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Musterbeispiel Weitlingkiez

Einleitung

Giyasettin Sayan fährt am Freitag, dem 19. Mai dieses Jahres mit seinem Auto nach Hause zu seiner Wohnung im Berliner Bezirk Lichtenberg. Nach dem Aussteigen wird er nach eigenen Angaben von zwei Männern angegriffen und als »Scheiß Türke« beschimpft. Anschließend schlagen die Angreifer dem Politiker mit einer Flasche auf den Kopf und flüchten unerkannt. Sayan erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma und muss stationär behandelt werden. In den Medien entbrennt daraufhin eine Diskussion um den Kiez hinter dem Bahnhof Lichtenberg. Handelt es sich hier um eine sogenannte »No-Go-Area« oder gar um eine »National befreite Zone«?

Mit Bart (2. v.r.) Detlef Mirek: Gewerbetreibender in der Weitlingstrasse und rassistischer Gewalttäter. Hier auf einer NPD-Demonstration in Pankow.

Ein Kamerateam des Lokalsenders RBB will dieser Frage nachgehen und unternimmt einen Selbstversuch. Der teilweise grotesk anmutende Beitrag wird dabei zu einer für sich sprechenden Realitätsbeschreibung, die sicherlich auf viele Regionen Deutschlands zutrifft. Am Anfang der fünfminütigen Dokumentation stoßen die Reporter gleich auf mehrere Neonazis, die im Weitlingkiez ihren Alltag verbringen. Dem Team schlägt dabei sofort Aggressivität und unverblümte Propaganda entgegen. Auf die Frage, was er denn von dem an Vortag verübten Anschlag auf den Linkspartei Politiker Sayan halten würde, antwortet einer der Neonazis vor laufender Kamera: »[..] Es war ein Hilfeschrei des erwachenden deutschen Volkes!«

Nachdem die Reporter auf weitere Neonazis treffen, kommen ein paar Anwohner zu Wort. Sie sehen kein Problem mit Neonazis in ihrem Kiez und verweisen als Beleg auf eine Vielzahl ausländischer Geschäfte. Die Geschäftsinhaberin eines solchen berichtet dann aber von einer Vielzahl an Bedrohungen und Pöbeleien. Weiter die Straße runter befindet sich ein Sozialdiakonisches Ausbildungswerk in dem offensichtlich einige der rechtsradikalen Jugendlichen vom Anfang des Beitrages arbeiten. Ein Verantwortlicher dieser Einrichtung antwortet auf Nachfrage über seine rechte Klientel: »Wir haben keine Probleme mit rechten Jugendlichen [...] Wir haben Jugendliche die denken so, wie sie die Gesellschaft erleben [...] und sicherlich nicht so, wie die Politiker es gerne hätten.«

Nach weiteren rassistischen Pöbeleien innerhalb der Ausbildungswerkstatt wird die Bezirksbürgermeisterin in der Weitlingstraße interviewt. Während des Gesprächs sammeln sich vermummte Kameradschaftsnazis um die Bezirksbürgermeisterin und schießen Fotos. Unter ihnen Nicole St. und Christian B. aus den Reihen der verbotenen Kameradschaft Tor. Noch während dieses Zwischenfalls kommt der Holocaustleugner und "nationale Anarchist" Peter Töpfer mit einem Fahrrad angefahren und bedroht die Bürgermeisterin. Bevor das Interview endet, wird es noch »unheimlicher«: Am Straßenrand hält Detlef Mirek, der Wirt der Kneipe »Kiste« mit seinem Kleinlaster und bittet den Reporter einzusteigen. Auf der Fahrt hagelt es ausländerfeindliche Parolen und der Reporter steigt zum Ende des Beitrages sichtlich schockiert aus.

Auch wenn dieser Beitrag extrem überladen anmutet, so spiegelt er doch sehr präzise den Alltag dieses Stadtteils wieder. Stadtteile wie der Weitlingkiez stellen sicher auch keine einmaligen Besonderheiten in Deutschland dar. Doch das besondere am Weitlingkiez ist die genaue Nachvollziehbarkeit der Ursachen. Es ist die Mischung aus ignoranter Wohnbevölkerung, rechter Jugendkultur und organisierten Neonazis, die dieses Viertel zum Angstraum macht.

Exkurs: Nazistische Strukturen

Bereits die neonazistische »Nationale Alternative« (NA), die am 1. Februar 1990 von Neonazis aus der DDR in Ost-Berlin gegründet wurde, hatte ihren Schwerpunkt im Weitlingstraßen-Kiez. Sie besetzte ein Haus in der Türrschmidtstrasse 17 als Parteibüro. Da dieses Haus jedoch unter Denkmalschutz stand, bot die kommunale Wohnungsverwaltung den Neonazis diverse Austauschobjekte an. Diese entschieden sich für das Haus Weitlingstraße 122, welches mit tatkräftiger Unterstützung von westdeutschen  und österreichischen Neonazis zur Zentrale ausgebaut wurde. Hierfür wurde ein eigener lokalpolitisch ausgerichteter Verein namens WOSAN (»Initiative für Wohnraumsanierung«) gegründet, welcher am 20. April 1990 als offizieller Verhandlungspartner einen Vertrag mit der lokalen Wohnungsverwaltung abschloss: Keine Mietansprüche seitens der Wohnungsverwaltung und die Option auf ein späteres Dauermietverhältnis für die Neonazis.

Dank dieser optimalen Bedingungen in Lichtenberg werden kurz darauf auch die Häuser in der Weitlingstraße 117 und 119 von Neonazis bewohnt. Erst nach einer breiten antifaschistischen Mobilisierung gegen das Neonazi-Zentrum bekommt die Wohnungsbaugesellschaft langsam kalte Füße und strebt die Räumung der Weitlingstraße an. Die Neonazis bekamen als Gegenleistung für die Räumung dezentrale Wohnungen im Kiez angeboten. 

Von Seiten der Neonaziszene hatte man dieses Quartier zunächst nur als Rückzugsraum auserkoren und diverse Kader verlegten ihre Wohnungen in die Weitlingstraße oder die direkte Umgebung. Nach einiger Zeit konnten sich auch mehrere Neonazi-Wohngemeinschaften etablieren und organisierte Neonazis bestimmten immer mehr das Straßenbild. Vor allem Aktivisten der Kameradschaft Tor siedelten in diese Region um und stießen auf scheinbar ideale Bedingungen.

Nicht nur, dass im Kiez bereits viele ihrer Kameraden wohnten und es bisher kaum antifaschistische Gegenwehr in der Gegend gab, vor allem die Aufgeschlossenheit einiger Gewerbetreibender ließen sie immer heimischer in der Weitlingstraße werden. Besonders hervor in punkto Gastlichkeit tat sich Detlev Mirek, der Wirt der Kneipe »Kiste«. Die Kneipe, in der eine Reichsschankverordnung hängt und deren Wirt mit rechten Aufnähern auf seiner Möchtegern-Rockerkutte rumläuft, bot den Neonazis von Anfang an einen Treffpunkt und Rückzugsraum. Mirek selbst ist Begründer der Kampagne »Fresst keine Döner«. T-Shirts mit dem Kampagnenmotto verkaufte er auch auf einem Weitlingstraßenfest, dessen Mitorganisator er war. Da verwundert es nur wenig, dass er auch wiederholt an rechten Demonstrationen teilnahm. Zudem wurde Mirek kürzlich, wegen einer fremdenfeindlichen Gewalttat, zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt.

Wenn in der Kiste einmal zu viel »normales« Trinkerpublikum anwesend ist, bevorzugen die Neonazis im Weitlingkiez die Kneipe Piccolo als Treffpunkt. In der Szenekneipe, die direkt hinter dem Bahnhof Lichtenberg liegt, sind sie unter sich und können ungestört ihre Dominanz im Kiez ausbauen. Des Öfteren fungierte der kleine Laden als Sammelpunkt vor und nach Angriffen auf antifaschistische Veranstaltungen. Doch ganz ohne Gegenwind konnte sich die Kameradschaft Tor im Kiez nicht ausbreiten. Gegenwind kam vor allem von einer weiteren im Kiez beheimateten Kameradschaft. Die Kameradschaft Spreewacht (KSW) ist eine klassische Skinheadkameradschaft und besteht vorwiegend aus älteren Mitgliedern. Ihr Aktivitätsfeld ist vor allem der Rechtsrock und in ihrem Clubhaus in der benachbarten Wönnichstraße 1  finden Partys und Trinkgelage statt. Ein hier geplantes Rechtsrockkonzert wurde im April durch die Polizei verhindert.

Die KSW liegt im Streit mit der KS Tor, da man sich nicht über die Frage wer wichtiger für die Nationale Bewegung war – Adolf Hitler oder Ian Stuart – einigen konnte. Zwischen den Kameradschaften kam es dabei auch schon zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, aber dennoch scheint im Kiez genug Platz für Beide zu sein. Die rechte Subkultur im Bezirk wird durch den Laden Ostzone bedient, an den sich auch ein Tattoostudio angliedert. Neben Tattoos gibt es hier rechte Lifestyleartikel und Klamotten zu kaufen.

Der den Hells Angels nahestehende Laden ist dabei ein klassischer Mischszenen-Laden, der nicht direkt der Neonaziszene zugeordnet werden kann. Es sind aber nicht nur die Wohnungen und die Infrastruktur der Neonazis, die diesen Kiez zu einem der bevorzugten Rückzugsgebiete in Berlin machen, sondern auch das totale Versagen jeglicher Form von Zivilgesellschaft im Kiez selber. Auf dem Straßenfest in der Weitlingstraße hat sich niemand an Flugblättern und am Infotisch der NPD oder den rassistischen »Fresst keine Döner« Shirts gestört. Auch hier werden die Zusammenhänge eindeutig, wenn man etwas hinter die Kulissen schaut. Das Fest wurde vom lokalen Gewerbetreibenden-Stammtisch organisiert und durchgeführt; exponiertes Mitglied und Mitorganisator des Festes ist Detlef Mirek. Später am Abend tauchte dann auch noch die Kameradschaft Tor auf dem Fest auf und lieferte sich prompt eine Auseinandersetzung mit der Polizei, infolge deren einige Mitglieder festgenommen wurden. Viele Anwohner sehen da schon eher ein Gefahr in asiatischen Imbissen und Läden, die sich im Kiez breitmachen würden. Neonazis gehören bereits soweit zum Alltag, dass sie scheinbar als »normale« Jugendliche wahrgenommen werden und nicht weiter stören.

In der »Hirnholz Werkstatt« des Diakonischen Ausbildungswerkes werden diese Jugendlichen ausgebildet und scheinbar als Querdenker wahrgenommen (siehe oben). Im Sportjugendclub des Sozialarbeiters Peter Steger schließlich, werden Mitglieder der Kameradschaft Tor in Kampfsport unterrichtet – als soziales Projekt versteht sich. In dem vom Berliner Senat geförderten Projekt können sich die Neonazis austoben und es werden Freizeiten und Fahrten organisiert, angesichts der hier herrschenden Zustände jedoch offensichtlich ohne Erfolg. Dieses ist somit eines der wenigen verbliebenen Projekte, welches den pädagogisch lange gescheiterten Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit mit Neonazis verfolgt.

Die Weitlingstraße hat sich so innerhalb weniger Jahre vom rechten Problemkiez in eine regelrechte neonazistische Erlebniswelt verwandelt, in der hauptsächlich organisierte Strukturen den Ton angeben. Solange es keine wirkliche Gegenbewegung aus der – zum Teil migrantisch geprägten – Wohnbevölkerung gibt, wird es schwer werden, diese rechte Hegemonie zu durchbrechen.