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Hamburg: Keine parlamentarische Aufklärung des NSU-Komplexes

Nathalie Meyer (Referentin für Grundrechte Innenpolitik und Justiz; Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft)
Einleitung

Rückgratlose Politik statt rückhaltlose Aufklärung - Wie in Hamburg die parlamentarische Aufklärung des NSU-Komplexes verhindert wird.

Foto: Rasande Tyskar; CC BY-NC 2.0

Süleyman Taşköprü wurde am 27. Juni 2001 als drittes Opfer des „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) im Gemüseladen seiner Eltern in der Schützenstraße in Hamburg-Altona erschossen. Die anschließenden Ermittlungen der Behörden waren von der Reproduktion rassistischer und ethnisierender Stereotype, einer Täter-Opfer-Umkehr und der Missachtung der Angehörigen geprägt. Rassistische Tatmotive wurden vollständig ausgeblendet, stattdessen wurde in Richtung „Organisierte Kriminalität“ ermittelt. Dass diese Verfehlungen der Sicherheitsbehörden heute bekannt sind, ist vor allem den Nebenklage-Anwält_innen im Münchener NSU-Verfahren, den Untersuchungsausschüssen im Bundestag und den anderen Bundesländern sowie der Arbeit von antifaschistischen Initiativen in Hamburg zu verdanken. Denn von staatlicher Seite hat es keine Aufklärung gegeben: Hamburg ist das einzige Tatort-Bundesland, das bis heute keinen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) zum NSU-Komplex eingesetzt hat.

Verantwortungslose Politik und schweigende Behörden

Nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 versprach zwar die gesamte Hamburger Politik inklusive des SPD-geführten Senats eine lückenlose Aufklärung. Geblieben ist davon nichts. Die Beratungen in der Bürgerschaft und im Innenausschuss blieben an der Oberfläche, brachten kaum Erkenntnisse und waren von einem absoluten Widerstand gegen jede Aufklärungsbemühung gekennzeichnet, sowohl durch die Behördenvertreter_innen, als auch durch den Senat. So räumte der Senat zwar ein, dass es Fehler gegeben habe, schließlich habe man den Mord nicht aufgeklärt, aber „Hinweise auf ein Fehlverhalten der Hamburger Institutionen hätten bislang nicht identifiziert werden können.“ (Drs.20/13616)1 , vgl. auch Drs.22/11661). Dieses bewusste Augenverschließen vor den durch strukturellen Rassismus geprägten Ermittlungen der Polizei und den Verstrickungen des Verfassungsschutzes in den NSU-­Komplex, ist ein unermessliches Staatsversagen, aber gleichwohl nicht überraschend. Denn bei den normalen Ausschuss­beratungen fehlte das Instrumentarium eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, insbesondere der Möglichkeit zur Vorladung und Vernehmung von zur Wahrheit verpflichteten Zeug_innen und der Einsicht in sämtlichen Akten und Verschlusssachen. Damit fehlte es den um Aufklärung bemühten Akteur_innen sowohl am Zugang zum Wissensstand der Behörden als auch an wirkungsvollen Druckmechanismen, um die Darstellung der Sicherheitsbehörden in Zweifel ziehen zu können.

Die Hamburger Linksfraktion beantragte 2015 deswegen die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (Drs.21/887). Der Antrag wurde nach der Beratung im Innenausschuss von der seit 2015 bestehenden Regierungskoalition aus SPD und GRÜNEN in Eintracht mit der FDP, CDU und AfD abgelehnt. Als Gründe für die Ablehnung hieß es, viele Fragen seien bereits aufgeklärt und für eine weitergehende Aufklärung fehle es an Ansatzpunkten. Dies ist falsch, denn eine Reihe offener Fragen könnten die Hamburger Behörden beantworten. Dazu gehört zum Beispiel die Fragen, welche Hamburger Neonazis mit Kontakt zum NSU, Vertrauenspersonen des Hamburger Verfassungsschutzes waren oder warum sich die Hamburger Polizei so vehement gegen eine Operative Fallanalyse sperrte, die hinter der Mordserie rassistische Tatmotive vermutete.

Ob neben dem grundsätzlichen Unbehagen von Regierungen gegen Untersuchungsausschüsse der Wille zur Vertuschung die treibende Kraft bei der Ablehnung eines PUAs ist, kann nur spekuliert werden. Bei den Hamburger Sozialdemokrat_innen dürfte auch ihr besonderes Verhältnis zur Polizei eine Rolle spielen. Zum einen gilt die Hamburger SPD als besonders konservativ; eine repressive Sicherheitspolitik ist für sie programmatisch. Zum anderen hat die SPD der inneren Sicherheit eine ihrer schwersten Wahlniederlagen zu verdanken, als 2001 die rechtspopulistische „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ (besser bekannt als „Schill-Partei“) mit einem rein auf „law-and-order“ fokussierten Wahlkampf gemeinsam mit der CDU den Senat übernahm. Seitdem lässt die SPD keine Gelegenheit aus, um sicherheitspolitisch die volle Härte zu demonstrieren und die Sicherheitsbehörden bedingungslos gegen jede noch so berechtigte Kritik zu verteidigen.

Bei den Hamburger GRÜNEN ist die Positionierung diffuser: So fordern sie zwar eigentlich einen NSU-PUA, setzen ihn aber – trotz Regierungsverantwortung und einer ausreichenden Anzahl an Abgeordneten zur Erfüllung des Quorums zur Einsetzung – nicht um. Hier bleibt nur der Schluss, dass den GRÜNEN ein NSU-PUA schlicht nicht wichtig genug ist, um ihn gegenüber dem Koalitionspartner SPD – möglicherweise auf Kosten anderer politischer Forderungen – durchzusetzen.

Lippenbekenntnisse und geschredderte Akten

Zwischenzeitlich hat der Senat zudem dafür gesorgt, dass sich die Bedingungen für eine umfassende Aufklärung weiter verschlechtert haben. Denn 2017 wurden ein 2012 eingerichtetes Löschmoratorium für sämtliche Akten der Sicherheitsbehörden mit NSU-Bezug aufgehoben und zahlreiche relevante Aktenbestände daraufhin vernichtet (vgl. Drs.22/10312). Ein Beschluss über einen Anfang 2023 gestellten Antrag der Linksfraktion zur Erneuerung des Löschmoratoriums (Drs.22/10688) wurde durch die rot-grüne Mehrheit auf die lange Bank geschoben.

Auch eine Entschuldigung an die Angehörigen und Hinterbliebenen von Süleyman Taşköprü ließ lange auf sich warten: Erst im Juni 2018, am siebzehnten Jahrestag des Mordes an Süleyman Taşköprü, entschuldigte sich die Bürgerschaft mit einer Resolution für das Leid, dass durch die „mit einem falschen Verdacht geführten Ermittlungen“ verursacht wurde (Drs.21/13442). Was die Ursachen für ebendiese Ermittlungen waren oder wer dafür die Verantwortung trägt, blieb aber weiter unaufgeklärt.

Das Recht auf Aufklärung verjährt nicht

Trotz (oder gerade wegen) der vielen Enttäuschungen und dem staatlichen Unwillen zu einer Aufklärung des NSU-Komplexes, halten Teile der Familie Taşköprü sowie zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure an der Forderung nach einem NSU-Untersuchungsausschuss in Hamburg fest. Auch parlamentarisch gibt es aktuell Bewegung: So hat die Hamburger Linksfraktion im Herbst 2022 eine Broschüre zum NSU-Komplex veröffentlicht, in der die wesentlichen Erkenntnisse zum Mord an Süleyman Taşköprü, die Rolle der Hamburger extremen Rechten sowie die Verfehlungen der Sicherheitsbehörden dargelegt werden.2

Auch die Hamburger GRÜNEN haben auf ihrer Landesmitgliederversammlung 2021 ein Zeichen in Richtung einer parlamentarischen Aufklärung gesetzt und mit einem Antrag3 die Forderung nach der Einrichtung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Hamburger Neonaziszene, dem NSU-Komplex und dem Mord an Süleyman Taşköprü erhoben. Nun müssen die GRÜNEN Wort halten und diese Beschlusslage – zur Not auch gegen den Willen des Koalitionspartners – umsetzen. Die Gelegenheit dazu gibt es: Denn die Linksfraktion hat erneut einen Antrag zur Einrichtung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses vorgelegt. Der Antrag soll Mitte April 2023 in die Hamburgische Bürgerschaft eingebracht werden.

Trotz des vergangenen Zeitraums und vernichteter Akten bietet ein PUA nach wie vor enorme Potenziale. Er kann zwar nicht wiedergutmachen, dass der Mord an Süleyman Taşköprü nicht aufgeklärt wurde und der NSU deswegen weitere Menschen ermorden und verletzen konnte. Er kann aber dazu beitragen, die quälenden Fragen der Angehörigen endlich ernst zu nehmen und dazu führen, dass die politische Verantwortung für die Verfehlungen, Verstrickungen und Vertuschungen der Sicherheitsbehörden übernommen wird. Vor allem kann ein PUA den Grundstein dafür legen, aus der Vergangenheit zu lernen, den strukturellen Rassismus in den Sicherheitsbehörden anzupacken und die (gesellschaftlichen) Bedingungen dafür zu schaffen, rassistische Morde zukünftig nicht mehr tatenlos geschehen zu lassen.

Nachtrag der Redaktion:

Die rot-grünen Koalition in Hamburg hat mittlerweile angekündigt, keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) zum "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) einsetzen zu wollen. Ein "Kompromiss" sieht stattdessen eine „wissenschaftliche und interdisziplinäre Aufarbeitung“ des NSU-Komplexes in Hamburg, die von einem „interfraktionellen Beirat der Bürgerschaft“ begleitet werden soll. Damit würde der Antrags der Linken abgelehnt werden und der Wunsch der Angehörigen von Taşköprü nach Aufklärung ignoriert.