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Mit § 129: "Antifa Sportgruppe" in Sachsen gesucht

Marina Ludwig
Einleitung

Es riecht irgendwie nach Gummi“, sagt Simon. Er sieht das Bundeswehrlogo auf dem Bus und zählt eins und eins zusammen: „Jemand hat versucht, den Bus anzuzünden.“ Garfunkel ist überrascht, Simon nicht, weil er sich an den Anschlag auf eine Dresdner Bundeswehr-Kaserne im selben Jahr erinnert, bei dem 30 Bundeswehr-­Fahrzeuge verbrannt sind. Nicht uninteressant also schlendern sie zur nahegelegenen Bushaltestelle um von dort aus Feuerwehr und Polizei zu beobachten, die sich nun um den Bus kümmern. Dann Simons Eingebung: „Ey lass uns mal abhauen, wir sind beide schwarz angezogen und kriechen hier rum.“ Zu spät. Eine Frau im Auto hat alles beobachtet und findet ihr Verhalten verdächtig. Sie ist Polizeiobermeisterin in zivil und gibt später zu Protokoll, dass Simon und Garfunkel kein Licht machten, als sie in einem Hauseingang verschwanden. Gemeinsam mit einem Kollegen kontrolliert sie kurz darauf die verschlossene Eingangstür und notiert alle am Klingelbrett aufgelisteten Namen.

Symbolbild; Nomen Obscurum; flickr.com; CC BY-SA 2.0

70 Leitz-Ordner dokumentieren langfristige Telefonüberwachungen, Observationen von linken Personen und Objekten, Videoüberwachungen und Funkzellenabfragen per IMSI-Catcher.

Der Sachverhalt, unbekannte Täter entzünden unter einem Reisebus der Bundeswehr unbekanntes Brennmaterial, wird am frühen Morgen dem Landeskriminalamt übergeben. Man entschließt sich der Spur zu folgen, die die Polizeiobermeisterin aufgetan hatte. Alle Namen vom Klingelschild werden mit dem Melderegister abgeglichen und im polizeilichen Auskunftssystem überprüft. Im Verlauf des Vormittags ergeben sich weitere Erkenntnisse. Ein Beamter hatte sich Zugang zum Hausflur verschafft und dort vor einer Wohnung mehrere Schuhpaare der Marke New Balance entdeckt. Solche hatte seine Kollegin bei einem der Verdächtigen gesehen. Die dort gemeldeten Personen werden nochmal überprüft. Und siehe da: Gegen zwei Bewohner wurde bereits wegen Körperverletzung ermittelt, einer ist außerdem als „Straftäter linksmotiviert“ gelistet.

Das reicht Staatsanwalt X für eine Hausdurchsuchung, Ermittlungsrichter Y vom Dresdner Amtsgericht ordnet sie mündlich an. Ein Beamter des 52. Dezernats PMK-links beim Landeskriminalamt leitet den Einsatz. Weil niemand da ist, wird die Wohnung aufgebrochen. Bei der Durchsuchung aller Zimmer, Schränke, Schubladen, Papierstapel, Ordner, Wäscheberge und Mülleimer stoßen die Beamten auf Hinweise zu einer Person, die woanders gemeldet ist: Garfunkel. Zwei Beamte fahren zur Meldeadresse und klingeln. Garfunkels Cousine, minderjährig, macht auf. Weil sonst niemand da ist, beantwortet sie alle Fragen. Garfunkel sei ausgezogen, kommt nur noch sporadisch zum Essen und so weiter. Die Minderjährige willigt ausserdem ein, dass sich die Beamten in der Wohnung umsehen dürfen. Wegen der Möglichkeit zur Besichtigung wurde auf eine Durchsuchung verzichtet, heißt es dazu in einem Aktenvermerk.

Ihr seid wirklich schlimmer als euer Ruf!“ habe Simon gerufen, als er die aufgebrochene Tür und die vielen Leute in seiner Wohnung sieht. Warum hat die Polizei sie denn nicht gleich gestern Abend angesprochen? Warum sollten sie so blöd sein, einen Bundeswehrbus anzünden und sich dann noch ewig da rumdrücken? Was sind das überhaupt für Ermittlungsmethoden? Er habe gleich Äußerungen zur Sache gemacht, wusste also genau worum es geht, steht im Durchsuchungsbericht.
Nach dem ersten Schreck fällt Simon ein, dass man bei einer Hausdurchsuchung einen unabhängigen Zeugen bestellen kann, also will er einen. „Der bin ich, den können sie sich hier nicht aussuchen“, habe ihm Staatsanwalt X geantwortet. Simon soll Garfunkel anrufen, Hauptkommissar übernimmt das Gespräch: „Kommen sie mal bitte her, es ist nichts Schlimmes“. Um halb vier nachmittags betritt Garfunkel die Wohnung. An den Füßen: Schwarze New Balance, weißes N — wird vermerkt.
Ich hab‘s dir gesagt“ ruft Simon. „Ja du hast es gesagt“, pflichtet Garfunkel bei. Frötzeleien über Ermittlungsmethoden werden ausgetauscht. Garfunkel versucht es bei der Polizei auf die Kumpeltour: „Wir haben doch mit sowas nichts am Hut.“ Ein Beamter lacht, dem Staatsanwalt reicht es dann. Die Beschuldigten sollen den Mund halten, Handys, Klamotten und Schuhe vom Vorabend werden beschlagnahmt. Dann geht’s ab zur ED-Behandlung: Detailbild, Dreiseitenbild, Ganzkörperbild, Personenbeschreibung, Zehnfinger- und Handflächenabdruck. Zum Schluss verspricht der Hauptkommissar: „Wenn hier alles so stimmt, wie ihr‘s sagt, dann gebe ich euch ein Bier aus.

Genau der will ein paar Tage später aber einen Speicheltest. Richter Y vom Amtsgericht Dresden hat eine molekulargenetische Untersuchung der Beschuldigten veranlasst. Denn am Freitag „setzen der Beschuldigte und der anderweitig Verfolgte den rechten vorderen Reifen eines Kraftomnibusses der Bundeswehr in Brand“, was „eine gemeingefährliche Straftat mit offensichtlich ideologischem Hintergrund“ gewesen sei. Simon stimmt dem Test zu, weil er hofft, seinen Rechner schneller wiederzubekommen, wenn er kooperiert. Garfunkel sagt nein. Dann passiert lange nichts.

Irgendwann dürfen ihre Anwälte dann mal in die Akten schauen: Videoaufzeichnungen der Straßenbahnen und von drei Tankstellen wurden sichergestellt, alle umliegenden Geschäfte und Betriebe nach Videoaufzeichnungen gefragt, Taxiunternehmen um passende Auskünfte gebeten. Die Bewohner von drei Häusern und die Mitarbeiter aller umliegenden Hotels und Restaurants wurden überprüft oder vernommen. Die Hotels wurden zusätzlich angewiesen, die Personendaten derjenigen zu übergeben, die laut Schlüsselkarten zwischen Mitternacht und 2 Uhr ihre Hotelzimmer verlassen hatten. Insgesamt wurden knapp 150 Personen mit Anschrift und Telefonnummer erfasst. Zu etwa 30 Personen, allesamt „Zufallsfunde“ aus der Hausdurchsuchung bei Simon, werden Daten aus polizeilichen Auskunftssystemen gesammelt: erkennungsdienstliche Behandlungen, Straftaten, Typ und Kennzeichen privater Fahrzeuge, Einträge zu Beruf, Arbeitsplatz und Fußballverein.

Das Landgericht Dresden erklärte den Durchsuchungsbeschluss des Ermittlungsrichters am Amtsgericht Dresden acht Monate später für „rechtswidrig" und „nicht tragbar“. Eine eigenverantwortliche richterliche Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen sei schlicht nicht erfolgt, weil „nicht jeder, der sich in der Nähe des Busses befunden und sich danach von diesem entfernt hat, Tatverdächtiger sein kann“. Außerdem hatte es bei der Suche nach Beweisen „überhaupt keine Eingrenzungen“ gegeben. Dasselbe Gericht hebt später auch die Anordnung zu einer DNA-Analyse bei Garfunkel auf.

Noch bevor das passiert, rückt die Polizei vier Monate später zum zweiten Mal zur Hausdurchsuchung an. Diesmal nicht nur bei Simon sondern auch bei seinen Eltern. Die Brandstiftung an dem Bundeswehrbus wird ihm jetzt als Mitglied einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. In der Zwischenzeit wollen die Ermittler herausgefunden haben, dass er jemand ist, der Gewaltstraftaten „nicht abgeneigt” sei. Noch dazu sei eine SMS abgefangen worden, in der er „zugibt der Antifa anzugehören“. Wie das kommt? Als am 19. Februar 2011 ein Dresdner Wohnprojekt von Neonazis angegriffen wurde, ist er hingefahren. Was bekannte Youtube-Videos zeigen, hat er live erlebt: Die Neonazis kommen, die Polizei fährt weg.

Die folgt nämlich einer anderen Spur: Einem „Gewalt-Handy“, von dem aus linke Attacken orchestriert worden sein sollen. Polizisten durchsuchen am selben Abend das „Haus der Begegnung“, inklusive Büro der Linkspartei und eine Anwaltskanzlei. An diesem Tag war dort der Info-Point für den Antinaziprotest. Die anwesenden mut­maßlichen Unterstützer des Bündnisses „Dresden nazifrei“ werden am Boden gefesselt, einige kommen über Nacht in Gewahrsam. Rund 20 wird kurzerhand die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Knapp eineinhalb Jahre später wird das Verfahren eingestellt. Insgesamt ermittelte die Dresdner Staatsanwaltschaft gegen drei angebliche kriminellen Vereinigungen im Zusammenhang mit Versammlungen am 13. bzw. 19. Februar 2011 in Dresden — allesamt gegen mutmaßliche Linke.
Simon und Garfunkel landen in dem berühmten Verfahren gegen die „Antifa-Sportgruppe”.

Es macht Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass 896.000 Handydaten von Demonstranten gegen den Neonaziaufmarsch am 19. Februar 2011 gesammelt wurden — wegen dieser „Antifa-Sportgruppe“. Einer der Demonstranten an diesem Tag war der Jugendpfarrer Lothar König. Im August reitet die sächsische Polizei auch bei ihm ein, durchsucht alles und schmökert in seiner Stasi-Akte. Warum? Weil er der Anführer der Sportgruppe sein soll. Diese grelle Geschichte wurde lang und breit erzählt und medial intensiv begleitet. Aus dem Sportgruppen-Verfahren wird er irgendwann rausgenommen und dann einzeln angeklagt, wegen schwerem Landfriedensbruch. Über ein Jahr hat es gedauert, bis die Staatsanwaltschaft Dresden zustimmte das Verfahren einzustellen — gegen eine Zahlung von 3.000 Euro.

Im selben Jahr, also 2014, klappt die Staatsanwaltschaft im Sportgruppen-Verfahren die Akten zu. Vier Jahre lang wurde zeitweilig gegen bis zu 50 vorgeblich „gefährliche, gewalttätig organisierte“ Personen ermittelt. Ihre Grundrechte wurden dauerhaft außer Kraft gesetzt und die Privatsphäre all jener verletzt, die mit ihnen zu tun hatten. Hier wurde mit großem Besteck im Privatleben der Anderen geschnüffelt und absolut unterbelichtet daherkommende Täterprofile erfunden. Die Kampagne Sachsens Demokratie1 hat die Akten analysiert: Leute, die ihren Freunden Tipps zu Computerfragen gaben, avancierten zum „IT-Experten der Gruppe“, PKW-Besitzer zu „Organisatoren“. Allein über eine Million Verkehrsdaten wurden im Rahmen dieses Verfahrens gespeichert.

Nach heutigem Kenntnisstand ein beispielloser Vorgang, der über die Jahre in der bundesweiten Presse mit Erstaunen und Entsetzen verfolgt wurde. Ein Umstand, der noch in Einstellungsbescheiden verächtlich obstruiert wird, mit der Bemerkung, das fehlende öffentliche Interesse wäre auch Grund für die Einstellung des Verfahrens. Dazu kommen urkomische Gründe, wie die angeblich nur geringfügige Schuld eines angeblichen Mitglieds. Komisch ist das, weil für eine Verurteilung die Mitgliedschaft und die Kenntnis der Ziele der kriminellen Vereinigung ausreichen.

Individuelle Schuld hin oder her, kollektiv soll man für Verbrechen der „kriminellen Bande“ büßen. Theoretisch. Praktisch hat es in Sachsen noch nie für eine Anklage gegen eine angebliche linke kriminelle Vereinigung gereicht. Aus parlamentarischen Anfragen seit 2010 lässt sich rekonstruieren, dass im Jahr etwa zwei Verfahren nach diesem Schnittmuster von der Staatsanwaltschaft Dresden geführt werden. Das heißt, es wird davon ausgegangen, es gäbe eine verschworene Gemeinschaft von 10 bis 20 soweit bekannt hauptsächlich männlichen Personen, mehrheitlich mit Wohnsitz in Dresden oder Leipzig, die mit krimineller Energie gegen „Personen des rechten Spektrums“ vorgehen. Schätzungsweise wurden in den letzten sechs Jahren über 100 Personen als Beschuldigte ermittelt. Diesen mutmaßlichen kriminellen Vereinigungen werden eine Handvoll angezeigte Straftaten zugeordnet, deren Zusammenhang in den Akten jedoch schwach bis nicht ersichtlich ist.

Die Täter sind zumeist unbekannt. In nur ganz wenigen Fällen können die mutmaßlichen Mitglieder der „Antifa-Sportgruppe“ mit den Taten unmittelbar in Verbindung gebracht werden. Als Indizien einer potentiellen Mitgliedschaft wurden scheinbar vor allem Einträge in einschlägigen Dateien der Polizei angeführt, die sich aber ebenfalls auf Verdächtigungen stützen. Um dort zu landen, reicht es an Demonstrationen teilzunehmen oder mit der Sonnenbrille durch Connewitz zu laufen.

Läuft die Telefonüberwachung erstmal, finden sich über die Auswertung der Kontaktdaten weitere „Verdächtige“. Häufigkeit des Kontakts scheint dazu einer nicht unwichtiger Faktor, sofern die Person dem Profil eines „gewalttätigen Nazischlägers“ entsprechen könnte. Neben Geschlecht und Alter ist offenbar Kampfsport ein alarmierendes Attribut für die Ermittler. Weil er ausgerechnet dort Trainer war, wo, laut Aussagen eines Neonazis die „Antifa- Sportgruppe" trainiert, wurde eine 28-Jähriger kurzum zum Mitglied erklärt.

Nach diesem Schnittmuster wurde auch das § 129-Verfahren gegen mutmaßliche Verdächtige aus dem Umfeld des Leipziger Fußballvereins BSG Chemie Leipzig ab 2013 bis Ende 2016 geführt. 14 Beschuldigten wurden Körperverletzung, Sachbeschädigung und Beleidigung vorgeworfen. 70 Leitz-Ordner dokumentieren langfristige Telefonüberwachungen, Observationen von Personen und Objekten, Videoüberwachungen und Funkzellenabfragen per IMSI-Catcher. Über 800 Bestandsdaten, also Telefonnummern und Namen etc, wurden gespeichert und 125 000 Verkehrsdatensätze, also Verbindungen, ausgewertet.2

Bekannt wurde das Verfahren, weil auch gegen einen Fansozialarbeiter der BSG Chemie beschuldigt wurde Teil der kriminellen Vereinigung zu sein: Weil er intensiven Kontakt zu Fans pflegte, Räumlichkeiten zur Verfügung stellte und Fahrten zu Fußballspielen und zum sächsischen Landtag organisierte. Kernaufgaben der Fansozialarbeit wurden hier kriminalisiert. Auch das Rechtshilfekollektiv Chemie Leipzig stand nach eigener Aussage im Fokus der Ermittlungen. Beobachtet wurden Informationsveranstaltungen und es wurde verfolgt, wie die juristische Unterstützung von Fußballfans organisiert wurde.

Polizisten werteten darüber hinaus Gespräche mit Journalisten, Ärzten und Anwälten aus und verwursteten die hieraus gewonnen Informationen auch in übergeordneten Polizeidateien. Offenbar ganz ohne Unrechtsbewusstsein, denn diese Berufe genießen laut Gesetz einen besonderen Schutz. Ignoriert wurde offenbar auch das Prinzip der Gewaltenteilung, laut Rechtshilfekollektiv wurde ebenfalls die Kommunikation mit dem deutschen Konsulat in Prag ausgewertet.

Wann und wie hat sich die „kriminelle Vereinigung“ rund um BSG Chemie gegründet und ihre Ziele festgelegt? Auf solch essentielle Fragen liefern kiloweise Akten keine klare Antworten. Was aber zu erfahren ist: Aus ihrem „Selbstverständnis“ heraus hätten die Beschuldigten Neonazis abgelehnt. Das ist kein Alleinstellungsmerkmal, das ist in weiten Teilen der Bundesrepublik Staatsräson. Sogar Justizminister Sebastian Gemko ist ist entgegen der örtlichen CDU-Linie gegen Legida auf die Straße gegangen. Dabei könnte er viel mehr tun, er könnte in seinem Zuständigkeitsbereich nach dem Rechten schauen.Trotz aller Versuche, unter massiven Verletzungen fundamentaler Grundrechte eine „kriminelle Vereinigung“ zu konstruieren, scheiterte das Vorhaben: Sämtliche Verfahren wurden inzwischen eingestellt.

  • 1siehe sachsens-demokratie.net
  • 2Aus einer Kleinen Anfrage des Grünen-Landtagsabgeordneten Valentin Lippmann geht hervor, dass mindestens 240 Personen als Gesprächspartner betroffen waren. 68.925 Verkehrsdatensätze seien gespeichert worden.