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Die mit dem schwarzen Winkel

Wolfgang Ayaß
Einleitung

Aktion »Arbeitsscheu Reich«

1938 eröffneten die Nationalsozialisten ihren Feldzug gegen soziale Außenseiter, die im Laufe des Jahres zu Tausenden in Konzentrationslager verschleppt wurden. »F. ist ein arbeitsscheuer Mensch. Er zieht planlos im Land umher und lebt vom Betteln. Einer geregelten Arbeit ist er bisher noch nie nachgegangen. Die Allgemeinheit muss vor ihm geschützt werden.« So lautete die vollständige Begründung der Kriminalpolizeistelle Kassel im Haftbefehl gegen einen 27-jährigen Bettler im Juni 1938. Die vier knappen Sätze waren ein Todesurteil. F. starb drei Jahre später im Konzentrationslager Gusen, einem Nebenlager von Mauthausen.

Foto: United States Holocaust Museum Washington

Schautafel: „Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konzentrationslagern“; Lehrmaterial für SS-Wachmannschaften.

Der Bettler war kein Einzelfall. Mit ihm wurden im Jahr 1938 über 10.000 so genannte »Asoziale« verhaftet und in die Konzentrationslager verschleppt. Die Einlieferung dieser – zunächst nur männlichen – »Asozialen« verdoppelte damals die Zahl der KZ-Häftlinge. Sie wurden in großen Schüben innerhalb weniger Wochen eingeliefert und bildeten in den Konzentrationslagern eine neue Häftlingsgruppe. Die Lager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen stießen dadurch an ihre Kapazitätsgrenzen, und die Zustände innerhalb der Lager verschlechterten sich dramatisch.

Trotz aller Unterschiede: »arbeitsscheu«

Für einige Monate waren die »Asozialen« die mit Abstand größte Häftlingskategorie der Konzentrationslager, die politischen Häftlinge gerieten in die Minderheit. Es handelte sich hauptsächlich um Bettler, Landstreicher und mittellose Alkoholkranke, in geringerer Zahl auch um Zuhälter und Personen, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren. Unter den Eingelieferten befanden sich außerdem viele Roma und Sinti (»Zigeuner«). Gemeinsam war diesen sehr unterschiedlichen Menschen allenfalls, dass ihre Verfolger sie als arbeitsscheu definierten.

Der Einfluss der mit schwarzen Winkeln gekennzeichneten »Asozialen« auf das Lagerleben blieb trotz ihrer zahlenmäßigen Bedeutung gering. Wichtige Funktionsposten besetzten sie nur in Einzelfällen. Sie konnten weder auf die Unterstützung anderer Häftlingsgruppen rechnen noch schützende Organisationsformen untereinander entwickeln. Insbesondere die »Politischen« beschrieben sie nach dem Krieg in ihren Erinnerungen als unzuverlässig und unsolidarisch, allen voran Eugen Kogon, der sie in seinem Buch »Der SS-Staat« bereits 1946 als »vom Häftlingsstandpunkt unerwünscht« bezeichnete. Gegen Bettler und Landstreicher hatte das Reichspropagandaministerium bereits im September 1933 eine spektakuläre, von einer intensiven Pressekampagne begleiteten einwöchige Razzia inszeniert.

Die von SA und SS unterstützte Polizei durchkämmte Nachtasyle, Herbergen, bekannte Treffpunkte und internierte in der bis dahin wohl größten Verhaftungswelle der deutschen Geschichte mehrere zehntausend Wohnungslose. Dies fand allerdings noch unter Berufung auf das aus der Weimarer Republik übernommene Strafgesetzbuch statt, die entsprechenden Paragrafen galten seit dem Kaiserreich. Danach konnten Betroffene wegen Bettelei beziehungsweise Landstreicherei mit Haft bis zu sechs Wochen bestraft werden. Weil die bestehenden Gefängnisse nicht ausreichten, richtete man zeitweise auch spezielle Bettlerhaftlager ein. Über ein solches Lager bei Meseritz veröffentlichte die Tagespresse sogar Fotos unter der Überschrift »Das erste Konzentrationslager für Bettler«.

Maßregeln der Sicherung und Besserung

Während der größte Teil der Verhafteten nach ein paar Wochen wieder freigelassen wurde, wurden mehrere Tausend nach Verbüßen der vergleichsweise kurzen Gefängnisstrafe für bis zu zwei Jahre in die bestehenden Arbeitshäuser eingewiesen. Auch dies erfolgte noch auf Grundlage des übernommenen Strafrechts. Standen die Arbeitshäuser, die nichts anderes als Spezialgefängnisse für Bettler und Landstreicher waren, in der Weimarer Republik noch halb leer, füllten sie sich nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten so sprunghaft, dass in Bayern Arbeitshausgefangene auch im Konzentrationslager Dachau untergebracht wurden. Ab 1934 konnten gemäß den neu ins Strafgesetzbuch eingeführten »Maßregeln der Sicherung und Besserung« alle wiederholt in ein Arbeitshaus eingewiesenen Menschen unbefristet, also unter Umständen lebenslänglich, in solchen Anstalten gefangen gehalten werden.

Ab 1938 schließlich wurden unter Ausschaltung der Strafgerichte Wohnungslose und andere Marginalisierte in großer Zahl direkt in die Konzentrationslager verschleppt. Zuständig hierfür war die gewöhnliche Kriminalpolizei – deren Tätigkeit in der NS-Zeit im übrigen erst recht spät ins Blickfeld der Forschung geriet. Unter Regie der Kripo wurden ab Juni 1938 soziale Außenseiter in Vorbeugungshaft genommen und in die Konzentrationslager eingewiesen. Der großen »Juniaktion« der Kriminalpolizei war im Frühjahr eine kleinere Verhaftungswelle der Gestapo vorausgegangen. Beides wurde unter dem Begriff Aktion »Arbeitsscheu Reich« gehandelt.

Unter den Verhafteten befand sich auch ein 38-jähriger Wohnungsloser, der direkt aus einer Fürsorgeeinrichtung heraus verschleppt wurde: »M. hat ausweislich seines Arbeitsbuchs seit zwei Jahren keine Arbeit mehr gehabt. Er wurde hier bei der Überholung der Herberge Zur Heimat festgenommen, da er erwerbslos ist und von Ort zu Ort zieht.« Derselbe Mann war bereits im September 1933 bei den erwähnten großen Bettlerrazzien verhaftet worden, damals aber noch mit einer Woche Haft davongekommen.

Die öffentliche und private Fürsorge hatte sich in der NS-Zeit grundlegend gewandelt. Immer mehr ging von Fürsorgeinstitutionen nicht mehr Schutz, sondern Bedrohung für Hilfesuchende aus. Erstaunlich schnell und routiniert meldeten die kommunalen Fürsorgestellen »Asoziale« der Kriminalpolizei, der weitere Maßnahmen oblagen. Wohlfahrtsämter drängten die Kripo-Stellen geradezu, lästig erscheinende Menschen ins KZ abzuschieben. Bald entledigte man sich der missliebigen Klienten nur mit Hilfe von Formularen, ohne besondere Geheimhaltung und ohne Unrechtsbewusstsein. In den Verwaltungsrichtlinien der Stadtverwaltungen erschien »Vorbeugungshaft« nun als eine weitere Unterbringungsart, neben den bislang gängigen Möglichkeiten wie Arbeitshausunterbringung oder Anstaltseinweisung nach Entmündigung. Der enorme Abschreckungseffekt, die einfache, schnelle Durchführung und nicht zuletzt die – im Unterschied zur Arbeitshauseinweisung – kostenfreie KZ-Unterbringung faszinierte die beteiligten Kommunalbeamten.

Nach der großen Aktion »Arbeitsscheu Reich« vom Sommer 1938 kam es zu keinen weiteren reichsweiten Razzien gegen »Asoziale«. Doch lieferte die Kriminalpolizei im gewöhnlichen Geschäftsgang weiterhin Männer und zunehmend auch Frauen als »Asoziale« in die Konzentrationslager ein. Während bei Männern das Arbeitsverhalten betreffende Vorwürfe im Mittelpunkt standen, wurde gegenüber Frauen in der Regel Fehlverhalten im Sexualleben ins Feld geführt.

Für »Asoziale« grundsätzlich keine Entschädigung

In den Haftbegründungen der Kriminalpolizei gegen »Asoziale« schlägt sich eine eigentümliche, widersprüchliche Mischung aus polizeilichem Vokabular (»wird immer wieder straffällig«) und fürsorgerischen Begrifflichkeiten (»treibt sich herum«) nieder, es mischen sich rassenhygienische Versatzstücke (»stammt aus einer kriminell belasteten Familie«) mit Exklusionsbeschlüssen (»hat keinen Platz in der Volksgemeinschaft«), die bisweilen in kaum verhüllten Tötungsaufforderungen gipfeln (»seine Rückkehr ist nicht erwünscht«).

Kleinkriminalitätsvorwürfen wiederum wird begegnet mit autoritärem Erziehungsabsichten (»soll sich im Lager bessern«). Oft gingen den Beschlüssen für Vorbeugungshaft vielfältige andere strafrechtliche und fürsorgerische Maßnahmen voraus. Vorbeugungshaft stellte aus Sicht der Kriminalpolizei und Stadtverwaltungen die Ultima Ratio dar, wenn alle Maßnahmen der Fürsorgeämter, alle »Arbeitszuweisungen« der Arbeitsverwaltung und alle »Ermahnungen« der Kriminalpolizei gegen die sozial Unangepassten nichts fruchteten. Oft genug griff letztere auf Informationen städtischer Dienststellen zurück.

Bis 1945 sind etwa 5.000 Frauen als »Asoziale« in Konzentrationslager eingewiesen worden. Die Zahl der männlichen »Asozialen« war insgesamt sehr viel größer, allein bei der Aktion »Arbeitsscheu Reich« im Sommer 1938 sind mehr als doppelt so viele Männer verhaftet worden. Wiedergutmachung haben die Häftlinge mit dem »Schwarzen Winkel«, falls sie überhaupt überlebten, nicht erhalten. Wer mit der Begründung »asozial« in ein KZ kam, konnte grundsätzlich keine Entschädigung im Rahmen der Wiedergutmachung erhalten. Erst als es für die meisten schon zu spät war, führten einige Bundesländer Härtefallregelungen ein. Auch in der DDR wollte man die »Asozialen« nicht zu den »Opfern des Faschismus« rechnen. Die Einlieferung von »Asozialen und Kriminellen« habe ohnehin nur den Sinn gehabt, die politischen Häftlinge zusätzlich zu demütigen, so bis zuletzt die wenig plausible Begründung.

Die West-Forschung der sechziger und siebziger Jahre hat die Verschleppung von »Asozialen« in die Konzentrationslager mit Arbeitskräftebeschaffung für die Lager im Zuge der Kriegsvorbereitungen erklärt. In den einschlägigen Erlassen war der Aspekt des Arbeitskräftemangels wiederholt thematisiert worden. Doch die entkräfteten Bettler und Alkoholiker dürften in den Lagern kaum noch nennenswerte Arbeitsleistung geliefert haben. Die hohe Sterblichkeit dieser Häftlingskategorie spricht hier für sich.

Letztlich ging es um mehr als um die Rekrutierung einiger tausend Arbeitskräfte. Der Kampf der Nationalsozialisten gegen die von ihnen als »asozial« gebrandmarkten Menschen war Teil einer umfassenden Rassenpolitik des NS-Staats, in dem der Einzelne nur in seinem Wert oder Unwert für den »Volkskörper« betrachtet wurde. »Asoziale« und – wie man auch sagte – »Gemeinschaftsfremde« zählten nicht zur »Volksgemeinschaft«. Die staatlichen Maßnahmen gegen soziale Außenseiter beinhalteten nicht wie noch in der Zeit davor notdürftige Versorgung und möglicherweise auch Schikane und Disziplinierung der – in modernen Gesellschaften immer vorhandenen – unangepasst lebenden Menschen. Ziel war vielmehr die endgültige Beseitigung abweichenden Verhaltens.

»Asozialität« galt als vererbbar und manifestiere sich, so die Vorstellung, ausschließlich in fest umrissenen »Erbkreisen« sogenannter »asozialer Sippen«, die sich aufspüren und »ausmerzen« ließen. Die Vernichtung der ermittelten Träger »minderwertigen Erbguts« war im rassenhygienischen Denken identisch mit der endgültigen Ausrottung unerwünschten Verhaltens aus der Gesellschaft. Der sozialutopische Kern dieser Vorstellungen konnte auch Praktiker vor Ort begeistern. An die Stelle der jahrhundertealten Tradition der Vertreibung von Bedürftigen traten Erfassung und Vernichtung. Dies hatte es gegenüber sozialen Außenseitern in dieser Brutalität zuvor noch nie gegeben.

Nachdruck aus der Wochenzeitung FREITAG 7 / 2008 vom 15. 02. 2008

Wolfgang Ayaß ist Sozialarbeiter und Historiker und lehrt an der Universität Kassel. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema »Asoziale« im Nationalsozialismus und einen Quellenband zur Verfolgung von »Gemeinschaftsfremden« herausgegeben.