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Die Zukunft des Gedenkens

Einschätzungen von Eckart Schärle / Erik Plummer (Projektgruppe Erfurt im Nationalsozialismus) und Lars Freitag (Phase 2 - Zeitschrift gegen die Realität)
Einleitung

Am 10. Mai wird in Berlin das Holocaustmahnmal eingeweiht werden. Die Feierlichkeiten werden den Höhepunkt des »Supergedenkjahres« 2005 darstellen. Der 60. Jahrestag des Kriegsendes bedeutet zweifellos eine Zäsur. Doch welche Rolle wird die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland künftig spielen? Wie und mit welchen Argumenten sollen sich »Linke« und »Antifaschistinnen« künftig in diesem Feld positionieren?

Seine Rede zum 60. Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 1998 beendete Ignatz Bubis mit den Worten: »Wir sind es den Opfern der Shoah schuldig, ihrer nicht zu vergessen! Wer diese Opfer vergisst, tötet sie noch einmal!«. Das Gedenken an die Opfer der Shoah als einzelne und einzigartige Menschen entreißt sie der Anonymität, in die sie durch Entrechtung, Enteignung und Ermordung gedrängt worden sind. In dieser Erinnerungsfunktion ist das Gedenken ein Wert an sich und geht nicht in abstrakter Erinnerungspolitik auf. Das konkrete Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus sollte im Mittelpunkt des Erinnerns an den Nationalsozialismus stehen und ist gegen jeden relativierenden deutschen Opferdiskurs zu verteidigen.

Zum 50. Jahrestag der Befreiung 1995 befürchteten viele in der Linken eine Entsorgung der nationalsozialistischen Vergangenheit durch Gesellschaft und Politik. Mit einem letzten großen Gedenk- und Erinnerungsrummel, so die Vermutung, sollte der vielpropagierte Schlussstrich endlich gezogen werden. Die Entwicklung verlief jedoch anders: In der Folgezeit war ein wachsendes Interesse an Themen des Nationalsozialismus zu beobachten. Auf staatlicher Ebene wird die Shoah als zentraler Bestandteil deutscher Geschichte anerkannt und bildet eine wichtige Grundlage der Rechtfertigung heutigen politischen Handelns. Die Gefahr der Instrumentalisierung ist durch Fischers Begründung des deutschen Militäreinsatzes im Kosovo mit Auschwitz offensichtlich geworden.

Obwohl das Thema Nationalsozialismus eine große Präsenz aufweist, sieht es bei dem konkreten Wissen über Funktionsweise und Bedingungen, aber auch über den konkreten Alltag der nationalsozialistischen Herrschaft eher dürftig aus. Die irrige Annahme, man wisse doch schon alles, ist leider auch bei der Linken verbreitet. Stattdessen lässt sich beobachten, dass eine Personalisierung des Nationalsozialismus auf Hitler bzw. eine undifferenzierte Einteilung in »die Juden«, »die Nazis« und »die Deutschen« wieder an Einfluss gewinnt. Die Beschränkung der Beschäftigung mit dem NS auf eine abstrakte und vermeintlich ideologiekritische Ebene sowie einen (antideutschen) Verbalradikalismus antizipiert eine ähnlich schlichte Einteilung der sozialen Wirklichkeit unter umgekehrten Vorzeichen und erscheint vor diesem Hintergrund problematisch und hilflos.

Die Linke sollte sich stattdessen herausgefordert fühlen, dem zunehmenden deutschen Opferdiskurs etwas entgegen zu setzen. Eine Möglichkeit besteht schlicht in der unspektakulären Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit vor Ort. Eine solche Praxis geht von dem Leid der Opfer aus und sollte an diese Menschen erinnern. Zugleich gilt es mit einer differenzierenden Herangehensweise, ideologische und gesellschaftliche Bedingungen zu analysieren und die Akteure der NS-Tätergesellschaft in allen Bereichen in den Blick zu nehmen, um festgefügte Kategorisierungen wie »Deutsche« und »Juden« aufzubrechen.

Langfristig muss auch die Linke die (anti)deutsche Nabelschau aufgeben und sich einer Auseinandersetzung mit der zunehmenden Europäisierung des Erinnerns stellen. Der Wunsch nach der Herausbildung einer europäischen Erinnerungskultur ist keineswegs auf Deutschland beschränkt, wie die Einladung Köhlers zum Jahrestag des Warschauer Aufstands durch das polnische Parlament und der Einbindung Schröders in die D-Day-Feierlichkeiten gezeigt haben. Eine Analyse, die jede Form von Europäisierung oder Diskussionen jenseits des deutschen Kontextes unter Generalverdacht stellt, verkennt diese Entwicklung. Nur eine dezentrale, basisorientierte Erinnerungspraxis, die den europäischen Rahmen mit einbezieht, kann den deutschen Opferdiskursen oder verharmlosender Gleichmacherei, wie sie in der Diskussion um einen Zentrum gegen Vertreibung anklingt, wirkungsvoll entgegentreten.

Eckart Schörle und Erik Plummer sind Mitglieder der Projektgruppe »Erfurt Im Nationalsozialismus«