Skip to main content

Flucht im Zeichen der europäischen Zwei-Klassen-Solidarität

Robert Fietzke
Einleitung

Ich sollte als Sechste in den Zug einsteigen. Doch ein Typ hätte mich fast aus dem Zug geschubst. Er sagte njet, njet, njet. Ich bin fast rausgefallen. Angekommen in Lwiw, haben wir den Alarm gehört und wir wollten in einen Laden rennen. Aber der Besitzer hat nur die weißen Männer und Frauen reingelassen, nicht uns Afrikaner. Ich dachte mir: Dieser Rassismus muss aufhören. Wenn eine echte Bombe detoniert wäre, wären wir gestorben.“1

Symbolfoto: Christian Ditsch

(Symbolfoto: Christian Ditsch)

Monica Joseph (28), die sich kurz Blossom nennt, kommt aus Nigeria und studierte bis zur Entfesselung des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 Internationale Beziehungen in Kyiv. Gemeinsam mit inzwischen über 6,8 Millionen Menschen (Stand: Ende Mai 2022) sah sie sich gezwungen, vor den russischen Bomben außer Landes fliehen.1 Ihre und die Erfahrungen vieler BPoC-Geflüchteter unterscheiden sich zum Teil drastisch von den Fluchtgeschichten der weißen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Es geht hierbei nicht um Einzelfälle oder eine kleine Zahl, sondern um Strukturen und Zehntausende. 20 Prozent der Auslandsstudent*innen in der Ukraine kommen aus afrikanischen Ländern, allein 4.000 von ihnen aus Nigeria.

Wir kümmern uns nicht um Afrikaner

Schon in den ersten Tagen nach Kriegsausbruch berichteten Betroffene in den sozialen Medien unter den Hashtags #AfricansinUkraine und #BlackinUkraine von ähnlichen Fällen rassistischer Diskriminierung auf ihrer Flucht. Videos dokumentieren, wie ukrainische Beamt*innen nicht-­weiße Geflüchtete davon abhielten, Züge oder Busse zu erreichen, zum Teil unter Einsatz des Schlagstocks. Einige schilderten, dass Offizielle ihnen direkt ins Gesicht gesagt hätten, sie würden „sich nicht um die Afrikaner kümmern“.

Auch über die polnische Seite häuften sich ähnlich gelagerte Berichte. So hätten polnische Grenzbeamt*innen schwarzen Menschen aus der Ukraine ohne jede Begründung die Einreise verweigert, sodass diese weiter an die ungarische Grenze fliehen mussten. Eine nigerianische Medizinstudentin aus Charkiw schilderte, dass sie elf Stunden zu Fuß fliehen musste, um an die polnische Grenze zu gelangen, wo sie schließlich schwarze Geflüchtete auf der Straße übernachten sah, während Busse mit weißen Kriegsflüchtlingen permanent und ohne Wartezeit durchgelassen wurden. Ein Student aus der Elfenbeinküste, der ebenfalls aus Charkiw geflohen ist, musste gar 65 Kilometer zu Fuß bei eisigen Temperaturen zurücklegen, weil ihn kein Bus ab Lwiw mitnehmen wollte. Eine weitere Medizinstudentin aus Somalia berichtete über eine Not-Unterkunft in einem Hotel auf der polnischen Seite, in der man ihr sagte, dass hier nur (weiße) Ukrainer*innen aufgenommen würden.2 Laut einer SPIEGEL-Recherche sollen afrikanische Studierende außerdem in polnische Haftzentren an der Grenze verschleppt worden seien.3

Bereits vier Tage nach Kriegsausbruch sah sich die nigerianische Regierung dazu veranlasst, sich mit einem mahnenden Appell an die europäische Gemeinschaft zu wenden. Der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari twitterte: „Alle, die aus einer Konfliktsituation fliehen, haben das gleiche Recht auf einen sicheren Durch­gang nach der UN -Konvention, und die Farbe ihres Reisepasses oder ihre Haut sollte keinen Unterschied machen“. Des Weiteren empfahl Nigeria seinen Auslandsstudent*innen, die Ukraine fortan über Ungarn oder Rumänien zu verlassen. Indes beteuerten sowohl die polnische Regierung als auch die EU-Kommission, dass die Grenzen auch für Menschen aus Drittstaaten offen seien und selbstverständlich jeder Mensch, der vor dem Krieg fliehen muss, aufgenommen werde. Die Berichte der vielen Betroffenen sprechen jedoch ­eine andere Sprache.

Die Gleichzeitigkeit von Solidarität, Pushbacks und Ertrinkenlassen

Im Kontext der allgemeinen europäischen Asylpolitik passen all diese Berichte, passt diese rassistische Sonderbehandlung von arabischen und afrikanischen Geflüchteten in ein etabliertes Muster. Besonders mit Blick auf die Gleichzeitigkeit der täglichen Tragödien von Flucht, Vertreibung und Tod wird dieses Muster besonders deutlich:

1. Während Polen mit Abstand die meisten Geflüchteten aus der Ukraine aufnahm – insgesamt waren es 3,2 Millionen. Schätzungsweise befinden sich derzeit noch etwa 1,5 Millionen Menschen im Nachbarland – und durchaus eine beeindruckende Aufnahmebereitschaft an den Tag legte, übrigens auch dank der unermüdlichen Arbeit linker und antirassistischer Gruppen, hinderte es weiterhin fliehende Menschen aus Belarus daran, über die Grenze zu gelangen. Obwohl dort bereits mehrere Menschen, darunter auch Kinder, in den kalten Wäldern gestorben sind, führt Polen weiterhin Pushbacks durch.

2. Dieselbe Ambivalenz der europäischen Flüchtlingssolidarität zeigt sich auch weiterhin im Mittelmeer und vor den kanarischen Inseln, wo nach wie vor Boote mit Geflüchteten kentern, Menschen ertrinken4 und zivile Seenotretter*innen daran gehindert werden, Leben zu retten. Sie zeigt sich auch im Umgang mit Kriegsflüchtlingen aus anderen Kriegsgebieten wie Syrien, Afghanistan oder Jemen, der weiterhin den Prinzipien Abwehr, Abschreckung und Abschottung folgt.

3. Die „europäische Wertegemeinschaft“ ist einerseits in der Lage, zum ersten Mal überhaupt die sogenannte „Massenzustromrichtlinie“ 2001/55/EG zu aktivieren, mit der Geflüchtete aus einem neuen Kriegs- oder Krisengebiet unkompliziert und unbürokratisch aufgenommen werden können und schnell Zugang zu einem sicheren Aufenthaltstitel, Arbeit und Sozialleistungen bekommen können, andererseits bringt sie es fertig, tausende Menschen, die vor ein und demselben Krieg fliehen mussten, von der Gültigkeit dieser Rechte auszuschließen.

Die Gleichzeitigkeit sowohl des Handelns als auch des Nicht-Handelns, des Rettens und des Sterbenlassens, der Solidarität und der Verweigerung von Rechten charakterisiert eine Flüchtlingspolitik, die selbst im Angesicht eines brutalen Krieges und unendlichen Leids, das alle davon Betroffenen miteinander teilen, noch Unterscheidungen macht.

Deutschland zwischen Symbolpolitik und Abschiebung

Deutschland nimmt bei alledem eine ähnlich widersprüchliche Rolle ein wie bei vielen anderen asylpolitischen Fragen der jüngeren Vergangenheit. Es sei erinnert an das unrühmliche Doppelspiel eines Horst Seehofer, zum einen immer wieder die „europäische Solidarität“ zu beschwören - wobei er freilich eine andere Vorstellung von „Solidarität“ hat („Wenn wir Griechen und Türken helfen, ist das solidarisch gegenüber euch, aber hilft auch uns“ sagte er zum Beispiel bei einem Besuch in Athen 2019) - und andererseits Vieles dafür zu tun, um „die deutschen Sozialsysteme bis zur letzten Patrone gegen Armutszuwanderung zu verteidigen“, inklusive einer engen Zusammenarbeit mit dem italienischen Ex-Innenminister und Neofaschisten Salvini bei der Bekämpfung ziviler Seenotrettung.

Unter der Ampel-Regierung scheint sich zumindest auf der verbal-rhetorischen Ebene einiges verändert zu haben. Die grüne Außenministerin Baerbock erwirkte im Zusammenspiel mit der neuen SPD-Innenministerin Faeser eine symbolträchtige „Luftbrücke“ zwischen Moldawien und Deutschland, um das kleine Land, das bei 4 Millionen Einwohner*innen 450.000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen hat, zu „entlasten“. Allerdings geht es hierbei nur um eine vergleichsweise kleine Anzahl. Gerade einmal 2.500 Menschen will das reichste Land Europas dem ärmsten Land des Kontinents „abnehmen“.

Bei genauerem Hinsehen offenbart sich jenseits dieser symbolpolitischen Ebene aber eine spezifisch deutsche Version der Zwei-Klassen-Solidarität für Geflüchtete. Auch Deutschland wendet die EU-Richtlinie zur Gewährung vorübergehenden Schutzes nicht auf Menschen an, die als nicht-ukrainische Drittstaater*innen mit befristetem Aufenthaltsrecht in der Ukraine gelebt, gearbeitet oder studiert haben. Laut einem Rundschreiben des Bundesinnenministeriums sind sie vom Recht auf temporären Schutz für Kriegsvertriebene nach §24 AufenthG ausgenommen, wenn angenommen wird, dass eine „sichere und dauerhafte Rückkehrmöglichkeit“ ins Herkunftsland besteht. Mit anderen Worten: Deutschland möchte Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, in ihre Herkunftsländer abschieben, weil sie das Pech hatten, mit der falschen Staatsangehörigkeit oder dem falschen Pass vor demselben Krieg geflohen zu sein. Am Ende bleibt es, trotz der durchaus wahrnehmbaren Solidarität in Teilen der Bevölkerung, eben dabei, was Bertolt Brecht 1961 in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ niederschrieb:

Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“