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Strategische Gehversuche – mäßiger Erfolg

Einleitung

Nach dem Scheitern des traditionellen Großaufmarsches der Neonaziszene in Dresden im Februar diesen Jahres (vgl. AIB 86), sollte am 1. Mai in Berlin ein motivierendes Ereignis für die rechte Erlebniswelt geschaffen werden. Hierzu wurde vom Vorbereitungskreis um den Demonstrationsanmelder Sebastian Schmidtke (NPD Berlin) und Neonazis der Berliner Kameradschaftsszene um die Internetseite »NW Berlin« (Nationaler Widerstand Berlin) versucht, ein neues Modell in Sachen rechter Demonstrationsstrategie zu etablieren.

Neonazis beim Aufmarsch am 1. Mai im Prenzlauer Berg.

Prämisse der Planung und wichtigste Zielsetzung schien gewesen zu sein, in jedem Fall irgendwie und irgendwo zu laufen und nicht in einem Polizeikessel stehen zu bleiben, falls antifaschistische Gegendemonstrant_innen die Straßen blockieren. An diesem Vorhaben wollte die regionale Neonaziszene um jeden Preis festhalten. Auch wenn dadurch die erhoffte Außenwirkung einer großen, gemeinsamen Demonstration nicht mehr gegeben war und stattdessen der individuelle Aktionsdrang Einzelner eine – zumindest kurzzeitige – Befriedigung finden sollte. Ergebnis dieser neuen »Strategie«: 286 Fest- und Ingewahrsamnahmen bei der Durchführung einer »Spontan«-Demonstration und stundenlanges Warten für etwa 500 angereiste Neonazis am offiziellen Startpunkt der angemeldeten 1. Mai-Demonstration in Berlin-Prenzlauer Berg.

Bundesweite Vorbereitung

Bereits Anfang Februar 2010 lud »Sebastian« von der »Versammlungsleitung Mai 2010« über die »Demoleitung / NW-Berlin« bundesweit zu einem »Koordinierungstreffen 01. Mai« nach Magdeburg ein. Er wollte damit an eine Vernetzung der »Freien Kräfte« bezüglich der (verbotenen) rechten 1.-Mai-Demonstration 2009 in Hannover anknüpfen und eine »gemeinsamen Gestaltung des 1.5.2010« bzw. »weitere Aktionen/Demos etc. in Zukunft« gemeinsam planen. Nach Beobachtungen regionaler Antifaschist_innen folgten Neonazis u.a. aus Berlin, Brandenburg, NRW und Sachsen-Anhalt der Einladung.

Die Internetseite der Berliner Kameradschaftsszene stellte zu diesem Treffen rückblickend etwas kryptisch fest: »Natürlich gab es berechtigte sorgen, dass die Demo, wie bereits in Leipzig und Dresden im Kessel endet, aber auch um diesen Punkt machte man sich zusammen mit Kameraden aus anderen Bundesländern Gedanken und gelang zu einer Lösung«1 .

Dezentrales Konzept per SMS-Verteiler

Die Ergebnisse dieses Treffens bzw. besagte Lösung mit praktischer Umsetzung wurden durch die »Demoleitung / NW-Berlin« bereits am 25. April 2010 überregional »an die Gruppen die noch wichtig sind« bekannt gegeben. Die Anreise sollte bundesweit in Gruppen erfolgen, die sich an fünf von Neonazis betreuten Anfahrtstreffpunkten in und um Berlin sammeln sollten. Für Bahnreisende aus Richtung Magdeburg und Leipzig wurde je ein Bahnhof mit exakten Angaben zu Uhrzeit und Gleis benannt. Züge, PKWs und Busse aus dem Norden und Nordwesten wurden an einem Bahnhof vor den Toren Berlins zusammengefasst. Für Busse gab es die Handynummer der »Demoleitung / NW-Berlin« zum Anmelden und auch PKWs konnten sich bei einem Infotelefon ab dem 30. April den genauen Parkplatz verraten lassen. Zwei weitere S-Bahntreffpunkte in Berlin sollten als Sammelpunkte für regionale Neonazis dienen, die mit dem öffentlichen Nahverkehr anreisen wollten. Von hier aus sollte die Koordination mittels eines zentralen SMS-Verteilers erfolgen. Dieser sollte die Gruppen an den Treffpunkten zueinander geleiten. Sie wurden angewiesen dort so lange zu warten, bis das Kommando zum losfahren kommt.

»Plan B«

In den späten Abendstunden des 29. April wurden die »letzten Infos zur Demo« von der »Demoleitung / NW-Berlin« verbreitet. Hier wurde ein »Plan B« bekannt gegeben: Um 11:30 sollte eine SMS mit der Information »wieviel Personen ihr am Treffpunkt seid und wieviel Bullen ihr ca vor Ort habt« an die offizielle und auf allen entsprechenden Internetseiten veröffentlichte Handynummer der Versammlungsleitung geschickt werden. »Danach kommt eine SMS mit der Lage vor Ort und dem weiteren vorgehen«. Zusätzlich wurde die Telefonnummer eines SMS-Verteilers und eines Ermittlungsausschusses benannt. Falls es am angemeldeten Auftaktort schlecht aussieht, würde eine SMS mit »Plan B« an die wartenden Gruppen an den Treffpunkten gehen. Dieser wurde auch gleich mitveröffentlicht: Es handelte sich um drei Karten mit Demonstrationsrouten durch Berlin. »Plan B für Treffpunkt Oranienburg (Busse/PKW)« sah eine Route vom Bahnhof Messe Nord ICC zum Bahnhof Zoologischer Garten durch Berlin Charlottenburg vor. »Plan B für Treffpunkte Südkreuz und Wannsee« sah eine Route vom Potsdamer Platz durch die Berliner Innenstadt zum Bahnhof Friedrichstraße vor. Hierbei sollten gezielt die Landesvertretung Niedersachsens, das Holocaustdenkmal, das Brandenburger Tor und der Reichstag angesteuert werden.

Für den Fall, dass die nötigen S-Bahnlinien blockiert sind, wurde Kartenmaterial mit einer Demonstrationsroute durch Berlin-Schöneberg mitgeliefert. »Es ist auch bei Plan B mit einer gewissen Polizeipräsenz zu rechnen« warnte die »Demoleitung / NW-Berlin« und stellte unmißverständlich klar: »Entschlossenheit ist also das A und O, wir müssen an diesem Tag unser Recht auf Demonstrationsfreiheit durchsetzen« Falls »alles schief läuft« würde es zu guter Letzt auch noch einen »Plan C« geben, der erst vor Ort bekannt gegeben werde.

»Plan C« = Plan Chaos?

Soweit sollte es aber gar nicht erst kommen. Der Umzingelung von etwa 10.000 Antifaschist_innen am angemeldeten Auftaktort in Prenzlauer Berg ausgesetzt und in der Annahme hier keine großen Sprünge, geschweige denn Kilometer zurücklegen zu können, machten sich etwa 320 Neonazis von einigen der benannten Sammelpunkte auf, die neue »Strategie« umzusetzen.

In dem Bewusstsein, dass »eine Demonstration immer nur ein Teil einer Kampagne« ist, stoppten diese ihre gemeinsame Anreise am S-Bahnhof Halensee und formierten sich kurzzeitig auf dem Kurfürstendamm, nachdem die überforderte Polizei, welche die Anreisenden begleiten sollte, ein Aussteigen nicht verhindern konnte. Doch diese geschlossene Formation, konnte trotz im Vorfeld durchgeführtem »Demotraining« in Berlin nur bis zum Erscheinen weiterer Polizeieinheiten bestehen. Der »Marsch der 350« wurde schnell zerstreut und im Anschluss 286 Neonazis zwei Stunden lang eingekesselt, einzeln kontrolliert und dann in Gewahrsam genommen.

Unabhängig dieser eher missglückten Aktion zeigt sich, dass in der Berliner Neonaziszene ein gewisser Kompetenzgewinn stattgefunden hat, was die in Ansätzen konzeptuelle Vorbereitung, das kampagnenartige Vorgehen und die mediale Begleitung betrifft. Diese Ansätze fußen jedoch weniger auf solider Organisierung oder personeller Stärke. Vielmehr sind sie Ausdruck gestiegenen Selbstbewusstseins, erhöhter Risikobereitschaft sowie der mehrjährigen Erfahrung und der vorbereitenden Schulungen der wenigen vorhandenen Kader. Ob dies langfristig die Berliner Szene aus ihrer relativen Bedeutungs- und Wirkungslosigkeit holt, darf bezweifelt werden. Durch die erforderliche Konspirativität in Planung und Durchführung ist die Teilnahme verstärkt einem festen Kern vorbehalten. Auch besteht offensichtlich die Unfähigkeit, aus der eigenen Schwäche die Notwendigkeit einer langfristigen ›Aufbau‹-Strategie abzuleiten und umzusetzen, statt nach wie vor den Schwerpunkt auf die Konfrontation mit dem politischen Gegner zu legen. Der ideologische Hang zu einem gewalttätigen Habitus kann zwar mobilisierend wirken, weicht aber in der Praxis schnell einer Ernüchterung, wenn er sich in der Nachbetrachtung an den formulierten Ansprüchen messen lassen muss.

Und so herrscht auch nach dem 1. Mai 2010 szeneintern eher demotivierte Zurückhaltung bei der Bewertung der ›neuen Strategie‹ und der Situation in Berlin. Anders die veröffentlichte Einschätzung aus der Berliner Neonaziszene. Auch wenn ihre Selbstbeweihräucherung anlässlich der »neuen Demotaktik« heroisierend erscheint und eine »Militanz auf der Straße« mehr Wunschdenken als Realität blieb, konnten sie in dem 15-minütigen Sprint doch etwas mehr Strecke zurücklegen, als die wartenden »Kameraden« im Prenzlauer Berg, die glatte fünf Stunden für die 800 Meter vom Auftaktort und wieder zurück brauchten. Die nächsten größeren Neonazidemonstrationen werden zeigen, ob sich diese Art der »Arbeitsteilung« langfristig durchzusetzen vermag.
 

  • 1bei allen Zitaten Rechtschreibung im Original