sehnsucht diese Taten wieder ausführen zu können mit der Strategie der Verschleierung dieses Wissens und der eigenen politischen Absichten. Hinzu tritt der individuelle Wunsch, auch zu der Sorte Held zu werden, dessen persönliches Schicksal hinter das Schicksal des Volkskörpers zurück tritt. Im Sinne einer solchen Verschleierung wird Heß dabei weniger als hoher NS-Funktionär inszeniert, sondern als Mann mit festen Idealen, Prinzipien und Visionen.
Letztlich bleibt diese Inszenierung jedoch eine Behelfskonstruktion, mit deren Hilfe ein strafrechtlich nicht zu sanktionierendes positives Bekenntnis zum Nationalsozialismus möglich werden soll. So ist die Idolisierung von Heß zwar einerseits der konkrete Ausdruck einer Ideologie, die um das Bild des um die völkische Sache ringenden Kämpfers errichtet ist. Andererseits ist die Erzählung aber auch Ausdruck einer spezifischen Zwangslage, in der sich Teile der extremen Rechten befinden. Das Gedenken an Heß bleibt eine Ersatzhandlung, solange nicht des Führers gedacht werden kann.
Die Ritualisierung: der Marsch der kalten Körper
Der Mythos Heß konnte eine gewisse Festigkeit und Langlebigkeit auch deshalb annehmen, weil Heß der einzige hohe NS-Funktionär ist, dessen Grabstätte lokalisiert werden kann. Die fränkische Kleinstadt Wunsiedel ist in diesem Zusammenhang zum Erinnerungsort der besonderen Art geworden. Zunächst zog hier Jahr für Jahr eine steigende Zahl von Neonazis für den »Märtyrer« und »Friedensflieger« Heß durch die Straßen, dann sorgten nicht zuletzt antifaschistische Gegenaktivitäten für eine weiträumige Verlagerung des Geschehens. Versammlungsverbote führten dazu, dass das Neonazigedenken in immer größerer Entfernung zur Grabstätte stattfinden musste, bald ging es nur noch darum, überhaupt einen öffentlichen Auftritt durchsetzen zu können. Ein Tiefpunkt schien erreicht, als 1994 mehrere tausend AntifaschistInnen Blockaden von Objekten der Naziszene durchführten, während eine schlecht besuchte Heß-Kundgebung in Luxemburg von Polizisten in Freizeitlook effizient dekomponiert wurde. Nach diesem Ereignis verlor das Gedenken um Heß für alle Beteiligten rasch an Relevanz. Zunehmende staatliche Repression machte Aufmärsche dieser Thematik weit gehend undurchführbar, eine entstandene rechte Demonstrationskultur, die eine breite Palette alltagsorientierterer Themen bediente, tat ihr übriges, um dem Gedenken seine Relevanz für die neonazistische Erlebniswelt zu nehmen. Aus dem Kulminationspunkt des europäischen Rechtsextremismus wurde zeitweilig ein unbedeutender Mummenschanz. Ironischerweise sollte gerade das Jahr nach dem >Aufstand der Anständigen< zu einer Wiederbelebung der Aktivitäten führen, die deutlich macht, wie zentral der Kampf um die Deutung der Geschichte für die Entwicklung rechtsextremer Politik grundsätzlich ist. Heute hat sich der jährlich stattfindende »Rudolf-Heß-Gedenkmarsch« als das größte Event der deutschen und auch der internationalen Naziszene etabliert und den Charakter eines Vergemeinschaftungsrituals angenommen, in dem es um die Entfaltung von Außenwirkung, aber mehr noch um die Herstellung von Binneneffekten geht.
Oppositionelle Gedenkpolitik der extremen Rechten: Gegengeschichte als Selbstgespräch
Die zentrale Charakteristik des völkischen Rechtsextremismus besteht darin, dass er ohne Mythen und Märtyrer wie Heß, an denen immer wieder Sinn für das eigene Tun gestiftet werden kann, nicht auskommt. Weil Rudolf Heß nicht umsonst gestorben ist, so das tautologische Muster, marschieren die Neonazis und weil die Neonazis marschieren, ist Rudolf Heß nicht umsonst gestorben. Wenn er überhaupt gestorben ist, denn »Märtyrer sterben nie«4
, was durchaus auch eine Selbstbeschwörung darstellt. Das zentrale Problem der extremen Rechten besteht allerdings darin, dass gerade an diesem Thema ihre gesellschaftliche Isolation nicht größer sein könnte. Im Gedenken bleibt sie weit gehend unter sich, denn für die Rehabilitierung von hohen NS-Funktionären ist in der Erinnerungslandschaft der Bundesrepublik wohl auch zukünftig kein Platz. Ihr Auftritt könnte unbelehrbarer und rückwärtsgewandter kaum aussehen, das Feld der faschistischen Gedenkpolitik erweist sich in diesem Sinne als nicht besonders geeignet, neue Zielgruppen anzusprechen oder Einfluss in gesellschaftlichen Debatten zu gewinnen. Darauf zielt die Entfaltung des Heß-Mythos allerdings auch gar nicht direkt ab. Tatsächlich geht es in zunächst um inneres Erleben und die Konsolidierung als weltanschauliche Bewegung, dann geht es darum, legale Formen einer wie auch immer verklausuliert vorgetragenen öffentlichen Bezugnahme auf den Nationalsozialismus zu finden. Erst dann geht es um unmittelbaren gesellschaftlichen Einfluss. Hier ist es sicher hilfreich, die notorische Selbsterhöhung und -überschätzung der extremem Rechten, die ihren eigenen Partikularismus zur allgemeinen Meinung umlügt und sich selbst als »Deutsche« oder »die Jugend« etikettiert, von der realen Situation zu unterscheiden. Deutlich wird dann auch, dass die Konjunkturen des Gedenkens nicht einfach nur den jeweiligen Stand der Erkenntnisse und Strategien des rechtsextremen Lagers wiedergeben. In mindestens gleichem Maße sind sie auch bestimmt von äußeren Faktoren. Wie erfolgreich eine mythische Erzählung also außerhalb der neonazistischen Erlebniswelt in praktische Politik mündet, ist auch abhängig von Bedingungen, die andere gesellschaftliche Gruppen und der Staat mitgestalten.
Die Gefahren, die von einem geschichtspolitischen Fundamentalismus ausgehen, wie er exemplarisch am Heß-Mythos beschrieben wurde, sind so eher mittelbarer Natur. Tatsächlich profitiert die extreme Rechte indirekt von aktuellen Diskursen, die nicht mehr die Täterschaft, sondern das erlittene Leid der Deutschen thematisieren und auf eine problematische Form der Differenzierung setzen. Auf der Klaviatur einer als Differenzierung verkauften Verschleierung und des Opferdiskurses spielt der Rechtsextremismus ausgiebig und nicht ohne Talent. Die Räume, die innerhalb solcher Debatten geöffnet werden, können also tendenziell Positionen tolerabel machen, die in ihrem Kern nichts anderes sind als nationalsozialistische Bekenntnisse. Fundamentalopposition würde dann unter Umständen bedeuten, dass sich der Neonazismus in der deutschen Erinnerungslandschaft nicht mehr stigmatisiert, sondern eingeschlossen ausgeschlossen wiederfindet.
Daniel Schlüter ist Politikwissenschaftler und Kriminologe und lebt in Hamburg
- 1Rudolf Heß, Reden. Zit. nach Michael Kohlstruck, Fundamentaloppositionelle Geschichtspolitik - Die Mythologisierung von Rudolf Hess im deutschen Rechtsextremismus, in: Claudia Fröhlich / Horst-Alfred Heinrich (Hg.), Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten? Stuttgart 2004. S. 95 - 109, hier S. 105f.
- 2Transparent der Lausitzer Front Guben auf dem Rudolf-Heß-Gedenkmarsch 2004.
- 3Noie Werte: Rudolf Heß,1990.
- 4Transparent auf dem Rudolf-Heß-Gedenkmarsch 2004.