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Mos Maiorum

Einleitung

Dienstag, 14. Oktober, 14.20 Uhr, Hauptbahnhof München, Gleis 13. Zehn Polizisten kontrollieren „Männer mit schwar­zen Haaren“, die dem Eurocity aus Verona entsteigen. Oder zwei Stunden zuvor, im französischen Grenoble. Beamte der als besonders rassistisch verschrienen Polizeieinheit CRS greifen 20 migrantisch aussehende Personen auf und bringen sie in Handschellen zur Überprüfung aufs Revier. Ähnlich einen Tag später: Bundespolizisten patrouillieren im Bahnhof Hamburg-Harburg in S-Bahnen und in Intercities Richtung Ruhrgebiet.

Symbolbild

Ein Aktivist bei einer Aktion gegen den Grenzzaun an der bulgarischen EU-Außengrenze im November 2014 (Symbolbild)

Hunderte solcher Beobachtungen aus der ganzen EU haben AktivistInnen auf einer interaktiven Online-Karte zusammengetragen. Was dort zu lesen ist, ist Alltag in Europa. Und trotzdem sorgten diese Berichte bei AntirassismusaktivistInnen und in den Medien für Aufregung. Die Polizeiaktionen galten als Teil der Operation „Mos Maiorum“. Der seltsame Name bedeutet übersetzt soviel wie „Die Sitten der Vorfahren“. Gemeint sind Ordnungsvorschriften aus dem römischen Reich, das sich offenbar nach Auffassung der italienischen Regierung wohltuend vom deregulierten Freizügigkeits-Chaos der Schengen-Ära unterschied.

Im Juli, kurz nach Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft, regte die italienische Regierung das Projekt an. Ihr Ziel: Die „Schwächung organisierter Schlepperbanden“, und das Sammeln von Informationen über Migrationsbewegungen. Ähnliche Operationen hatte es in der Vergangenheit mehrfach gegeben. Die letzte namens „Archimedes“ liegt erst wenige Monate zurück.

Jedes Land, das jeweils für sechs Monate den Vorsitz der EU-Staaten führt, organisiert Vergleichbares wie derzeit Italien. Nie jedoch löste eine der Aktionen vergleichbare Aufmerksamkeit aus. Wochenlang kursierten teils panikerregende Reisewarnungen für MigrantInnen im Netz. Sie erwecken den irrigen Eindruck, es geschehe etwas ganz und gar außergewöhnliches. Medien berichteten von der „Jagd auf Sans Papier“, das Magazin empörte sich, die Freizügigkeit werde „zur Makulatur".

Dabei weiß jeder, der schon einmal mit Afrikanern im Zug oder Auto die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich oder Österreich überquert hat: Der viel gerühmte Wegfall der Kontrollen im Schengen-Raum gilt nur eingeschränkt. An Flughäfen, Autobahnraststätten, in Zügen, an Bahnhöfen, auf Fähren oder überhaupt in der Nähe von Grenzen: Wer schwarz ist oder orientalisch aussieht, muss mit Kontrollen rechnen. Was von Innenministern gern als Ausnahme hingestellt wird, ist Standard.

Es kursiert eine Zahl von 18.000 Beamten, die an Mos Maiorum beteiligt sein sollen. Viel wäre das nicht: Die Bundespolizei allein hat 40.000 Beamte, die italienische Guardia di Finanza 61.000. Frontex-Chef Ilka Laitiinen hat die Zahl der europäischen Grenzschützer insgesamt einmal mit 400.000 angegeben. Sie alle tun rund ums Jahr nichts anderes, als während Mos Maiorum: Sie versuchen irreguläre MigrantInnen aufzuspüren, festzunehmen, zurückzuschieben und ihre Bewegungen nachzuvollziehen. Das Risiko, ohne Papiere bei einer Reise durch Europa aufgegriffen und in Haft genommen zu werden, dürfte deshalb nur wenig höher gewesen sein als sonst auch. Der einzige Unterschied: Die italienische Regierung hat die beteiligten Polizeieinheiten gebeten, ihre gesammelten Daten in rote (Außengrenzen) und blaue (Binnenland) Excel-Tabellen einzutragen und jeden Tag um 11 Uhr an eine bestimmte Dienststelle des italienischen Innenministeriums zu mailen.

Das will dem „Strategischen Ausschuss für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen“ der EU bei seiner nächsten Sitzung am 13. Dezember Bericht erstatten. Die Bundespolizei erklärte, es würden im Zusammenhang mit der Operation „keine personenbezogenen Daten“ nach Italien gelangen. Weitergegeben würden anonymisierte Daten zu Staatsangehörigkeit, Reiseroute, Alter, Geschlecht oder ein möglicher Zusammenhang zu einer Schleuserorganisation.

Wer der Polizei ohne Aufenthaltserlaubnis ins Netz geht, wird nach der Befragung freilich nicht einfach laufengelassen, sondern muss mit Abschiebehaft rechnen. Karl Kopp von Pro Asyl sagt, die Maßnahme, „passe ins Bild eines repressiven Europa. Die ausgelaugten und häufig traumatisierten Menschen geraten auf ihrer Flucht dann auch noch in die Fänge der Polizei.“

Die Details bekannt gemacht hatte die Organisation Statewatch. Dessen Direktor Tony Bunyan kritisiert, dass Polizeiaktionen wie Mos Mairoum ohne parlamentarische Kontrolle ablaufen. „Der Rat hat versucht, die Öffentlichkeit aus der Sache rauszuhalten. Die Pläne wurden als hoch geheim eingestuft.“ Italien müsse Auskunft darüber geben, wie viele Menschen wie lange und wo festgehalten werden; wie viele nicht wieder freigelassen werden und was mit ihnen passiert.

Mos Maiorum war eine Propaganda-Aktion der italienischen Regierung, ähnlich den „Blitzmarathons“, mit denen die deutsche Polizei Rasern nachstellt. Sie wurde beschlossen, nachdem die Flüchtlingszahlen im Mittelmeer in diesem Sommer stark angestiegen waren. Damals wurde Italien vorgeworfen, die Flüchtlinge stillschweigend nach Norden durchzulassen, statt sie in Italien zu behalten — wie es das EU-Recht verlangt. Mit Mos Maiorum dürfte Italien versucht haben, seine Treue zum europäischen Asylsystem zu belegen. Die virale Mobilisierung gegen die Aktion kritisierte den Fahndungsdruck auf Kriegsflüchtlinge und das Racial Profiling völlig zurecht. Aber sie krankt an der emotionalen Erregungsneigung vieler AktivistInnen. Deshalb zeichnete sie Mos Mairoum größer als es war — und besorgte damit auch das Propagandageschäft Roms.

Einen substantielleren Dämpfer als durch die Mos Maiorum-Aufregung bekam die Praxis rassistischer Polizeikontrollen am 7. November. Da hat das Verwaltungsgericht Koblenz die verdachtsunabhängige Kontrolle eines deutschen Ehepaars schwarzer Hautfarbe in einem Regionalzug auf dessen Klage hin für unzulässig erklärt. Außer dem Ehepaar wurden in dem vollbesetzten Regionalzug keine weiteren Fahrgäste die kontrolliert. Es habe für die Kontrolle keinen sachlichen Anlass gegeben, so das Gericht. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Falls ließ das Gericht aber eine Berufung zu.

Bei solchen Kontrollen beruft sich die Polizei auf den § 22 des Bundespolizeigesetzes. Dieses erlaubt den Beamten, zur „Verhinderung illegaler Einreise ohne Vorliegen einer Gefahr“ selbst zu entscheiden, wer kontrolliert wird. Das Gericht argumentierte, dass die Polizei zwar grundsätzlich das Recht habe, Kontrollen vorzunehmen. Dies setze aber die auf Erfahrung oder eine Lagebeurteilung gestützte Annahme voraus, dass ein Zug für solche Einreisen genutzt werde. Im vorliegenden Fall sei dies jedoch unmöglich, weil der Regionalzug, der zwischen Mainz und Köln unterwegs war, gar keine Grenze oder auch Flug- oder Seehäfen passiert oder erreicht habe.

Die Bundespolizei hatte argumentiert, bei der Strecke handele es sich um eine bekannte Schleuserroute. Auch habe das klagende Ehepaar kein Recht, eine Begründung für die Kontrolle zu erhalten. Dem widersprach das Gericht ausdrücklich.

Die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt begrüßte das Urteil als „richtungsweisend“. Auch der Göttinger Anwalt Sven Adam, der das Ehepaar vertreten hatte, maß ihm entscheidende Bedeutung bei: „Wenn sich die Auffassung der Koblenzer Richter durchsetzt, bedeutet dies die faktische Abschaffung der Kontrollen anhand der Hautfarbe zumindest in den meisten deutschen Zügen und Bahnanlagen“, sagte Adam. Er gehe jedoch davon aus, dass die Bundespolizei „wegen der grundsätzlichen Bedeutung“ gegen das Urteil Berufung einlegen werde.

Damit wird sich das Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz ein weiteres Mal mit den diskriminierenden Kontrollen der Bundespolizei beschäftigen müssen. Erst im Oktober 2012 hatte das Gericht mit einer Entscheidung europaweit für Aufsehen gesorgt, nach der die Kontrolle eines Studenten einzig wegen seiner „Hautfarbe“ nicht mit dem Gleichheitsgrundsatz.