Kleinbürgertum oder kleiner Mann?
Sebastian FriedrichIm aktuellen Führungsstreit geht es auch um die Frage, wer Kernklientel der AfD ist
Seit der Gründung der AfD hat sich einiges in der Partei getan. Aktuell tobt ein Machtkampf zwischen den drei Flügeln, dessen Ausgang zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen ist. Dabei geht es neben inhaltlichen und persönlichen Fragen auch um die strategische Ausrichtung der Partei. Speziell in der Frage, welche Klassen und Klassenfraktionen angesprochen werden sollen, herrscht Uneinigkeit zwischen den Flügeln.
Die AfD war einst angetreten, um das reaktionäre Kleinbürgertum zu einen. Man gab sich moderat wertkonservativ und vertrat ein nationalneoliberales Wirtschaftsprogramm. Mit Erfolg. Wahlanalysen zu den Bundestagswahlen 2013, den Wahlen zum Europaparlament im Mai 2014 sowie den im Sommer 2014 stattgefundenen Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zeigen, dass genau diese Klientel angesprochen wurde: Männlich, unter 45 Jahre, (Fach-)Arbeiter oder selbstständig und sich der Mittelschicht zugehörig fühlend. Außerdem verdiente der ursprüngliche typische AfD-Wähler überdurchschnittlich gut und war eher vermögend. Darauf deuten verschiedene Studien hin.
Laut einer repräsentativen Befragung im Auftrag der Universität Leipzig, die zwischen Februar und April 2014 stattfand, befinden sich unter den Wähler_innen der AfD nur sehr wenige mit niedrigem Einkommen. Lediglich 3,9 Prozent der AfD-Wähler_innen haben ein Haushaltseinkommen von unter 1.000 EUR. Einen niedrigeren Wert hat nur die FDP vorzuweisen (2,8 Prozent). Einer Auswertung des Forsa-Instituts kurz nach den Europawahlen zufolge kommen die Anhänger_innen der AfD überwiegend aus der Mittelschicht (53 Prozent) und der Oberschicht (26 Prozent). Mehr als die Hälfte der Anhänger_innen (55 Prozent) hat Abitur und 44 Prozent verfügen über ein Haushaltsnettoeinkommen von mindestens 3.000 EUR. Was das Vermögen angeht, gibt es kaum verlässliche Daten. Lediglich die Mitteilung des kommissarischen Vorstands des Landesamtes für Statistik Berlin-Brandenburg ist hier aufschlussreich. Demnach schnitt die AfD bei den Landtagswahlen in Brandenburg vor allem in Gebieten mit „einer höheren Eigentümerquote“ besser ab. In Gebieten „mit vielen SGB II-Empfängern“ war die AfD weniger erfolgreich, so das Landesamt. Es waren also eher nicht die Deklassierten, die sich zur AfD hingezogen fühlten.
Außerdem erhielt die AfD vor allem zu Beginn Unterstützung von Teilen der Wirtschaft, insbesondere von denjenigen Unternehmen, die auf lokale und regionale Absatzmärkte setzen. Sie sind nicht exportorientiert und fürchten die europäische Integration wegen einer Intensivierung des Wettbewerbs, der sich negativ auf sie auswirken könnte. Eine Studie von Frederic Heine und Thomas Sablowski, die 2013 für die Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellt wurde, zeigt diese Verbindung eindrücklich auf. Heine und Sablowski untersuchten Pressemitteilungen und Positionspapiere von Wirtschaftsverbänden zur Regierungspolitik während der Legislaturperiode von Schwarz-Gelb.
Sie arbeiteten heraus, dass alle Wirtschaftsverbände mehr oder weniger d’accord waren mit der Regierungspolitik. Alle bis auf einen Verband: der Verband der Familienunternehmer, der sich als Einziger während der Euro-Krise grundsätzlich gegen die Euro-Rettungspolitik stellte. Er unterstützte außerdem die Klage gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus vor dem Bundesverfassungsgericht und forderte den Ausschluss Griechenlands aus der Euro-Zone. Insgesamt sprach sich der Verband gegen wirtschaftspolitische Europäisierung aus und bediente sich laut der Studie einer rechtspopulistischen Rhetorik. Heine und Sablowski kommen zum dem Schluss, dass die nationalkonservativen und neoliberalen Kräfte in dem Verband in der AfD ihren parteipolitischen Ausdruck gefunden haben.
Sie sollten Recht behalten. Praktisch wurde die Unterstützung des Verbands kurz vor der Europawahl Anfang Mai 2014. Beim „Tag der Familienunternehmer“ in Dresden war Bernd Lucke Hauptredner, erst später durften Christian Lindner und Günther Öttinger ran. Der Hauptgeschäftsführer des Verbands, Albrecht von der Hagen, sprach davon, dass viele Fragen der AfD auch Fragen des Verbands seien.
Rechtsentwicklung der AfD
Die Partei entwickelte sich zunehmend nach rechts. Heute tut Lucke so, als sei er ein Vorkämpfer gegen die Rechtsentwicklung. Das Gegenteil ist der Fall. Er war es, der um die Bundestagswahl herum die Partei strategisch nach rechts ausgerichtet hat. Knapp zwei Monate vor der Bundestagswahl schrieb Lucke an seine Vorstandskollegen Alexander Gauland und Konrad Adam eine aufschlussreiche Mail, deren Wortlaut das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zum Teil veröffentlichte. Gegenüber seinen heutigen erbitterten Kontrahenten forderte er einen Tabubruch, um den bis dahin schleppend laufenden Wahlkampf ein wenig in Fahrt zu bringen. So schlug er vor, Thilo Sarrazin zu vereinnahmen. Das könne viel Aufmerksamkeit, Kritik der linken Presse und viel Zuspruch in der Bevölkerung einbringen. Laut der AfD-Aussteigerin Michaela Merz wurde von einigen Kräften der Partei offen darüber nachgedacht, „die Partei in Richtung einer konservativ bis rechtspopulistischen Strömung und der Sarrazin-Klientel zu öffnen“. So habe Lucke angeregt, Sarrazin während einer Wahlkampfveranstaltung einen Buchpreis der AfD zu verleihen, was allerdings insbesondere durch die liberalen Kräfte innerhalb des Bundesvorstands der Partei verhindert worden sei. Rückblickend schreibt Merz Lucke bei der Öffnung nach rechts eine Schlüsselrolle zu: „Er ist maßgeblich für die spätere Entwicklung verantwortlich, da er die Partei bewusst dem rechten und rechtspopulistischen Rand geöffnet hat.“
Im weiteren Verlauf hat sich die Zusammensetzung der AfD nachhaltig verändert. Die rechten Flügel wurden in der Folge immer mächtiger. Sie konzentrierten sich auf die Wahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern, denn dort hatte die AfD bei den Bundestags- und Europawahlen ihre stärksten Ergebnisse geholt, und dort waren die Landesverbände deutlich rechtslastig. In allen drei Bundesländern zog die AfD mit herausragenden Ergebnissen — in Thüringen und Brandenburg sogar zweistellig — in die Landtage ein. Die Erfolge bestätigten die programmatische Erweiterung nach rechts und lösten harte Flügelkämpfe um die inhaltliche und personelle Zukunft der Partei aus, in deren Folge fast alle Liberalkonservativen die Partei verließen. Spätestens hier fand der aktuelle Führungsstreit in der AfD ihren Ausgangspunkt.
Soziale Basis zerbrochen
Die AfD war in ihrer Gründung vor allem deshalb gefährlich, weil sie das Zeug hatte, National-Neoliberale und Rechtskonservative zu verbinden und dadurch ein rechtes Hegemonieprojekt zu etablieren. Die Basis des Projekts war die reaktionäre Mittelklasse, das Kleinbürgertum. Dieses scheint der Partei zunehmend den Rücken zu kehren — und sich wieder mehr in Richtung FDP zu bewegen. Während vor einem Jahr führende Fraktionen des mächtigen Verbands der Familienunternehmer im Zuge der Europawahl 2014 die AfD unterstützten, herrscht heute weitgehend Funkstille zwischen dem Verband und der AfD. Ende April 2015 fanden die Familienunternehmer-Tage in Berlin statt, bei denen neben Gauck auch Vertreter_innen aus FDP, SPD, den Unionsparteien und den Grünen auf Podien sprachen. Die AfD suchte man vergeblich. Die Entwicklung kommt einigen in der Partei gelegen. Gauland, der im Verlauf der vergangenen zwei Jahre immer weiter nach rechts rückte, äußerte im April in einem Interview im Handelsblatt: „Man sollte auch nicht den Fehler machen und auf Stimmen des Bürgertums und früherer FDP-Anhänger setzen. Wir sind eine Partei der kleinen Leute. Damit meine ich auch Leute, die eben kein Asylbewerberheim neben sich haben wollen. Die damit verbundenen Ängste und Sorgen sollten wir ernst nehmen und aufgreifen, dann werden wir auch gewählt.“
Sebastian Friedrich ist Publizist. Im Januar 2015 erschien beim Berliner Verlag bertz + fischer sein Buch „Der Aufstieg der AfD. Neokonservative Mobilmachung in Deutschland“
Stand des Artikels 15.Juni 2015