Der NSU im Spitzelnetz
Andreas FörsterDas Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz legt – wenn man ihm das glauben will – bereits seit Jahren hohe Maßstäbe an Lebenswandel und Selbstverständnis seiner Quellen. Maßstäbe, die laut BfV deutlich über den Kriterien liegen, nach denen die meisten Landesämter ihre sogenannten Vertrauenspersonen vulgo Spitzel auswählen. Dieser Bundesmaßstab sollte künftig auch von den Ländern angelegt werden, regte Köln schon ein Jahr nach der Selbstenttarnung des NSU als Konsequenz aus dem Desaster um die rechte Terrorgruppe an.
Und das BfV gab den Kollegen aus den Ländern dann auch gleich das Rezept vor, nach dem sich der Verfassungsschutz seine Spitzel künftig backen will: Man nehme gereifte Persönlichkeiten, die psychisch stabil sind und mit der Erkenntnis leben können, dass sie eigentlich Verräter sind. Gleich aussortiert werden sollten jene Kandidaten, die ausschließlich am Geld interessiert seien. Natürlich sollen sich die Spitzel auskennen in ihrer Szene, dort aber keine Führungsposition haben und auch keinen Hang zur Wichtigtuerei erkennen lassen. Hände weg von Gewalttätigen, Alkoholikern, Rauschgiftsüchtigen und Straftätern. Meiden soll der Geheimdienst auch junge Leute, die noch bei ihren Eltern wohnen, sowie überforderte Väter und Mütter, die von ihrem Haushalt zu sehr in Beschlag genommen werden.
Fünf Jahre später ist man im Bundesamt deutlich kleinlauter geworden. Zu viele BfV-Spitzel sind in den letzten Jahren aufgeflogen, die allen diesen Kriterien, nach denen Köln angeblich schon immer gearbeitet haben will, widersprechen. Kein Wunder, dürften sich in der rechten Szene wohl kaum potenzielle Spitzelkandidaten finden, die die „VS-Reinheits-Kriterien“ erfüllen.
Die NSU-Affäre, die vor allem auch eine VS-Affäre ist, hat sich für den Verfassungsschutz als Schlag ins Kontor entpuppt. Und das betrifft nicht nur das Image des Dienstes. Weil eine ganze Reihe von –mitunter schon seit Jahren abgeschalteten – Quellen publik geworden sind, fällt es den Geheimdienstlern so schwer wie nie, neue Spitzel zu rekrutieren und bereits geworbene V-Leute bei der Stange zu halten. Deshalb warnen Sicherheitspolitiker und VS-Beamte seit langem lautstark davor, dass die Informationsgewinnung im extrem rechten Milieu und in anderen Kriminalitätsfeldern enormen Schaden genommen habe. Angeblich gelingt es derzeit überhaupt nicht mehr, potentielle Informanten anzuwerben. Ohne die Informanten aber, so warnen die Behörden, sei das Ausleuchten von gefährlichen Zirkeln in Zukunft sehr schwer.
Das mag sein. Aber das Beispiel NSU zeigt auch, dass selbst mit Informanten ein solches Ausleuchten nicht gelingen muss. Und dass die Beamten im Verfassungsschutz mit den ihnen gelieferten Informationen nicht effektiv umgehen können – oder wollen. Fast 14 Jahre lang waren Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf der Flucht. Sie lebten mit Hilfe von rechten Gesinnungsgenossen ein unauffälliges Leben im Untergrund – umgeben allerdings von einem dichten Spitzelnetz. Anwälte der Nebenkläger im Münchner NSU-Prozess sprechen inzwischen von 40 bis 45 Spitzeln deutscher Sicherheitsbehörden, die zwischen 1998 und 2011 im näheren und weiteren Umfeld des untergetauchten NSU-Trios positioniert waren. Vier Dutzend Spitzel – und sie alle sollen von der Existenz und den Taten der Rechtsterroristen nichts mitbekommen haben? Kaum zu glauben.
Trotz der noch immer lückenhaften, wesentliche Zusammenhänge und Hintergründe aussparenden Aufklärung des NSU-Komplexes hat sich in den vergangenen fast sechs Jahren die Einschätzung verfestigt, dass der deutsche Verfassungsschutz eine Mitschuld trägt an der Entstehung des NSU und dessen rassistischer Mordserie. Und zwar nicht wegen des angeblichen Unvermögens einzelner Mitarbeiter oder vermeintlicher beziehungsweise tatsächlicher Informationsverluste innerhalb der Behörden – sondern weil er Opfer seiner eigenen, über Jahrzehnte hinweg praktizierten Strategie wurde, innerhalb der rechten Szene eine Steuerungsfunktion übernehmen zu wollen. Mit diesem Ziel hatte der Geheimdienst – und allen voran das Bundesamt – neben einer Vielzahl durchschnittlicher Informationsgeber über lange Zeit hinweg auch mehrere Spitzenquellen aufgebaut, die dank der logistischen und finanziellen Unterstützung durch das Amt Führungs- und Schlüsselpositionen in der Szene erobern konnten.
Das Neonazi-Netzwerk „Blood & Honour“ ist nur ein Beispiel dafür. Sein früherer Deutschland-Chef Stephan Lange („Pin“ oder „Pinocchio“) flog erst kürzlich als langjähriger Ex-V-Mann des BfV auf. Nicht der einzige staatliche Einflussagent in dem klandestinen Netzwerk, das mit „Combat 18“ eine in unabhängig voneinander agierende, regionale Zellen strukturierte Terrortruppe als bewaffneten Arm besitzt. Wegen der Bedeutung von B&H für die Militanz der rechten Szene wurde die im Jahr 2000 verbotene deutsche B&H-Sektion sowie ihre illegal operierenden Nachfolgestrukturen bis in die Führungsebenen hinein vom Verfassungsschutz unterwandert. So waren neben Stephan Lange auch Führungspersonen der B&H-Sektionen in Sachsen (Thomas Starke) und Thüringen (Marcel Degner) V-Leute. Hinzu kommen mehrere einflussreiche Aktivisten aus dem B&H-Spektrum, etwa in Baden-Württemberg (Roland Sokol), Brandenburg/NRW (Toni Stadler), Dortmund (Sebastian Seemann) und Chemnitz, die ebenfalls bezahlte Informanten deutscher Sicherheitsbehörden waren.
Bei der Aufklärung der Neonazi-Szene – auch das macht der NSU-Komplex deutlich – setzte der Verfassungsschutz einerseits auf ein Heer von eher untergeordneten Quellen und Mitläufern, die Informationssplitter zusammentrugen. So war es auch im Thüringen der 1990er Jahre. Dem Geheimdienst dürfte es damals gedämmert haben, dass ihm die vermeintliche Kontrolle und Steuerungsfähigkeit der Szene im Freistaat entglitt. Die zunehmende Militanz der Thüringer Neonazis war unübersehbar, die Szene war bewaffnet, es fanden Wehrsportübungen statt. Bombenattrappen wurden verschickt, Jugendliche trainierten mit Sprengstoff und scharfen Waffen auf stillgelegten Übungsplätzen der Armee, der „Thüringer Heimatschutz“ (THS) koordinierte die Aktionen der versprengten Neonazi-Kameradschaften des Freistaats. In anonymen Schreiben drohten Rechte Ende 1996 ganz offen mit einem bewaffneten Kampf gegen den Staat.
Es fällt jedenfalls auf, dass vor allem das Bundesamt von 1997 an gleich mehrere Operationen im Freistaat startete, um Informanten zu rekrutieren. Da war zunächst die „Operation Rennsteig“, die dem Verfassungsschutz zwischen 1997 und 2003 gleich acht Quellen aus der Thüringer Neonaziszene in die Arme trieb. Zielpersonen von „Rennsteig“ waren insgesamt 35 namentlich aufgelistete Thüringer Neonazis – die Dienste wollten sie aufklären oder als Informanten werben. Darunter befanden sich auch die späteren mutmaßlichen NSU-Terroristen Mundlos und Böhnhardt sowie ihre Helfer Holger Gerlach und Ralf Wohlleben.
Bis zum Jahr 2003 lief „Rennsteig“. Das BfV warb spätestens ab 1999 acht Neonazi-Spitzel aus dem THS an. Ihre Decknamen begannen alle mit dem Buchstaben T: „Treppe“ wurde als erster rekrutiert, ihm folgten „Tobago“ und „Tonfall“, die immerhin bis 2001 Informationen lieferten. Auch zwei Jahre lang, ab 2000, spitzelte „Tonfarbe“; „Tusche“ hingegen blieb nur ein Jahr bei der Stange. Länger hielten es „Terrier“, „Tinte“ und „Trapid“ aus, von denen die beiden letztgenannten spätestens mit Ende der Rennsteig-Aktion 2003 vom BfV an den Thüringer Verfassungsschutz übergeben wurden.
Nach Abschluss von „Rennsteig“ im Jahr 2003 startete das BfV eine Nachfolgeoperation in Thüringen unter der Bezeichnung „Saphira“. Gemeinsam mit dem Erfurter Landesamt sprachen die Verfassungsschützer zwischen 2003 und 2005 rund 25 Neonazis an. In mindestens zwei Fällen war die Werbung erfolgreich. Einer der beiden V-Leute wurde nach 2005 an das Erfurter LfV übergeben. Details über diese V-Leute oder gar deren Identität sind bislang nicht bekannt. Geheim hält das BfV auch Details zur Operation „Treibgut“, die das Bundesamt im Jahr 2000 vorbereitet hatte. Parallel zu der damals bereits laufenden Operation „Rennsteig“ wollte man offenbar mit „Treibgut“ weitere Quellen in Thüringen anwerben. Dazu hatte Köln dem Erfurter LfV laut einem dort entstandenen Vermerk vom November 2000 eine „Liste von 123 potentiellen Zielpersonen für Werbungsmaßnahmen“ übersandt. Das Landesamt sei gebeten worden, die aufgelisteten Rechtsextremisten „auf operatives Eigeninteresse bzw. bereits durchgeführte Ansprachen zu prüfen“. Weitere „Treibgut“-Akten, etwa mit den Namen der Spitzelkandidaten und der angeworbenen Quellen, sind bis heute nicht aufgetaucht – und werden es wohl auch nicht mehr.
Parallel zum Netz der eher untergeordneten und Gelegenheits-Informanten baute der Verfassungsschutz aber auch gezielt eine Anzahl von in der Szene einflussreichen und bestens vernetzten Top-Quellen auf. Dabei nahm man in Kauf, dass diese Spitzel Straftaten begingen, um Vertrauen unter ihren Kameraden aufzubauen. Mit finanzieller und materieller Unterstützung des Geheimdienstes vernetzten die Topquellen zudem die Neonazi-Szene bundesweit und schürten deren Militanz und Gewaltbereitschaft.
Da ist zum Beispiel Tino Brandt aus Rudolstadt. Der vom Thüringer Landesamt zwischen 1994 und Anfang 2001 als V-Mann „Otto” bzw „Oskar” geführte Neonazi war der maßgebliche Gründungsvater der „Anti-Antifa” und des daraus hervorgegangenen Netzwerks „Thüringer Heimatschutz“ (THS). Seinem „Heimatschutz” hatten sich frühzeitig auch Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe mit ihrer „Kameradschaft Jena” angeschlossen. Insgesamt 120 gewaltbereite Neonazis rechnete der Verfassungsschutz damals dem THS zu. Der aus Bayern stammende Brandt koordinierte unter den Augen und mit dem Geld des Staates politische Aktionen der Neonazi-Kameradschaften und organisierte "Wehrsportübungen" mit z.T. scharfen Waffen für THS-Aktivisten. Fast drei Dutzend Ermittlungsverfahren gegen ihn, unter anderem wegen "Bildung einer kriminellen Vereinigung", wurden – nicht zuletzt auf Druck des Verfassungsschutzes – ergebnislos eingestellt. Auch der Fund eines umfangreichen Waffenarsenals 1997 in einer Gaststätte in Heilsberg nahe Saalfeld, die als logistisches Zentrum des THS galt, brachte Brandt nicht in Schwierigkeiten.
Ein weiterer Topspitzel mit Kontakten zum Trio war Thomas Richter, der als V-Mann „Corelli” von 1993 bis 2012 für das Bundesamt für Verfassungsschutz die rechte Szene unterwanderte. Richter alias „Corelli”, der Anfang April 2014 unter mysteriösen Umständen gestorben ist, gehörte zu den Top-Spitzeln des Dienstes in der Szene, was sich auch in seiner Bezahlung spiegelt: Insgesamt kassierte er 180.000 Euro. Amtsintern wurde er mit der höchsten Bewertungsstufe „B” geführt –das bedeutet, die Quelle war zuverlässig, ihre Informationen waren zutreffend, sie hatte Kontakte zu führenden Aktivisten und besaß eine absolute Vertrauensstellung in der Szene.
Der aus Halle/Saale stammende Richter war eines der wichtigsten Verbindungsglieder zwischen den militanten Neonazi-Strukturen in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Baden-Württemberg. „HJ Tommy”, wie ihn seine rechten Kameraden nannten, hatte engen Kontakt zum B&H-Netzwerk, das Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt mit Waffen und Geld unterstützte. „Corelli”, der zumindest Mundlos seit 1995 persönlich kannte, betreute auch die Internetpräsenz des rassistischen Fanzines „Der Weisse Wolf”, das im Jahr 2002 vom NSU eine Geldspende über 2.500 Euro erhielt. Außerdem zählte Richter 1998 zu den Mitbegründern eines deutschen "Ku-Klux-Klan"-Ablegers, dessen ehemalige Mitglieder 2007 im Umfeld des dem NSU zugeschriebenen Heilbronner Polizistenmordes auftauchen. 2005 übergab er dem BfV eine CD mit Fotos und Dokumenten, in deren Begleittext die Begriffe „Nationalsozialistischer Untergrund“ und „NSU“ auftauchen. Man habe das damals für Ironie gehalten und nicht weiter verfolgt, behauptet das BfV heute.
Noch eine Spitzen-Quelle aus dem NSU-Umfeld war Kai Dalek, der in den 1980er und 1990er Jahren Spitzel erst des Berliner und dann – ab 1987 – des bayerischen Landesamtes war. Dalek war eine der zentralen Figuren in der westdeutschen Neonaziszene. Während seiner V-Mann-Zeit gehörte er zu den maßgeblichen Aktivisten der von Michael Kühnen 1988 gegründeten „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front” (GdNF). Die GdNF war Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre die wichtigste und in der Szene einflussreichste nationalsozialistische Kaderorganisation. Die hierarchisch gegliederte Gruppe sah sich selbst in der Tradition der SA, sie orientierte sich nach Kühnens Worten am NSDAP-Parteiprogramm und strebte eine „nationalsozialistische Revolution in Deutschland” an. Nach dem Mauerfall intensivierte die „Neue Front” den Aufbau von Organisationsstrukturen in der ehemaligen DDR und das paramilitärische Training der Mitglieder.
Immer vorn dabei der Informant Kai Dalek, der innerhalb der GdNF nach Kühnens Tod 1991 zur Nummer Zwei aufstieg. Auch in Thüringen half Dalek dabei mit, die „Anti-Antifa” aufzubauen, deren Ziel die gewaltsame Verfolgung politischer Gegner war. Den engsten Kontakt aber hatte er dabei mit seinem V-Mann-Kollegen Tino Brandt, dem Anführer des „Thüringer Heimatschutzes”. Kai Dalek war darüber hinaus an der Erstellung der Publikation „Einblick” beteiligt, in der Linke und Antifaschisten mit Foto und Anschrift faktisch zum Abschuss freigegeben wurden. Außerdem betrieb der Computerexperte die Mailbox „Kraftwerk.BBS”, die dem bundesweiten Neonazi-Internetdienst Thule-Netz angeschlossen war und die unter anderem Fotos „linker“ Journalisten veröffentlichte. Der Verfassungsschutz subventionierte Daleks Computeraktivitäten, mit denen Überfälle auf Neonazi-Gegner initiiert werden sollten.
Und dann ist da noch Michael See, der heute Michael von Dolsperg heißt. Unter dem Decknamen „Tarif” hat er von 1995 bis mindestens 2001 mit dem BfV kooperiert und in dieser Zeit mindestens 66.000 D-Mark Spitzellohn kassiert. Faktisch unter den Augen des Verfassungsschutzes publizierte er jahrelang die rassistische Neonazi-Postille „Sonnenbanner“. Ein Exemplar dieses Blattes wurde auch in der 1998 ausgehobenen Bombenwerkstatt des Trios in Jena gefunden. In Artikeln des „Sonnenbanner“ wird unter anderem das – vom NSU später umgesetzte – Konzept autonomer Kämpferzellen propagiert, die im Untergrund das demokratische System mit Waffengewalt bekämpfen.
In einem von Von Dolsperg verfassten Text mit dem Titel „Das Ende oder Neuanfang“ heißt es: „Daher haben wir den Weg gewählt, der am Schwierigsten, am unbequemsten und am Steinigsten ist: Den Untergrund, die autonomen Zellen-Strukturen (…) Wir wollen die BRD nicht reformieren – wir wollen sie abschaffen.“
In einem Schreiben an das Bundeskriminalamt vom 13. Februar 2013 zitiert das BfV diese Passage und Ausschnitte weiterer Artikel aus dem vom V-Mann „Tarif“ verantworteten „Sonnenbanner“. Die Bewertung der Verfassungsschützer: „Bemerkenswert sind die ideologischen nationalsozialistisch motivierten Artikel im ‚Sonnenbanner’ zu den Themen Zellenprinzip, Agieren im Untergrund, konspirativem Verhalten und elitärem Selbstverständnis ... Die späteren Taten des NSU weisen zumindest keinen Widerspruch zu diesen zu o. g. Verhaltensmustern auf.“
Was das Bundesamt in seinem Bericht von 2013 verschwieg – Dolsperg alias VM „Tarif“ hat die rassistischen und mit offen nationalsozialistischen Inhalten gespickten Artikel des „Sonnenbanner“ nicht nur unter den Augen des Bundesamtes publiziert. Folgt man den Aussagen des Neonazis, dann haben seine Verbindungsführer vom BfV sogar regelmäßig diese Artikel vor Drucklegung redigiert. „Das BfV bekam alle Ausgaben (des ‚Sonnenbanner’) von mir vorab“, behauptet Dolsperg bis heute. Änderungswünsche vom Bundesamt habe es demnach bis auf eine Ausgabe, wo es um die Gestaltung des Titelblattes ging, nie gegeben. Bezahlt habe er die Produktion der Hefte zum Teil von seinen V-Mann-Honoraren. Die Spitzelakte von See, der 2001 nach Schweden verzog, wurde, unmittelbar nachdem die Bundesanwaltschaft die NSU-Ermittlungen eingeleitet hatte, im BfV geschreddert. Aus dem überlieferten Schriftverkehr der Behörde geht hervor, dass der damals verantwortliche Referatsleiter besonders auf die Vernichtung der „Tarif“-Akte drängte.
In die Reihe der vom Verfassungsschutz angeworbenen Neonazianführer passt auch Ralf Marschner, der seit Anfang der 1990er Jahre bis mindestens 2002 für das BfV unter dem Decknamen „Primus“ für monatlich 300 Euro arbeitete. Der Zwickauer Marschner – von seinen rechten Kameraden „Manole“ genannt – war ein sachsenweit bekannter, für seine Gewalttätigkeit berüchtigter Skinhead. In Zwickau betrieb er zwei Szene-Läden, Kneipen, ein Werbe-Studio und zwei Jahre lang eine Baufirma. In seiner Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft 2012 beteuerte der damals 40-Jährige, nie persönlich mit einer Person des NSU-Trios Umgang gehabt zu haben. Gleichwohl räumte er Kontakte zur sächsischen „Blood & Honour“-Sektion sowie zu André Eminger und dessen Frau Susann Eminger ein, die beide zum engsten Bekanntenkreis von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt zählten. Mit seiner RechtsRockband „WestSachsenGesocks – WSG“ veranstaltete er in einem einschlägig bekannten Gartenlokal in Zwickau regelmäßig Konzerte. Am Rande dieser Auftritte wurde auch das rechte Skinzine „Der Vollstrecker“ verteilt, an dessen Herstellung „Primus“ mitgewirkt haben soll. In einer Ausgabe des Skinzines soll auch ein von Mundlos verfasster Artikel veröffentlicht worden sein.
Nach Zeugenaussagen soll Marschner in den Jahren 2000 und 2001 zeitweise Mundlos in seiner Baufirma beschäftigt haben. Die Firma „Marschner Bauservice“ existierte nur kurze Zeit und war ein Sammelbecken von Neonazis aus Zwickau und Umgebung. Ungeklärt ist bis heute die Frage, ob das BfV Geld für die Gründung der Firma beigesteuert hat, um so mit „Primus“ Hilfe die rechte Szene der Region besser unterwandern zu können. Marschner, der heute in der Schweiz lebt, bestreitet, Kontakt zu Mundlos gehabt oder ihn sogar beschäftigt zu haben. Da das BfV bereits 2010 die „Primus“-Akte vernichtete, läst sich das jedoch nicht mehr nachprüfen.
Ein besonders entlarvendes Beispiel für die Zusammenarbeit des VS mit neonazistischen V-Leuten ist der Fall von Carsten Szczepanski, der nach dem Mordversuch an einem Afrikaner und einer Verurteilung zu einer achtjährigen Haftstrafe 1994 zum V-Mann „Piatto“ des Brandenburger LfV aufstieg. Im Jahr 2000 flog seine Spitzeltätigkeit auf. Der extrem gewalttätige, heute unter einer mit Steuergeldern finanzierten, neuen Identität lebende Neonazi habe – so fasste es ein Abteilungsleiter des LfV in einem Vermerk für seine Chefin Winfriede Schreiber zusammen – „als bundesweit einzige Informationsquelle weiterführende Hinweise auf den Verbleib dreier flüchtiger Neonazis aus Thüringen“ gegeben.
Der in Berlin-Neukölln geborene und nach der Wiedervereinigung nach Königs Wusterhausen umgesiedelte Szczepanski hatte Anfang der 1990er Jahre versucht, einen deutschen Ku-Klux-Klan-Ableger in Brandenburg zu etablieren. Bei der Durchsuchung einer seiner Wohnungen wurden Rohrbomben gefunden, was aber erstaunlich folgenlos blieb, vielleicht weil sich Szczepanski schon damals sehr auskunftsbereit gegenüber dem Bundeskriminalamt zeigte. 1992 führte er eine Neonazimeute an, die in einer Diskothek im brandenburgischen Wendisch-Rietz einen nigerianischen Lehrer und Asylbewerber überfiel und fast zu Tode prügelte. Noch in der Untersuchungshaft, im Juli 1994, ließ sich der Neonazi vom Potsdamer LfV anwerben, das die neue Quelle hegte und pflegte. 1999 bescheinigten die Verfassungsschützer vor Gericht ihrem „Piatto“ wider besseren Wissens eine positive Entwicklung und eine glaubhafte Abkehr von der rechten Szene, was ihm eine vorzeitige Haftentlassung einbrachte.
Tatsächlich hatte sich Szczepanski nie von seiner Gesinnung und seinen Kameraden losgesagt – was auch der Verfassungsschutz wusste. Holten doch die V-Mann-Führer ihn regelmäßig vom Knast ab, als „Piatto“ Anfang April 1998 Freigänger wurde und nur noch zum Schlafen in den Knast musste. Mit dem Dienstwagen karrten die Beamten ihren Zögling zu seinen Treffs mit Neonazis.
Auch seine Jobsuche verfolgten die Verfassungsschützer mit Wohlwollen. Szczepanski hatte schon als Freigänger ein Praktikum bei der Firma Probst im sächsischen Limbach absolviert, von der er schließlich auch einen Arbeitsvertrag erhielt. Die Brandenburger Richterin stimmte nicht zuletzt wegen dieses, auf eine scheinbar günstige Sozialprognose hinweisenden Anstellungsverhältnisses der vorzeitigen Haftentlassung Szczepanskis zu. Was ihr der Verfassungsschutz dabei verschwieg: Die Firma Probst gehörte der sächsischen „Blood & Honour“-Aktivistin Antje Probst und handelte mit NS-Devotionalien. In Chemnitz betrieb Antje Probst zusammen mit ihrem Ehemann Michael Probst zudem den einschlägigen Szeneladen „Sonnentanz“. Szczepanski hatte also mitnichten die Szene verlassen, sondern bestenfalls seine Wirkungsstätte gewechselt.
In Chemnitz tauchte „Piatto“ in das Unterstützerumfeld des Trios ein – auftragsgemäß? Seinen Brandenburger Führungsleuten jedenfalls berichtete er, dass Antje Probst bereit sei, ihren Pass Beate Zschäpe zur Verfügung zu stellen. Und dass der sächsische „Blood & Honour“-Chef, Jan Botho Werner, für das untergetauchte NSU-Trio Waffen beschaffen sollte.
Die Aufzählung der Top-Spitzel im Umfeld des Trios ist damit längst nicht vollständig. Dabei warnte das BKA schon 1997 den Verfassungsschutz in einem internen Positionspapier vor einem „Brandstifter-Effekt“: „Es besteht die Gefahr, dass Quellen sich gegenseitig zu größeren Aktionen anstacheln. Somit erscheint es fraglich, ob bestimmte Aktionen ohne die innovativen Aktivitäten dieser Quellen überhaupt in der späteren Form stattgefunden hätten!“
Die damit schon vor 20 Jahren aufgeworfene Frage, ob die staatlichen Einflussagenten die Radikalität der rechten Szene nicht eher noch fördern als dämpfen, ist durch den NSU auf brutale Art beantwortet worden. Sollte es die Strategie des Verfassungsschutzes gewesen sein, mit seinen Spitzenquellen in Schlüsselpositionen eine Steuerungs- und Kontrollfunktion in der Neonazi-Szene übernehmen zu wollen, ist dieser Plan gescheitert. Die NSU-Affäre zeigt vielmehr, dass der Geheimdienst aus Überschätzung seiner eigenen Möglichkeiten heraus ein mörderisches Biotop mitgeschaffen hat, das längst außer Kontrolle geraten ist.