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EU-Abschottungspolitik am Mittelmeer

Christian Jakob
Einleitung

Die „Nadir“ war erst drei Tage im Rettungseinsatz, als sie Mitte Juni 2021 im Mittelmeer 86 Schiffbrüchige entdeckte. Weil das von dem deutschen Verein „Resqship“ betriebene Segelschiff die Menschen nicht alle selbst aufnehmen konnte, verteilte die Besatzung an die Hälfte von ihnen Rettungswesten, sie mussten jedoch in ihrem manövrierunfähigen Holzboot bleiben. Weil sie in maltesischen Gewässern trieben, bat „Resqship“ die Behörden Maltas um Unterstützung. Die aber informierten wiederum nur die libysche Küstenwache, die ein Schiff schickte. Als die Migrant*innen sich weigerten, zurück nach Libyen gebracht zu werden, fuhr das Schiff wieder ab. Die Menschen blieben erstmal auf dem Meer.

Foto: flickr.com; Brainbitch; CC BY-NC 2.0

Einsatz der Seawatch 2

Nur drei Tage zuvor hatte “Ärzte ohne Grenzen“ mit seinem Schiff „Geo Barents“ einen Hafen für 410 aus Seenot gerettete Migrant*innen gesucht – und tagelang keinen gefunden. Die Menschen hätten „erschütternde Reisen hinter sich und seien erschöpft“, schrieb die Organisation auf Twitter.

Der „Sea-Eye 4“ des gleichnamigen deutschen Vereins hatten die italienischen Behörden zwar in der Vorwoche erlaubt, mit 408 Geretteten in einen sizilianischen Hafen einzufahren. Dort aber wurde das Rettungsschiff an die Kette gelegt – unter Verweis auf „technische Gründe“.

In den folgenden Tagen gab es gleich mehrere Unglücke im zentralen Mittelmeer, sodass die Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge und Migrant*innen in der Region von Januar 2021 bis Mitte Juni 2021 auf 813 anschwoll. Das waren mehr als doppelt so viele Tote wie im Vorjahreszeitraum. Die EU setzt vor allem auf die libysche Küstenwache, die von Januar 2021 bis Juni 2021 insgesamt 10.500 Menschen auf dem Meer eingefangen und zurück nach Libyen gebracht hat, wo sie auf unbestimmte Zeit interniert wurden.

EU-Parlamentspräsident David Sassoli forderte eine europäische Mission zur Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. „Es ist nicht länger hinnehmbar, diese Verantwortung allein den NGOs zu überlassen.“ Resonanz fand der Vorschlag nicht. Stattdessen verließ am 12. Juni 2021 das deutsche U-Boot „U 35“ seinen Heimathafen Eckernförde um an der EU-Operation „Irini“ teilzunehmen. Es herrsche „innerhalb der Besatzung eine große Vorfreude auf den anstehenden Einsatz“, verkündete die Bundeswehr. Die Operation „Irini“ soll das Waffenembargo gegen Libyen überwachen, aber auch die „Schleuseraktivitäten“ auf den Flüchtlingsrouten im Mittelmeer stören.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex rüstete derweil auf. Im Juni schickte Airbus die erste reguläre Frontex-Aufklärungsdrohne vom Typ Heron1 in die Luft. Der Publizist Matthias Monroy rechnete damit, dass schon bald auch der britische Konzern Thales für Frontex in Griechenland eine Drohne des Typs Hermes 900 einsetzen könnte. In der zweiten Junihälfte endete auch eine öffentliche Ausschreibung zur Beschaffung von insgesamt 2.500 halbautomatischen Pistolen und 3,6 Millionen Schuss Munition, Holstern und Trainings für die neue Frontex-Grenztruppe.

Das war selbst dem ehemaligen Frontex-Interims-Chef Gil Arias nicht geheuer .Der sagte dem britischen „Guardian“, er sei „tief besorgt“ über die Entscheidung, Beamte zu bewaffnen, und ihre „Unfähigkeit, das Eindringen der Rechtsextremen in ihre Reihen zu stoppen“.

Aktiv gegen Frontex wurde derweil ein NGO-Bündnis, das die Agentur im Namen von zwei Asylbewerber*innen beim Europäischen Gerichtshof verklagt. Die Betroffenen, eine Frau aus Burundi und ein unbegleiteter Minderjähriger, seien auf der griechischen Insel Lesbos „gewaltsam zusammengetrieben, angegriffen, ausgeraubt, (...) kollektiv ausgewiesen und schließlich auf Flößen ohne Wasser, Nahrung oder Navigationsmöglichkeit auf dem Meer ausgesetzt worden“, hieß es in einer Erklärung von Front-Lex. Die Betroffenen seien bei ihrem Versuch, Asyl in der EU zu beantragen, Opfer weiterer sogenannter Pushbacks geworden, teilten die Organisationen Front-Lex, das Progress Lawyers Network sowie die griechische Gruppe der Menschenrechtsorganisation Helsinki Monitor mit. Die Tätigkeit von Frontex vor der griechischen Küste stelle „einen eklatanten Verstoß gegen die EU-Grundrechtecharta, den Vertrag über die Arbeitsweise der EU und die Frontex-Bestimmungen“ dar.

Aber nicht alle gewaltsamen Zurückweisungen an der EU-Außengrenze gehen auf das Konto von Frontex. Vom 17. bis 19. Mai 2021 hatte die marokkanische Armee vorübergehend darauf verzichtet, den Grenzzaun zur spanischen Exklave Melilla zu bewachen. Daraufhin kamen rund 8.000 Menschen in 48 Stunden nach Ceuta – so viele wie noch nie in so kurzer Zeit. Viele von ihnen schwammen, ein junger Marokkaner ertrank dabei. In nur einer Woche brachten die spanischen Grenzschützer rund 7.000 der Angekommenen zurück auf die marokkanische Seite der Grenze. Eine Asylprüfung gab es für sie zuvor selbstredend nicht. Nur einige Minderjährige wurden nicht sofort wieder abgeschoben.

Das Europaparlament forderte den baldigen Abschluss eines Abschiebeabkommens der EU mit Marokko. Das Land solle sein „Engagement für mehr Zusammenarbeit im Bereich Migration und Grenzsicherung einhalten“. Schon seit 2000 laufen Verhandlungen zwischen Marokko und der EU über ein multilaterales Rückführungsabkommen, mit dem auch Drittstaatler*innen – also nicht-marokkanische Staatsbürger*innen – direkt nach Marokko abgeschoben werden können.

Auch am östlichen Rand des Mittelmeers wurde die Lage für Geflüchtete schwieriger. Menschen aus Somalia, Pakistan, Afghanistan, Syrien und Bangladesch sollen in Griechenland künftig keinen Asylantrag mehr stellen können, wenn sie aus der Türkei übersetzen, kündigte Migrationsminister Notis Mitarakis an. Bei der Türkei handele es sich um ein „sicheres Drittland“. Dabei schiebt die Türkei sehr wohl auch in Kriegsgebiete ab. Am liebsten aber wäre es den Griechen, die Menschen würden gar nicht erst aus der Türkei herüber kommen. Dafür hat die Polizei in Griechenland künftig eine Schallkanone im Einsatz. Das auf einem Polizeipanzer montierte Gerät macht einen „ohrenbetäubenden Lärm mit der Lautstärke eines Düsentriebwerks“, wie Matthias Monroy bei Netzpolitik berichtete. Es sei Teil einer „Anlage mit Mauern aus Stahl, die zusammen mit Drohnen an der 200 Kilometer langen Grenze zur Türkei zur Migrationsabwehr installiert und getestet wird“. Das Fahrzeug des kanadischen Herstellers Streit stamme aus einer Serie beschlagnahmter „Typhoon“-Panzerwagen, die über Dubai illegal nach Libyen exportiert werden sollten.

Der Stahlzaun ähnelt jenem an der US-Grenze zu Mexiko. Beobachtungstürme mit Kameras, Nachtsichtgeräten und Sensoren schicken Daten an Kontrollzentren, die dort mit Hilfe künstlicher Intelligenz ausgewertet werden, um verdächtige Bewegungen auszumachen. Das ermögliche „ein klares Bild zu einem Zeitpunkt, an dem sich etwaige Migranten noch in einiger Entfernung von der Grenze befänden“, sagte Dimonsthenis Kamargios, der Leiter der regionalen Grenzkontrollbehörde, der Nachrichtenagentur AP.

Nicht vorangegangen ist indes der Bau des neuen Aufnahmelagers auf der Insel Lesbos. Die Ausschreibung für den Bau der Einrichtung, die bis zu 5.000 Menschen aufnehmen soll, lief im Juni 2021 noch immer. Migrationsminister Mitarakis sagte, es gebe einen „Notfallplan“ um zu verhindern, dass Tausende Menschen auch den kommenden Winter in überfluteten, schlammigen Zelten auf Lesbos verbringen müssen. Auch für die benachbarten Inseln Chios, Samos, Kos und Leros sind Aufträge für Lager-Neubauten ausgeschrieben, auf letzteren drei sollen sie noch vor dem Winter in Betrieb genommen werden.