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Verbindungen zwischen dem NSU-Mord an Halit Yozgat und dem Mord an Walter Lübcke

Exif Recherche
Einleitung

Bei den Verbrechen des „Nationalsozia­listischen Untergrunds“ (NSU) kommt dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel eine besondere Bedeutung zu. Denn es war der Verfassungsschutz­-Mitarbeiter Andreas Temme zum Tatzeitpunkt am Tatort.1 Danach hörte die rassistische „Ceska-­Mordserie“, der zwischen 2000 und 2006 neun Menschen zum Opfer gefallen waren, auf. Es liegt nahe, zwischen diesen beiden Fakten einen Zusammenhang zu vermuten.

  • 1Vgl. AIB Nr. 105: „Wir wollen keine Wiederholung der Vergangenheitsbetrachtung“
Bild: NSU-Watch

Am 17. August 2002 posierte Stephan Ernst (mittig) mit schwedischen Neonazis beim neonazistischen „Rudolf Heß-Gedenkmarsch“ in Wunsiedel.

Zum Mord an Halit Yozgat sind noch viele Fragen offen. Nur durch investigative und antifaschistische Recherchen kommen immer wieder neue Fakten ans Licht, die von den ermittelnden Behörden bis dato „übersehen“ oder unterschlagen wurden. Beispielhaft für die Versäumnisse und Vertuschungen stehen Personen aus der Kasseler Neonaziszene, die mit Halit Yozgat oder dem Tatort in Verbindung standen und zu denen sich keine oder nur spärliche Ermittlungen finden.

Die M.K.-Spur

In der Holländisches Straße 82, eröffnete im Frühjahr 2004 der 19-jährige Halit Yoz­gat ein Internetcafé. Am 6. April 2006 wurde er dort von den Mördern des NSU erschossen. Zum Zeitpunkt der Tat wohnte der Neonazi M. K. ebenfalls in der Holländischen Straße - keine 30 Meter entfernt.Auf M. K. stieß die Mordkomission spätestens 2008, als sie das Umfeld des Verfassungsschutz-Mitarbeiters Andreas Temme überprüfte. Eine ihrer Arbeits­hypothesen war, dass Temme einer Gruppe angehört haben könnte, die die Mordserie begangen hatte. Die ErmittlerInnen analysierten dazu das Umfeld von Benjamin G., einem Neonazi der Kasseler Szene und V-Mann, den Andreas Temme geführt hatte. Temme hatte mit G. knapp eine Stunde vor dem Mord ein ungewöhnlich langes Telefonat geführt und sich wenig später zum Internetcafé von Halit Yozgat aufgemacht. So überprüfte die Polizei welche Bekannten von G. Verbindungen zum Tatort in Kassel und zu anderen NSU-­Tatortstädte aufwiesen. G. kannte M.K., beide waren am 18. Juni 2000 an einem rassistischen Angriff in Hofgeismar beteiligt gewesen. Das Handy von M. K. war in den Tagen des Mordes an Halit Yozgat in der Funkzelle des Tatorts eingeloggt gewesen. Doch zu M. K. ist in dem dazugehörigen Auswertungs-Bericht außer seinem Namen, seinem Geburtsdatum und den Hinweis auf den Funkzellen-Treffer nichts zu finden. Nicht einmal seine Adresse in der Holländischen Straße 86 ist genannt.

Es ist überaus brisant, dass eine Person aus dem politischen Freundeskreis von Benjamin G. in unmittelbarer Nachbarschaft des Tatorts wohnte. Vor allem, da es die Umstände der rassistischen Mordserie vermuten lassen, dass der NSU in den Städten der Morde HelferInnen hatte. Dies betraf insbesondere Kassel. In der Zwickauer Wohnung von Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos war eine Skizze des Internetcafés von Halit Yozgat gefunden worden, was zeigt, dass dieses im Vorfeld ausgekundschaftet worden war, möglicherweise von lokalen Neonazis.
Doch es lässt sich nicht feststellen, dass es in all den Ermittlungen im Fall Yozgat eine „Spur K.“ gegeben hat. Weder in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen noch im Münchner NSU-Prozess fiel jemals sein Name.

Die Görtz-Spur

Eine weitere unzureichend verfolgte Spur ist die Personalie Corryna Görtz. Sie war Anfang der 1990er Jahre aus Thüringen in den Raum Kassel gezogen und ein Bindeglied der militanten Naziszenen in Thüringen und Nordhessen. Der ehemalige Neonazi Michael See, der lange Jahre mit ihr vertraut war, war sich in seiner Aussage vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss sicher, dass sie zu Böhnhardt, Mundlos und anderen Personen der Jenaer Szene Kontakt gehabt hatte. In einer „Bildmappe rechtsextremistischer Gewalttäter im Freistaat Thüringen“, die das Landeskriminalamt Thüringen 1997 als internes Fahndungsmittel erstellt hatte, ist Corryna Görtz neben Beate Zschäpe als einzige Frau aufgeführt.

Auf die formale Frage im hessischen Untersuchungsausschuss, ob sie das Internetcafé von Halit Yozgat kenne, antwortete sie mit „Ja“. Görtz erzählte, dass sie als Freigängerin in der JVA Baunatal Ende des Jahres 2005 mehrfach das Internetcafé besucht hatte, um dort Musik herunterzuladen oder Handykarten zu kaufen. Die Frage, warum sie sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht hatte, konnte sie nicht überzeugend glaubwürdig beantworten.

Görtz hatte im Oktober 2004 aus dem Gefängnis heraus an den hessischen Verfassungsschutz geschrieben, angeblich um Informationen über ein Aussteigerprogramm zu erhalten. Wie ihre Kontaktaufnahme zum VS weiter verlief, ist nicht bekannt. Es wäre naheliegend, dass sich daraufhin Temme, sein Vorgesetzter oder seine Kollegin, die zu dritt im Kasseler Büro des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz für „Rechtsextremismus“ zuständig waren, mit ihr in Verbindung setzten.

Temme war Stammgast in dem Internetcafé von Yozgat gewesen. Die Ermittlungen ergaben, dass sich Temme mit seinen Spitzeln aus der Neonaziszene in verschiedenen Kasseler Internetcafés verabredet hatte. Temmes VS-Team in Kassel führte um das Jahr 2006 mindestens fünf V-Personen in der Kasseler Neonaziszene. Von diesen ist bislang nur Benjamin G. namentlich bekannt geworden. İsmail Yozgat erinnerte sich daran, das Temme nicht ausschließlich allein ins Internetcafé kam. Er sei auch einmal in Begleitung einer Frau gewesen. In einer Aussage gibt İsmail Yozgat an, dass die beiden einen sieben- bis achtjährigen Jungen dabei hatten. Corryna Görtz hat einen Sohn in dem beschriebenen Alter. Auch wenn İsmail Yozgats Beschreibung der Frau ansonsten nicht unbedingt auf Görtz schließen lässt, so hätte genau geprüft werden müssen, ob sie diese Frau gewesen war. Doch findet sich bei Görtz hierzu kein Ermittlungsvorgang.

Corryna Görtz bewegt sich seit mindestens Anfang der 1990er Jahre im militanten Kern der Neonaziszene. Bereits 1992 wurde sie in Detmold (Ostwestfalen) als Bewohnerin des Zentrums der 1992 verbotenen neonazistischen Kaderorganisation „Nationalistische Front“ (NF) festgestellt. Sie arbeitete im NF-eigenen "Klartext-Verlag". 1994 unterzeichnetet sie namentlich als „Sekretariat“ von Thorsten Heise, damals niedersächsischer Landesvorsitzender der 1995 verbotenen „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP). Corryna Görtz ist der neonazistischen Szene bis heute verbunden.

Im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss berichtete Oliver P., ein ehemals führender und mittlerweile ausgestiegener Kasseler Neonazi, Görtz habe in der Szene bzw. in seinem Freundeskreis über die Notwendigkeit gesprochen, Spreng­stoff zu beschaffen und Bomben zu bauen. In einer anderen Quelle heißt es, Görtz habe ein kleines Heftchen mit Bombenbau-Anleitungen in Umlauf gebracht, das „Giftpilz“ hieß.

Die Borchardt-Spur

Corryna Görtz soll zeitweilig mit dem Dortmunder Neonazi Siegfried Borchardt, bekannt als „SS-Siggi“, liiert gewesen sein. In der Bekanntschaft von Görtz und Borchardt zeigt sich eine Verbindung von Kassel nach Dortmund, die alarmieren muss. Denn die beiden letzten Morde der „Ceska-Serie“ des NSU, am 4. April 2006 in Dortmund an Mehmet Kubaşık und am 6. April 2006 in Kassel an Halit Yozgat, stehen in zeitlichem Zusammenhang. Zudem: Der Mord an Mehmet Kubaşık geschah in der Dortmunder Nordstadt wenige hundert Meter vom Wohnort von Borchardt entfernt. Und in der Zwickauer Wohnung des NSU-Kerntrios, die Beate Zschäpe vor ihrer Flucht in Brand gesetzt hatte, fanden sich Reste einer Schachtel jener Munition, die in der Mordserie des NSU verwandt worden war. Handschriftlich war auf die Schachtel „Siggi“ geschrieben worden. Aus dem bekannt gewordenen Personenkreis um das Kerntrio des NSU ist kein „Siggi“ bekannt. Es ist unklar, auf wen sich diese Notiz bezieht. Der Journalist Tobias Großekemper, der diese Geschichte recherchierte, schreibt: „Ob Borchardt mit dieser Schachtel etwas zu tun hatte, konnte nicht geklärt werden. Er wurde offiziell nie vernommen.“1

Görtz und Borchardt im Geheimdienst-­Sumpf ?

Michael See sagte vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss: „Corryna Görtz war im Prinzip wie ich überall mit drin. Es würde mich auch nicht wundern, wenn irgendwann mal rauskommen würde, dass Corryna Görtz auch für irgendeinen Geheimdienst gearbeitet hat“. Die ParlamentarierInnen des hessischen NSU-­Untersuchungsausschuss verfügten über Hinweise, dass Corryna Görtz von 2000 bis 2003 während eines Aufenthaltes in Österreich für einen österreichischen Geheimdienst gespitzelt habe. Bei diesbezüglichen Fragen berief sich Görtz auf ein Aussageverweigerungsrecht und ein Zeugnisverweigerungsrecht und als ihr dies nicht zugestanden wurde, wich sie aus und lavierte herum. Viele BeobachterInnen sahen durch ihre Reaktion den Verdacht der Geheimdienst-Tätigkeit erhärtet.

Dass im Fall Görtz vertuscht wurde, wird allein daran deutlich, dass der Verfassungsschutz 2009 ihre Personalakte vernichtete, obwohl Görtz im selben Jahr bei einem Neonazikonzert der Polizei als Ansprechpartnerin diente. Auch lief im selbem Jahr ein Ermittlungsverfahren gegen sie wegen Bedrohung und Sachbeschädigung, weil sie zusammen mit einem anderen Neonazi in Thüringen einen Szene­-Aussteiger drangsaliert haben soll. Die Linkspartei zitiert in ihrem Sondervotum zum Abschlussbericht des hessischen Untersuchungsausschuss vom 17. Juli 2018 aus einem Kurzvermerk des hessischen VS aus dem Jahr 2005: „Seit 2000 liegen keine Erkenntnisse über extremistische Aktivitäten der Görtz mehr vor. Görtz scheint vor allem durch materielle (Versandhandel) und private (Vater ihrer Kinder, sonstige Partner) Motive in der rechtsextremistischen Szene verwurzelt gewesen zu sein. Ein politischer Hintergrund stand vermutlich nie im Vordergrund. Politische Aktivitäten gingen in der Regel von ihren Partnern aus.“ DIE LINKE kommentiert dies treffend: „Dieser Kurzvermerk ist irritierend. Das LfV unterstellt einer Rechtsextremistin, die durch die Kaderschule der NF gegangen ist, und Broschüren zum Bombenbau verfasst hat, dass ein politischer Hintergrund bei ihr nie im Vordergrund gestanden habe, sie quasi ‚Anhängsel‘ von männlichen Aktivisten gewesen sei. Diese Unterschätzung von weiblichen Neonazis ist zwar ein häufig anzutreffendes Phänomen, in dieser Deutlichkeit, formuliert durch eine Sicherheitsbehörde, aber völlig abstrus.

Im Sommer 2018 wurde bekannt, dass auch Siegfried Borchardt seit vielen Jahren mit dem VS kooperieren soll. Die Ruhrnachrichten berufen sich dabei auf die Aussage eines ranghohen Verfassungsschützers, der am Rande des NRW-NSU-­Untersuchungsausschusses bemerkt hatte, dass Borchardt „für ein paar Flaschen Schnaps durchaus für Gespräche gut gewesen sei“.1

Die Hartmann-Spur

Neun Wochen nach dem Mord an Halit Yoz­gat wurde der Neonazi Markus Hartmann auf das Kasseler Polizeipräsidium vorgeladen, um zu diesem Fall befragt zu werden. Die Polizei hatte festgestellt, dass Hartmann auffallend häufig eine Internet-Seite angeklickt hatte, die über den Mordfall und die Ermittlungen berichtete. Die Polizei wollte von ihm wissen, woher sein Interesse am Fall Yozgat rührte. Es war eine Routinebefragung, die nur wenige Minuten dauerte. In knappen Sätzen erzählte Hartmann, dass ein Nachbar von ihm, mit dem er bekannt sei, ein Freund von Halit Yozgat gewesen sei und dass er über diesen Halit Yozgat auch einmal kurz kennengelernt habe. Dieser Nachbar habe ihm von dem Mord erzählt und da er Halit Yozgat ja flüchtig kannte, habe ihn der Fall interessiert. Dem Beamten, der die Befragung durchführte, reichte das aus, nach vier Fragen und Antworten durfte Markus Hartmann gehen. Der Beamte notierte auf dem Spurenblatt: „Nicht weiter relevant, als abgeschlossen anzusehen.“ In keiner Frage an Hartmann findet sich eine Andeutung, die auf seine neonazistischen Aktivitäten und Gesinnung zielte. Dabei kann dem Polizisten nicht entgangen sein, dass sein Gesprächspartner seit den 1990er Jahren zum Kern der Kasseler Neonaziszene gehörte. Selbst als nach der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 der Fall Yozgat nochmals aufgerollt wurde, wurde die Spur Markus Hartmann offenbar nicht mehr aufgegriffen.

Verbindungen zu Stephan Ernst und „Combat 18“

Die Generalbundesanwaltschaft (GBA) wirft Hartmann aktuell Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke vor. Die Frage steht im Raum, ob er oder Stephan Ernst oder eine andere Person aus dem hier beschriebenen Personenkreis auch beim Mord an Halit Yozgat eine Rolle gespielt haben könnte. Auch gibt es Hinweise auf eine mögliche Anbindung einiger Personen an die Kreise um „Combat 18“. Erste Querverbindungen zwischen einigen Personen wurden mittlerweile bekannt.

Anhand einer polizeilichen Personen- und Fahrzeugkontrolle lässt sich nachvollziehen, dass z.B. M.K. und der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, Stephan Ernst, am 25. August 2002 in Dransfeld bei Göttingen wahrscheinlich zusammen unterwegs gewesen waren. Für diesen Tag war in Dransfeld eine Demonstration der Jugend­antifa angekündigt gewesen, die kurzfristig abgesagt worden war. Einige Neonazis waren dennoch angereist. Die PolizistInnen notierten u.a. die Personalien von M.K. Aus den Notizen der Polizeikontrolle lässt sich ablesen, dass M.K. auch zusammen mit dem Kasseler Neonazi Stanley Röske unterwegs war. Später wurde Röske einer der Chefs der Gruppe „Combat 18 Deutsch­land“, die im Januar 2020 verboten wurde.

Auch Görtz und Röske kennen sich aus dem harten Kern der Neonaziszene in Kassel der 1990er, bereits 1995 waren sie zusammen zu einem Treffen der Neonazivereinigung HNG e.V. gereist.
Als der Kasseler Neonazi Mike S., der sich in den vergangen Monaten als Freund von Stephan Ernst zu erkennen gab, am 23. Januar über Facebook fragte, wie er mit einer Zeugenvorladung des Bundeskriminalamts im Fall Lübcke umgehen solle, gab ihm Görtz den Tipp: „Nur mit Anwalt!!!! Ich weiss wovon ich rede!“. Aus einem weiteren Facebook-Post geht hervor, dass sich die beiden noch am selben Tag trafen.

Parallelen zwischen den Morden an ­Halit Yozgat und Walter Lübcke

Die Morde an Halit Yozgat und Walter Lübcke ähneln sich sehr. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Ernst aus der Dunkelheit auf Lübcke zuschlich, der kurz vor Mitternacht auf der Veranda seines Hauses eine Zigarette rauchte. Ohne ihn anzusprechen soll ihn Ernst mit einem Schuss aus ein bis zwei Meter Entfernung ermordet haben. Der NSU-Mord in Kassel gleicht ebenso einer Hinrichtung, auch hier geht man davon aus, dass die Mörder wortlos auf den arglosen Halit Yozgat zugegangen waren und ihm in den Kopf schossen. Zum Mord an Lübcke wie auch zu den „Ceska-Morden“ bekannte sich (bis zur Selbstenttarnung des NSU 2011) niemand.

Zudem stellt sich im Fall Lübcke die Frage, warum der oder die Mörder die Mordwaffe aufhoben – wie der NSU. Die Polizei fand sie in einem Depot, das Stephan Ernst in einem ersten, später wider­rufenen, Geständnis genannt hatte. Die Frage steht im Raum, ob geplant oder angedacht gewesen war, mit dieser Waffe weitere Morde durchzuführen.

Unaufgeklärte Mordversuche

Auf dem Computer von Stephan Ernst wurde eine Liste mit potentiellen Zielen gefunden, die zwischen 2001 und 2007 angelegt worden war. Darin befinden sich Daten von über 60 Objekten und Personen im Raum Kassel. Dies zeigt, dass militante Kasseler Neonazis bereits in den frühen 2000er Jahren „Feindeslisten“ angelegt hatten. Somit gerät insbesondere ein Mordversuch an einer Person ins Blickfeld, dessen Namen und Anschrift sich auf dieser Liste befindet.

Die antifaschistische Zeitung Lotta berichtet darüber im Sommer 2019: „Am 20. Februar 2003 schossen Unbekannte auf das frühmorgens erleuchte Fenster eines damals 48-jährigen Lehrers, der sich über Jahre öffentlich gegen Rechts engagiert hatte. Die Kugel aus einer hochkalibrigen Waffe verfehlte nur knapp seinen Kopf. Er habe den Lufthauch gespürt, sagte der Betroffene der Hessisch/Niedersächsischen Allgemeinen. Es ist für diesen Anschlag kein anderes Motiv denkbar als ein neonazistisches. TäterInnen wurden nie gefasst, es ist nicht einmal ein angemessener poli­zeilicher Ermittlungsvorgang festzustellen.

Zwei Jahre zuvor gab es bereits einen ähnlichen Angriff: Am Abend des 6. August 2001 waren BewohnerInnen, darunter auch Kinder, eines linken Wohnwagenplatzes am Kasseler Hafen dreimal beschossen worden. Ein Bewohner gab Alarm, die anderen löschten die Lichter und gingen in Deckung. Es folgten noch zwei Schüsse. Am nächsten fand ein Bewohner gegenüber auf der anderen Flussseite drei Patronenhülsen des Kalibers 9 mm. Brisant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass es von dem Platz an der Fulda, von dem aus die Schüsse abgegeben wurden, nur ca. fünf Fußminuten zum Haus sind, in dem Markus Hartmann wohnte. Zwar war er zum Zeitpunkt der Schüsse dort nicht gemeldet, wohnte aber mindestens davor und danach in der Wohnung. Von dort sind es nur gute fünf Minuten zu Fuß bis zum Spazierweg am Fuldaufer, von dem aus geschossen wurde.2

Stephan Ernst gilt mittlerweile als Verdächtiger für ein weiteren Tötungsversuch in der Region. Ahmed I., der in einer Unterkunft für Geflüchtete in Lohfelden bei Kassel lebte, wurde am Abend des 6. Januar 2016 nach Verlassen der Unterkunft von einem vorbeifahrenden Radfahrer ohne Vorwarnung ein Messer in den Rücken gestoßen. Ahmed I. wurde lebensgefährlich verletzt und behielt schwere Schäden.3

Nicht-Wollen oder Nicht-Können ?

Bei allen „übersehenen“ Ermittlungsansätzen stellt sich die Frage: Kann polizeiliches Handwerk tatsächlich so miserabel sein? Oder wurden die Ermittlungen zu diesen Personen ausgebremst? Oder wurden Erkenntnisse und Ermittlungsergebnisse den Gerichten und Untersuchungsausschüssen vorenthalten, was einer Vertuschung gleich kommt? Der Fall Temme steht exemplarisch für die dubiose Rolle der Geheimdienste und die Hilflosigkeit aller Versuche hier Licht ins Dunkle zu bekommen. Er macht wenig Hoffnung auf eine Aufklärung, was z.B. der Geheimdienst bezüglich Görtz zu verbergen hat bzw. in welchen Zeiträumen ihres bewegten Szenelebens sie für welche Behörde gearbeitet hatte.

  • 1 a b Vgl. Ruhrnachrichten: "Die im Dunkeln sieht man nicht - Eine Geschichte über den Rechtsextremismus in Dortmund seit 1982" von Tobias Grossekemper, 04.07.2018.
  • 2Vgl. nsu-watch.info: "Blickpunkt Kassel: Alte Fälle, neue Fragen", 25.06.2020
  • 3Vgl. AIB Nr. 126: „Kein Netzwerk gesucht“ von Sonja Brasch