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Deutsche Besserwisser oder antifaschistische Internationale?

Tove Kamps und Ralf Peterson, aktiv in der Antifa-AG der IL Berlin
Einleitung

Gedenkpolitik hat in weiten Teilen der radikalen Linken nicht gerade Konjunktur. Eigentlich wird nur, wenn wieder einer von der AfD mit kalkulierter Provokation von „Vogelschiss“ oder „Schande“ redet, reflex­­­­artig  die Bedeutung einer kritischen Erinnerung an die deutschen Verbrechen des 20. Jahrhunderts betont. Wie diese Erinnerung aktiv aufrecht erhalten, gelebt und weiter erkämpft werden kann, findet die radikale Linke im Allgemeinen weniger interessant. Damit geben wir vieles aus der Hand, was die Generationen vor uns, vor allem die Überlebenden der KZs, erkämpft haben. Wir unterschreiben auch eine Version der deutschen Erinnerungspolitik, in der primär der Staat bestimmt, an welchen Stellen Täter und Opfer benannt und erinnert werden sollen. Und wir machen es uns in einem Antifaschismus bequem, in dem schwierige Fragen nicht diskutiert werden – etwa  diejenige, wie Gedenkpolitik international funktionieren kann.

Bild: Screenshot der "Berliner Kurier"-Homepage

Der Boykott einer Kneipe in Berlin

So kam es, dass eine der wenigen wirklich erfolgreichen und pro-aktiven Auseinandersetzungen um eine gedenkpolitische Frage der letzten Jahre nahezu unbemerkt vonstatten ging: der Boykott gegen eine Kneipe, deren Betreiber auch Vorsitzender eines SS-Traditionsvereins war. Die Geschichte war zuerst in der taz Berlin veröffentlicht worden, die das Thema auch weiter verfolgte. Nach einigen Artikeln in linksliberalen Blättern, zumeist im Berliner Lokalteil, kehrte aber schnell wieder Ruhe ein und lediglich die konservative FAZ nahm das Thema auf und polemisierte gegen den Boykott. Ansonsten blieb die Auseinandersetzung lokal begrenzt – in Deutschland jedenfalls.

Außerhalb von Berlin bekamen viele, vor allem auch linke Gruppen, von der Geschichte nichts mit, und noch kürzlich lehnte eine bekannte linke, sich als internationalistisch verstehende Zeitung einen Artikel dazu als „von rein lokalem Interesse“ ab. Damit fehlten andere linke Stimmen als die des „Berliner Bündnis gegen Rechts“ (BBgR), ebenso wie eine Einordnung des Falles in die Kämpfe anderer gedenkpolitischer Initiativen.

Im Ausland sah das ganz anders aus: Wochenlang diskutierten vor allem finnische, aber auch schwedische und russische Medien die Frage, ob ein lokales „Bündnis gegen Rechts“ (BBgR) die Existenzgrundlage eines Bierbrauers aus Helsinki zerstören dürfe, indem es zum Boykott seiner Berliner Niederlassung aufruft. Besagter Brauer, Pekka Kääriäinen, war seit mehr als zehn Jahren Vorsitzender des Vereins „Veljesapu - Perrineyhdistys“ – „Brüderhilfe – Traditionsvereinigung“, ein Traditionsverein der finnischen Waffen-SS-Freiwilligen. Aus deutscher Sicht ein klarer Fall. „Kein Bier von, für und mit Nazi-Fans“ stand auf den Flyern, die im Viertel und vor der Kneipe verteilt wurden. Kurz danach wurde das Bündnis von Presseanfragen überrannt – vor allem in Finnland war das Interesse groß, was in Berlin erstmal so niemand hatte kommen sehen. Die folgende Auseinandersetzung war von bilateralen Missverständnissen und unterschiedlichen Zugängen zum Thema, auch unterschiedlichen Traditionen antifaschistischen Engagements geprägt, aus denen viel über den sehr deutschen Fokus der deutschen Linken zu lernen ist.

Die finnischen SS-Freiwilligen in der Division Wiking und ihre Verbrechen im 2. Weltkrieg

Vom finnischen Nationalarchiv war kurz vor dem Outing des Bierbrauers ein Report veröffentlicht worden, in dem die Beteiligung der Freiwilligen an den Verbrechen der Waffen-SS-Division Wiking und anderer Verbände, ihre Marschroute durch Osteuropa und ihre Mitverantwortung oder konkrete Taten der Erschießung von Zivilisten, Vorbereitung der Deportation der jüdischen Bevölkerung, massenweisen Hinrichtungen erstmals öffentlich benannt wurden.1 Sehr vorsichtig wurde auch die Möglichkeit einer antisemitischen Einstellung der Soldaten diskutiert. Dieser und andere Aspekte werden derzeit in Folgestudien vom Nationalarchiv aus weiterverfolgt. Der Report war vom „Simon-Wiesenthal-Zentrum“ angefragt worden.

Was aus deutscher Sicht wenig überraschend erscheint, stellte in Finnland einen Skandal sondergleichen dar. Finnland wurde nach dem Molotov-Ribbentrop-Pakt 1939 von der Sowjetunion überfallen und wehrte sich erfolgreich. Dies wird als „Winterkrieg“ bezeichnet, im Gegensatz zu der folgenden militärischen Koalition mit dem nationalsozialistischen Deutschland, die „Fortsetzungskrieg“ heißt und damit als eine Fortsetzung der Verteidigung gegen den Überfall durch die UdSSR dargestellt wird. Die mangelnde Unterstützung durch die skandinavischen Länder und die lange entwickelten militärischen, kulturellen und politischen Kontakte zum Deutschen Reich erklären teilweise die Parteinahme für das nationalsozialistische Deutschland. Kurz vor Ende des Krieges beendete der finnische Staat diese Koalition und vertrieb die verbliebenen deutschen Truppen. In diesem letzten, „Lapplandkrieg“ genannten Abschnitt der finnischen Geschichte im 2. Weltkrieg betrieben die Deutschen eine brutale Politik der verbrannten Erde und zerstörten die Lebensgrundlage weiter Teile der nordfinnischen Bevölkerung, sehr viele davon indigene Sámi.

Das Verhältnis zur Sowjetunion blieb auch nach 1945 prekär und große Teile der finnischen Öffentlichkeit einigten sich auf eine Sichtweise, die die Rolle des Landes im 2. Weltkrieg eher verharmloste. Als kleines Land, erst nach dem 1. Weltkrieg und einem blutigen Bürgerkrieg unabhängig geworden und zwischen den Großmächten eingeklemmt, pflegte man ein Selbstbild als einerseits wehrhaft, andererseits nahezu hilflos. Dazu gehörte auch ein Narrativ über die SS-Freiwilligen, das dem über die „saubere Wehrmacht“ in Deutschland entsprach: Die Soldaten seien aus unpolitischem Patriotismus der SS beigetreten, um ihr eigenes Land zu verteidigen, sie hätten von den Kriegsverbrechen und vom Holocaust entweder nichts mitbekommen oder seien davon abgestoßen gewesen, und überhaupt habe es in Finnland gar keinen Antisemitismus gegeben, da Juden ins Heer integriert waren und somit als vollwertige Gesellschaftsmitglieder anerkannt.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte dieses Narrativ, ähnlich wie in den baltischen Ländern, eine Renaissance, und die Rolle der finnischen Soldaten inner- und außerhalb der Landesgrenzen für die Verteidigung gegen die russische Aggression wurde lauter gefeiert, als das zuvor möglich erschien. Dass Russland in Finnland und auch in anderen Ländern des Ostseeraums aktuell wieder als eine andauernde militärische Bedrohung angesehen wird, gehört mit zur Erklärung, warum die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit so lange auf sich hat warten lassen.

In diesem gesellschaftlichen Umfeld kam der Report des Nationalarchivs wie ein Schock, dessen Wellen noch immer das Land durchschütteln – obgleich darin einige Aspekte nur sehr vorsichtig benannt werden, etwa die individuelle Schuld einzelner Freiwilliger oder deren politische Einstellung – tatsächlich sahen sich nur sehr wenige als überzeugte Nationalsozialisten, die meisten gaben eine Zugehörigkeit zur konservativen Partei an. Forscher*innen, die seit Jahren eine kritische Aufarbeitung der Verantwortung Finnlands und finnischer Soldaten fordern, kritisierten den Report entsprechend als unvollständig und zu vorsichtig in seinen Schlussfolgerungen – einiges dieser Kritik wird nun in einem Folgeprojekt am Nationalarchiv aufgenommen. Politiker und Militärrepräsentanten wiederum behaupteten, eine individuelle Schuld könne niemandem nachgewiesen werden und somit beweise der Report das bestehende Bild der SS-Freiwilligen als ahnungslose bystander.

Dieser Fokus auf individueller Schuld, im Gegensatz zu Verantwortungsübernahme der Verbrechen der gesamten Division, hat ein Vorbild und eine Parallele in der deutschen juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen – oder eher deren Ausbleiben, denn bei vielen der Täter*innen war eben diese individuelle Schuld nicht nachzuweisen. Bis heute ist nur ein winziger Bruchteil etwa der SS-Angehörigen überhaupt vor Gericht gestellt, geschweige denn verurteilt worden. 

Der Boykott: Skandal in Finnland, ignoriert in Deutschland

Vor diesem Hintergrund wurde die Aktion des BBgR gegen den Bierbrauer und SS-Traditionspfleger sehr schnell sehr explosiv – vor allem, da die Intervention als unzulässiger Eingriff in finnische Verhältnisse gesehen wurde. Wussten die Deutschen denn nicht, dass Finnland ein Opfer war im Krieg? Wollten ausgerechnet diejenigen, die ganz Europa das alles eingebrockt hatten, jetzt ankommen und Finnland etwas über Kollaboration und Mitschuld erzählen? Und überhaupt – wie kommen die deutschen Aktivist*innen darauf, dass der Sohn eines SS-Freiwilligen ein Unterstützer von Nazis sein könnte?

Auf lokaler Ebene fiel die Argumentation nicht schwer. Pekka Kääriäinen war nicht nur Vorsitzender eines SS-Traditionsvereins, der zwar weniger als ähnliche Clubs in Deutschland und Österreich als Kristallisationspunkt revisionistischer Politik und Ausbildung von Neonazi-Nachwuchs fungiert, aber an internationalen Treffen etwa auf dem Ulrichsberg teilnahm. Diese Treffen im österreichischen Kärnten dienen seit 1958 für internationale Veteranenverbände als Ort, an dem die eigenen Verbrechen im 2. Weltkrieg als heldenhaft gefeiert und damit auch kommende Generationen in diese Art der NS-Verherrlichung eingebunden werden. Es scheint sehr unwahrscheinlich, dass die finnischen Teilnehmer nichts vom eindeutig politischen Charakter dieser und anderer Veteranentreffen mitbekommen haben sollen – wenn auch die Veteranenarbeit in Finnland selbst deutlich weniger politisch war. Veljesapu und auch Kääriäinen persönlich trugen zudem offen und unkritisch Symbole, Waffen, Uniformen und Insignien der Waffen-SS auf Internetseiten, in Interviews und überall zur Schau – in Finnland natürlich nicht kriminalisiert, aus deutscher Sicht aber eindeutig Verharmlosung und Verherrlichung von NS-Verbrechen. Insofern war Käriääinen zwar nicht selbst für die Taten der SS-Freiwilligen verantwortlich, und ausgerechnet sein Vater, der 17jährig in die Organisation eingetreten war, hatte in seinen Tagebüchern Abscheu über die Verbrechen geäußert, aber die „Veljesapu“ an sich pflegte eindeutig ein unkritisches Verhältnis zur NS-Vergangenheit.

Schwieriger war die Frage, inwieweit Aktivist*innen aus Berlin auf die Debatte in Finnland einwirken sollten und wollten – "deutsche Gutmenschen", die die Rolle als „Weltmeister der Erinnerungspolitik“ willig angenommen haben und jetzt ein kleines Land im Norden damit beglücken wollen? Dies war der Vorwurf, der sowohl aus deutschen Medien, aus dem Prenzlauer Berg und aus Finnland kam. Und der auch immer wieder Aktivist*innen des VVN-BdA trifft. Wenn sich diese  gegen Aufmärsche baltischer oder bulgarischer SS-Veteranen wenden, reagieren die dortige Öffentlichkeit und die Medien mit Unverständnis und betrachten dies als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Als sich 2016 in Riga eine Delegation des VVN - BdA an den Protesten gegen den sogenannten „Ehrenmarsch“ von SS-Veteranen beteiligen wollte, reagierte die lettische Regierung prompt: Die Delegation wurde des Landes verwiesen und über die Grenze abgeschoben. 

Ein großer Teil des internationalen Unverständnisses beruhte auf der Tatsache, dass es in Nordeuropa keine Tradition von lokalem geschichtspolitischem Aktivismus gibt, der mit dem in Deutschland oder auch Italien vergleichbar wäre – dass sich Aktivist*innen das Recht herausnehmen, ohne institutionelle Unterstützung Forderungen aufzustellen, die auf ihrer Interpretation der Geschichte beruhen.

Um eine lange Geschichte abzukürzen – der Boykottaufruf war außerordentlich erfolgreich. Zuerst entfernte Veljesapu alle SS-Runen und andere NS-Symbole von seiner Webseite. Dann trat Kääriäinen als Vorsitzender zurück. Dann gab er auch noch die Geschäftsführung der Berliner Kneipe auf. Zuletzt, im September 2019, machte die Kneipe in Berlin ganz zu. Im Resultat also genau das, was gefordert wurde: kein Bier von Nazi-Fans. Dennoch bleibt ein Nachgeschmack.

Kääriäinen entfernt, Debatte beendet?

Dass es weder in Finnland noch im Prenzlauer Berg unumstritten ist, antifaschistische Politik anhand einer konkreten Person konsequent einzufordern, zeigte sich bei einer Diskussionsveranstaltung im Kiez. Dort war es schwierig, alle Anwesenden davon zu überzeugen, dass es nicht primär darum ging, Kääriäinen die Existenzgrundlage zu entziehen, und dass auch keine moralische Beurteilung seiner Person geplant war. Dennoch fiel es offensichtlich vielen schwer einzusehen, dass jemand, der persönlich und bewusst jahrelang als Vorsitzender eines Vereins fungiert, der revisionistisch und apologetisch mit NS-Tätern umgeht, der zudem selbst mit SS-Devotionalien posiert und der bewusst kritische Forschung zum Thema diffamiert und dabei auch zu persönlichen Angriffen neigt – dass so jemand nicht in seinem Herzen ein Nazi, Antisemit oder was auch immer sein muss, um konsequentes antifaschistisches Handeln zu provozieren. Dabei spielte auch eine Rolle, dass einige der Anwesenden vorher mit Kääriäinen persönlich gesprochen hatten und dieser sich sehr erfolgreich als ein naiver, nichts Böses im Sinne habender Geschäftsmann präsentierte, der einfach die deutschen Empfindlichkeiten mit dem NS unterschätzt hatte – in finnischen Medien dagegen gab er sich deutlich kämpferischer.

Der Holocaust und der 2. Weltkrieg waren deutsche Erfindungen. Dennoch wissen wir mittlerweile um das Ausmaß der Kollaboration mit den Deutschen, der Sympathien für den Nationalsozialismus und den verbreiteten Antisemitismus in nahezu allen europäischen Ländern. Anhand des finnischen SS-Traditionsvereins und seines Vorsitzenden hätte viel deutlicher werden müssen, dass es nicht um ihn als Person und schon gar nicht um ihn als Finnen ging, sondern um einen internationalen Aspekt von NS-Verherrlichung.

Der Konflikt verlief damit nicht zwischen Deutschen und Finnen, sondern zwischen denjenigen, die in der Erinnerung an den 2. Weltkrieg nicht die Sicht der Täter und deren Apologie annehmen wollen, und denjenigen, denen eine „saubere“ Sicht auf die eigene Familie, die eigenen Vorfahren und das eigene Land wichtiger sind als eine konsequente Aufarbeitung von Schuld und Kollaboration. Dass in diesem andauernden Konflikt „Deutschland“ bei weitem nicht als homogenes Kollektiv funktioniert, zeigen die vielen gedenkpolitischen Forderungen und Auseinandersetzungen, die kein so vergleichsweise einfaches Ziel hatten und die nicht erfolgreich waren.

Deutschland zahlt noch immer Renten an Waffen-SS-Freiwillige im Ausland, viele Opfer und Opfergruppen sind noch nicht oder nur sehr unzureichend entschädigt worden, unzählige Täter*innen wurden nie strafrechtlich verfolgt. In Berlin und anderswo wäre es wichtig gewesen, anstelle von nationalen Kollektiven und deutsch-­finnischen Konflikten ausgehend von einer antifaschistischen Internationale zu argumentieren – dafür hätte es aber aus beiden Ländern mehr Interesse und Unterstützung für die Position der Berliner Aktivist*innen gebraucht.

Während in Finnland die Intervention an sich als skandalös oder immerhin merkwürdig empfunden wurde, weil es dort keine solche Tradition von intervenierendem Aktivismus gibt, wurde in Deutschland das Ganze als eine rein Berliner Lokalangelegenheit abgetan. Vielleicht spielte auch doch eine gewisse Arroganz eine Rolle – irgendwie sind wir ja vielleicht doch weiter und besser in Sachen Erinnerungspolitik als Leute in einem Land, in dem es ein Skandal ist zu behaupten, dass SS-Angehörige vielleicht Kriegsverbrechen begangen habe?

Damit wurde verhindert, die eigentlich wichtigen Fragen breiter zu diskutieren – und auch deutlich zu machen, dass konsequenter Antifaschismus in gedenkpolitischen Fragen eng mit den aktuellen Kämpfen gegen die AfD und andere revisionistische Kräfte zusammenhängt. Eine Zusammenarbeit von Antifaschist*innen in Europa auch auf gedenkpolitischer Ebene scheint dringend angeraten. Vor einiger Zeit hat sich in Berlin eine Gruppe der italienischen Partisanenorganisation ANPI gegründet, die sich sowohl an den aktuellen antifaschistischen Aktivitäten beteiligt, als auch gemeinsam mit anderen Gruppen gedenkpolitische Veranstaltungen durchführt. Die Auseinandersetzung um ein antifaschistisches Geschichtsbild muss immer wieder aktiv geführt werden, in Berlin, in Deutschland und anderswo.