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Faschismus als Extremismus der Mitte

Fabian Kunow
Einleitung

Der achte Teil der Reihe »Faschismustheorien. Erklärungen des NS« widmet sich dem Mittelschichtstheorem des Soziologen Seymour Martin Lipset.

Bild: Screenshot youtube.com/BR

Der Politikwissenschaftler Jürgen Falter verfasste das Buch »Hitlers Wähler«.

Wenige Jahre nach dessen militärischer Niederlage 1945, nahm sich der US-amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset des Faschismus an. Lipset grenzte in seinem 1959 ins Deutsche übersetzten Aufsatz »Der ›Faschismus‹, die Linke, die Rechte und die Mitte« anders als viele Faschismusforscher seinen Untersuchungsgegenstand nicht zeitlich durch das Jahr 1945 ab. Stattdessen entwarf er ein Idealmodell, mit dem er auch die Bewegungen seiner Zeit untersuchte und  kategorisierte. Dies geschah sehr holzschnittartig und ließ sich in seiner Reinform nie empirisch nachweisen. Zur Theorie des Faschismus und bei der Beurteilung heutiger Bewegungen der extremen Rechten und ihrer Anschlussfähigkeit kann dieser Aufsatz trotzdem immer noch als Denkanstoß dienen.

Lipsets Bedeutung in der Geschichte der Faschismustheorie im deutschsprachigen Raum wird dadurch angezeigt, dass Ernst Nolte in dem von ihm herausgegebenen Sammelband »Theorien über den Faschismus« Lipsets Aufsatz veröffentlichte. »Faschismus-Nolte«, so sein damaliger Spitzname an der FU Berlin, konnte vor dem Historikerstreit (Vgl. AIB #72) als Begründer eines verbindlichen Textkanons in der deutschsprachigen Faschismusforschung angesehen werden. Lipset ist einer der ganz wenigen außereuropäischen Theoretiker in dieser Aufsatzsammlung. Er nannte den Faschismus die extremistische Bewegung der Mitte.

Das Modell von Lipset

Lipset teilte als Soziologe die Gesellschaft in verschiedene Schichten ein und schrieb diesen jeweils eigene politische Vorstellungen zu. Hierfür baute er sich ein recht simples Raster. Er ordnete die modernen Gesellschaften jeweils in Ober-, Mittel- und Arbeiterschicht. Jede dieser Schichten bildet eine bestimmte Ideologie aus. Die Arbeiter die Linke, die Oberschicht die Rechte und die Mittelschicht liberale Ideen. Alle drei Schichten formten jeweils einen eigenen »Extremismus« aus. Die jeweilige Ideologie – egal ob nun als moderate bzw. demokratische oder extremistische Variante – wird von Lipset als politische Bewegung gefasst.

Schichtspezifische Extremismen

Die Arbeiterschicht hat als Extremismus den Kommunismus und Peronismus. Der Peronismus ist eine nationalistische und populistische Bewegung in Argentinien, die sich auf das »Volk« sowie ihren Gründer Juan Peron bezieht. Kommunismus und den südamerikanischen Peronismus setzte Lipset trotz offensichtlicher Unterschiede gleich: Der Kommunismus als Bewegung ist internationalistisch, während der Peronismus hingegen nationalistisch gefärbt ist. Dies hat nach Lipset mit der spezifischen Geschichte Südamerikas als ehemals kolonalisiertem Kontinent zu tun, der die Schritte zur Modernisierung noch gehen müsse.

Die Oberschicht bildet als Extremismus den traditionellen Autoritarismus bzw. Konservatismus aus. Der Extremismus der Mittelschicht ist der Faschismus. Lipset widerspricht damit verbreiteten Ansichten, wonach alle diese drei »Extremismen« (traditioneller Autoritarismus, Peronismus, Nationalsozialismus) unter den Begriff des Faschismus fallen. Gerade viele Linke zählten den Peronismus und den reaktionären Autoritarismus zu den Faschismen.

Lipset widerspricht damit ebenfalls der Annahme, dass nur die politische Linke und die Rechte einen Extremismus am Rand ihres Spektrums hervorbringen können und so »die Mitte« wegen ihres Standpunktes immer die Ordnung der Demokratie gegen die Bedrohung von den Rändern verteidige. Gerade das ist die Annahme und Voraussetzung der Extremismustheorie, die heutzutage als Destillat der Totalitarismustheorie mit der CDU/CSU/ FDP Koalition wieder an Bedeutung gewinnt. Die Totalitarismustheorie erlebte gerade in der Zeit der Entstehung von Lipsets Essay, im Klima eines im Zuge des Kalten Krieges weit verbreiteten Antikommunismus einen ihrer Höhepunkte.

Alle drei Extremismen können sich nach Lipset in demselben Land ausbilden. Wobei in den höchstentwickelten und urbanisierten Ländern (z. B. den USA) die Chance am geringsten sei, dass ein Extremismus an die Macht kommt.

Koppelung von Schicht und Weltanschauung

Lipset verknüpft die jeweiligen Ideologien der Schichten, ob nun gemässigt-demokratisch oder extremistisch, mit den sozio-ökonomischen Grundlagen der jeweiligen Schicht. Die Oberschicht besteht aus Eigentümern von Industriebetrieben, Großbauern und leitenden Angestellten. Sie wollen die Macht und Einkommensverteilung beibehalten, sind als derzeit Begünstigte klerikal, traditionell und konservativ. Sie treten ein gegen jede Form von Umverteilung.

Die Mittelschichten repräsentieren kleine Unternehmer und Angestellte sowie die freien Berufe. Sie zeichnen sich durch Ablehnung von staatsinterventionistischer Politik sowie der Großindustrie und der Gewerkschaften aus. Als Mittelschichtler sind sie für individuelle Erfolgsmöglichkeiten und gegen erzwungene Einkommensgleichheit. Zudem sind sie antiklerikal und antitraditionalistisch. Der Faschismus als Mittelschichtsbewegung stellt sich als anti-parlamentarischer Populismus dar. Die faschistische Ideologie ist sehr opportunistisch und vereinbart streckenweise theoretisch Widersprüchliches, deshalb sind Faschisten weithin bündnisfähig.

Lipset untersuchte zur Stützung seiner Thesen die Wählerschaft der Nazis. Er stellt einen Zusammenhang zwischen den Verlusten der klassischen Mittelstandsparteien der Weimarer Republik wie DVP (Rechtsliberale), DDP (Linksliberale), Wirtschaftspartei und anderen Mittelstandsparteien sowie dem kometenhaften Aufstieg der NSDAP fest. Lipset schreibt zum Verhältnis von Liberalismus und Faschismus: »Obgleich zwar die faschistische Ideologie in ihrer Glorifizierung des Staates antiliberal ist, hat sie mit dem Liberalismus nicht nur die Opposition gegen die Großindustrie, die Gewerkschaften und den sozialistischen Staat gemeinsam, sondern auch die Gegnerschaft gegenüber der Religion und anderen Formen des Traditionalismus.«

Wählerverschiebungen in der Arbeiterklasse fanden vor allem zwischen SPD und KPD statt. Dem sozialistischen Lager, ob nun gemäßigt sozialdemokratisch oder »extremistisch«, d.h. revolutionär, stehen in dieser Theorie die Arbeiter und die kleinen Landwirte sowie einige Intellektuelle nahe. Soziale Gleichheit ist hier das politische Ziel, das auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden soll. Alle demokratischen und extremistischen Ausbildungen der schichteigenen Ideologie haben Überschneidungen zu den Ideologien der anderen Schichten.

Vorläufer des Mittelschichtstheorems

Lipset war, wie er selbst zugab, nicht der Erste, der in Theorie und empirischer Forschung feststellte, dass die Mittelschicht eine Affinität zur faschistischen Bewegung besaß. Der sozialdemokratische Soziologe Theodor Geiger hatte sich schon einige Jahre vor 1933 mit der Basis der aufkommenden NSDAP beschäftigt. Seine Ergebnisse waren von Lipset nicht so weit entfernt. Lipset räumte Geiger keinen großen Stellenwert ein, sondern bezog sich mit dem Konservativen Karl Dietrich Bracher auf einen der wichtigsten Politikwissenschaftler der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft sowie auf andere Historiker, die wiederum Anleihen bei Geiger nahmen. Geiger dürfte daher Lipset bekannt gewesen sein.

Geiger differenziert wesentlich stärker als Lipset. Er teilt die Gesellschaft der Weimarer Republik aufgrund von sozialstatistischen Daten in Kapitalisten 0,92%, Alter Mittelstand 17,77%, Neuer Mittelstand 17,95%, Proletaroide (d.h. abgeglittener alter Mittelstand) 12,65% und Proletariat 50,71% auf. Dann geht er noch tiefer ins Detail und auf einzelne Berufsgruppen ein, z.B. Beamte. Diese bilden nach seinen Überlegungen spezifische Mentalitäten aus. Die Angehörigen des Neuen Mittelstandes, also Angestellte und Beamte, sind nach Geiger die sozialen Träger des Nationalsozialismus. Gleiches gilt für Teile des Alten Mittelstandes und der Proletaroiden. Geiger beobachtet mit einer Mischung verschiedener wahlanalytischer Verfahren die Wählerverschiebungen hin zur NSDAP.

Kritik an Geiger und Lipset

Orthodoxe Marxisten führten gegen das Mittelschichtstheorem in der Faschismustheorie immer die Frage des »cui bono« an: Wer profitiert von einer faschistischen Herrschaft? Weil die Nutznießer mit Wehrmacht und Industrie – in den Augen orthodoxer Marxisten – in Nazi-Deutschland klar bestimmbar waren, lag es für sie auf der Hand, dass der Faschismus keine Mittelstandsbewegung sein könne. Der deutsche Faschismus sei vielmehr eine Herrschaft bestimmter Teile des Kapitals und der alten Eliten, die in der Revolution von 1918 zurückgestutzt worden waren.

Andere Kritiker führten gegen das Mittelschichtstheorem an, dass bestimmte Versatzstücke der faschistischen Ideologie wie Rassismus, Antisemitismus und Autoritarismus sich in allen Schichten und Bevölkerungsgruppen fänden. Genauso wenig kann das Mittelschichtstheorem erklären, warum der deutsche Faschismus Auschwitz hervorbrachte.

Diskussion über das Mittelschichtstheorem in den 1990er Jahren

Wer genau die Wähler der NSDAP waren, blieb auch knapp sechzig Jahre nach dem folgenreichen 30. Januar 1933 umstritten. Im Jahr 1991 veröffentlichte der Politikwissenschaftler Jürgen Falter sein Buch »Hitlers Wähler«. Falter ist einer der bekanntesten Wahl- und Parteienforscher. In »Hitlers Wähler« kommt er nach dem Verwenden neuer wahlsoziologischer Methoden zu dem Schluss, dass die NSDAP die erste »Volkspartei mit Mittelstandsbauch« war. Diese Kurzformel bzw. die von der »Volkspartei des Protest« (Falter) hat sich als Aussage über die Wählerschaft der Nazis durchgesetzt.

In der Politikwissenschaft ist eine Volkspartei eine Catch-all-Party, wie es in den USA die Republikaner und die Demokraten sind. Volkspartei bedeutet, dass sich die Wähler und Mitglieder aus allen Schichten zusammensetzten, wobei es selbstverständlich Gruppen geben kann, bei denen es eine besondere Affinität gibt, diese Volkspartei zu wählen. Die NSDAP gilt in Deutschland als die erste Volkspartei, da die anderen damaligen Parteien nur bestimmte Milieus, Konfessionen und Schichten ansprachen. Die SPD wurde in Deutschland erst mit dem Godesberger Parteiprogramm 1959 von einer marxistisch inspirierten Arbeiter- zur Volkspartei. Die CDU als überkonfessionelle Volkspartei entstand ebenfalls erst mit der Gründung der BRD.

Konservativen Gegnern des Mittelstandstheorems kommt die Rede von der NSDAP als Volkspartei entgegen, weil sie ihr geliebtes Steckenpferd Mittelstand entlastet sowie die Wechselbeziehung zwischen ökonomischem Status und politischer Einstellung verwischt. Zudem entlastete der Gedanke, dass alle irgendwie Schuld am Nationalsozialismus waren konkrete Nutznießer und passte so gut in den Schlussstrichdiskurs, welcher in den 1990er Jahren unter Konservativen weit verbreitet war.

Extremismus der Mitte heute

Wenn heute in der Antifabewegung vom »Extremismus der Mitte« gesprochen wird, ist dies in der Regel eine Polemik gegen den herrschenden Extremismusbegriff. Dieser teilt das politische Spektrum in Form eines Hufeisens auf. In der Mitte des Hufeisens ist die »demokratische Mitte«, je weiter es nach außen – egal ob nach links oder rechts – geht, umso extremistischer werden die Ränder. Die extremistischen linken und rechten Ränder sind sich in diesem verquasten Modell näher als der »demokratischen Mitte«. Mitte steht in dieser Sichtweise für Ausgleich, Vernunft und Mäßigung. Extremismus definiert sich in dieser politischen Theorie außer durch die Ablehnung der »demokratischen Mitte« auch durch die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt. Um die Scheinheiligkeit einer solchen Einteilung der politischen Landschaft aufzuzeigen, wird gerne auf den »Extremismus der Mitte« verwiesen. Dazu wird dann an die Gewalttätigkeit der herrschenden Politik erinnert, beispielsweise an Kriegseinsätze der Bundeswehr oder Abschiebungen. Oder es werden personelle Überschneidungen von »Rechtsextremen« mit Personen der Mitte in entsprechenden Organisationen aufgeführt. Hierzu gehören auch Untersuchungen zu antidemokratischen Einstellungen und Statements von Wähler_innen und Politiker_innen der demokratischen Parteien »der Mitte«.

So passend dieses polemische Verwenden des Begriffs »Extremismus der Mitte« ist, so wenig hat es mit dem zu tun, was Geiger und später Lipset ausführten. Geiger und Lipset sprachen von der »Mitte« nicht als politischer Selbstverortung, sondern im ökonomischen Sinne von Mittelschicht bzw. Mittelschichten und deren Milieus. Diese stehen sozial zwischen der zahlenmäßig kleinen Oberschicht und der Arbeiterschaft. Den beiden Soziologen ging es vielmehr um die Frage, welche Schichten die soziale Basis für die faschistischen Bewegungen und ihre Parteien ausbildeten. Heraus kamen fruchtbare theoretische Annahmen, die nicht exakt die Wirklichkeit darstellen.

Und heute?

Interessant sind die Überlegungen zum Bewusstseinszustand des Mittelstandes bzw. der kulturell verschieden geprägten Mittelschichten immer noch, da trotz aller Grabreden der Mittelstand bzw. die Mittelschichten immer noch sozialstrukturell nachweisbar sind. So sank zwar nach Angaben des DIW in einer im Mai 2010 vorgelegten, viel beachteten Studie der Anteil der mittleren Einkommen in den vergangenen Jahren von 66 auf 61,5 Prozent. Sie stellen somit aber immer noch die Mehrheit. Zudem definiert sich die Zugehörigkeit zu einem Milieu nicht allein durch das Einkommen. Dieses ist eine der stärksten Kritiken der Studie sowie auch des gesamten Mittelschichtstheorems.

Das ständige Loblied auf den Mittelstand als Motor und Stabilitätsgarant der Nation sowie auf die Selbständigkeit an sich zeigen, dass mit den Mittelschichten als ökonomisch-politischer Größe weiterhin zu rechnen ist.  Genauso wie es den Mittelstand noch gibt, gibt es wie in den Jahren vor 1933 die Angst um den Verlust dessen und für Mittelschichtler davor, aus ihm abzusteigen. So ist es kein Zufall, dass gerade Rechtspopulisten bei denjenigen nach Wählerstimmen jagen, welche sich selbst als Mittelschichtler wahrnehmen. Die nicht gerade für ihr komplexes Programm und Mitgliederstärke bekannte Partei »Pro NRW« besitzt sogar einen eigenen Arbeitskreis »Mittelstand Pro NRW«, der die Wirtschaftpolitik der Organisation bestimmt. »Pro NRW« sieht sich als Partei für die »staatstragende wertorientierte Mittelschicht«. Für Rechtspopulisten sind die Mittelschichten und ihre Ängste weiterhin ein lohnendes Wählerreservoir.

Literatur:
• Lipset, Seymour Martin (1959): Der »Faschismus«, die Linke, die Rechte und die Mitte. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11. oder In: »Theorien über den Faschismus« (Hrsg. Ernst Nolte) Kiepenheuer u. Witsch
• Gebhardt, Richard (2003): Die Kontroversen über den »Extremismus der Mitte«
www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/109194.html