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Neonazistischer Mord in Kassel

EXIF – Recherche & Analyse
Einleitung

Am 15. Juni 2019, wurde in Kassel der Neonazi Stephan Ernst verhaftet, der verdächtigt wird, den Präsidenten des Regierungspräsidiums Kassel, Walter Lübcke, ermordet zu haben. Der dringende Tatverdacht ergibt sich nach vorliegenden Informationen daraus, dass am Tatort eine DNA-Spur des Verhafteten festgestellt werden konnte.

Stephan Ernst (Bildmitte) am 30. August 2002 auf einer Wahlkampfkundgebung der NPD in Kassel, rechts neben ihm Mike S.

Der CDU-Politiker Lübcke war am 2. Juni 2019 auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen (Nordhessen) mit einer Kurzwaffe aus nächster Nähe erschossen worden. Schon unmittelbar nach der Tat war die Täterschaft einer Person der extrem Rechten als wahrscheinlich erachtet worden, da sich Lübcke 2015 in der Diskussion um die Aufnahme von Geflüchteten gegen extrem Rechte gestellt hatte und für diese zu einer Hassfigur geworden war.

Tatverdächtiger war aktiver Neonazi

Der 45-jährige Stephan Ernst aus Kassel ist Antifaschist*innen lange bekannt. Er zählte in den 2000er Jahren zum engeren Kreis um die Neonazis Michel F. und Mike S. Er beteiligte sich an NPD-Auftritten und war 2007 in eine Schlägerei von Neonazis mit Antifaschist_innen verwickelt. Mike S. war eine Führungsfigur der Kasseler Neonazi-­Szene. Michel F. zählte zum Kreis der „Oidoxie Streetfighting Crew“, die seinerzeit vorgab, das deutsche „Combat 18“ zu repräsentieren. Letztmals in die Öffentlichkeit geriet Michel F. im Jahr 2015, als eine antifaschistische Recherchegruppe einen bevorstehenden Waffendeal auffliegen ließ, bei dem Michel F. einem führenden deutschen „Combat 18“-Mitglied zugesagt hatte, diesem „2 bis 3“ scharfe Schusswaffen zu besorgen. Am 1. Mai 2009 war Ernst zusammen mit weiteren Neonazis aus der Kasseler Neonazi-Szene nach Dortmund gereist und beteiligte sich dort an einem Angriff auf die DGB-Demonstration. Dabei wurde er festgenommen. Wie die „Autonome Antifa Freiburg“ berichtete, soll Stephan Ernst außerdem 150 Euro an die AfD gespendet haben. Die Wahlkampfspende im Jahr 2016 sei für den besonders radikalen AfD-Landesverband Thüringen bestimmt gewesen.

Ein ausgestiegener Neonazi warnte in den 2000er Jahren davor, dass Ernst „ein sehr gefährlicher Typ“ sei und wegen eines versuchten oder vollendeten Totschlags zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden war. Dabei handelt es sich – wie Zeit online meldet – um einen Anschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenrodt im Jahr 1993. Ernst deponierte dort eine Rohrbombe, die von den Bewohner*innen gerade noch unschädlich gemacht werden konnte, bevor sie explodierte. Stephan Ernst war auch 2016 Thema im hessischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). Er wurde von der Partei DIE LINKE in einem Beweisantrag als ein Beispiel für gewalttätige Kasseler Neonazis erwähnt. Der Neonazi und V-Mann Benjamin G. bestätigte auf Nachfrage, dass ihm ein „NPD-Stephan“ bekannt sei. Auffallend ist, dass selbst dem Untersuchungsausschuss, der jahrelang die gewalttätige Kasseler Neonazi-Szene durchleuchtete, keine Informationen über den Anschlag in Hohenstein-Steckenrodt zur Verfügung gestellt worden waren, der von einem Neonazi begangen wurde, der seit mindestens 14 Jahren in Kassel wohnt.

Ein C18-Mord ?

Es deutet derzeit einiges darauf hin, dass Ernst zum Netzwerk „Combat 18“ mindestens Kontakte unterhielt. Möglicherweise war er dort tiefer eingebunden. Eine zentrale Person des deutschen „Combat 18“-Ablegers ist der ehemalige Kasseler Stanley R., mit dem Ernst spätestens seit den frühen 2000er Jahren bekannt ist. Das Recherche-Projekt „Exif“ hat erst im Jahr 2018 seine Recherchen über dieses terroristisch ambitionierte neonazistische Netzwerk offen gelegt. (Vgl. AIB Nr. 118) Es ist offensichtlich, dass dieses Netzwerk von Spitzeln verschiedener Behörden und Geheimdienste durchsetzt ist und deswegen seit Jahren von den Behörden, allen voran vom Verfassungsschutz, klein geredet und „an der langen Leine“ laufen gelassen wird.

Am 23. März 2019 trafen sich am Ortsrand von Mücka in Sachsen Neonazis der Gruppen „Brigade 8“ und „Combat 18“ (C18). Eingerahmt wurde die Zusammenkunft von einem RechtsRock-Konzert, für das unter anderem die „Combat 18“-Bands „Oidoxie“ und „TreueOrden“ angekündigt waren und an dem letztlich etwa 200 Personen teilnahmen. Der Austragungsort war ein Gebäude auf einem Waldgrundstück, dass der neonazistischen Bruderschaft „Brigade 8“ als Clubhaus dient.

Bei dem Treffen von „Combat 18“ und „Brigade 8“ ging es um eine zukünftige engere Kooperation der beiden Gruppen, um eine Vereinigung bzw. um eine „offizielle“ Aufnahme der „Brigade 8“ ins „Combat 18“-Netzwerk. Zu dem Treffen war auch Stanley R. angereist. Er führt eine eigene Sektion der 2012 neu gegründeten Organisation „Combat 18“ Deutschland und soll eine Art Europachef im internationalen C18-Netzwerk sein. Stanley R. gehört seit vielen Jahren der „Arischen Bruderschaft“ des Thorsten Heise an und wohnt seit spätestens Anfang der 2000er Jahre in Kassel bzw. im Kasseler Umland. Er nahm unter anderem am 30. August 2002 zusammen mit Stephan Ernst und rund 30 anderen Neonazis an einer NPD-Wahlkampfveranstaltung in Kassel teil.

Der Auftritt von Stanley R. in Mücka kam überraschend, da er erst kurze Zeit zuvor aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Auf Betreiben bayerischer Ermittler*innen war er im Dezember 2018 in Untersuchungshaft genommen worden. Ihm und elf weiteren „Combat 18“-Angehörigen wird der Handel mit verbotenen RechtsRock-CDs und verfassungsfeindlichen Merchandise-Artikeln (u. a. vom in Deutschland verbotenen Netzwerk „Blood & Honour“) vorgeworfen. Schnell war jedoch deutlich geworden, dass das Vorgehen der bayerischen Ermittler*innen offenkundig ein Alleingang war, bei dem die Behörden in anderen Bundesländern nicht mitzogen.

Auf den Bildern des Treffens in Mücka ist in ständiger Nähe zu Stanley R. ein Mann mit weißem Cap zu erkennen. Auf Hinweise und den Verdacht von „Exif“ folgend, veranlasste das ARD-Magazin „Monitor“ die Untersuchung der Fotos durch einen Sachverständigen. Dieser kommt in seinem anthropologisch-biometrischen Identitätsgutachten zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Mann mit höchster Wahrscheinlichkeit um Stephan Ernst handelt. Ein zweites Gutachten widerspricht den Ergebnissen des ersten Gutachtens, welches es als „praktisch erwiesen“ ansieht, dass der zeitweilg Geständige Ernst auf den Fotos zu sehen ist. Der Sachverständige des ersten Gutachtens bleibt jedoch bei seiner Beurteilung.1

Auf der Grundlage des ersten Gutachtens ist es ein recht realistisches Szenario, dass Stephan Ernst „Combat 18“ zugehörig ist bzw. dass er in engem Kontakt zu dessen „Chef“ Stanley R. steht. Das rückt den Mordfall Lübcke in ein viel klareres Licht. Denn „Combat 18“ Deutschland propagiert seit vielen Jahren neonazistischen Mord und Terror, bildet „seine“ Leute an Schusswaffen aus und labelt sich selbst als „Terrormachine“ der militanten Neonaziszene. Und doch kann C18 in Deutschland seit vielen Jahren an der langen Leine der Sicherheitsbehörden wachsen und gedeihen. Vom Verfassungsschutz wird „Combat 18“ seit Jahren systematisch klein geredet. Selbst die bloße Existenz der Gruppe gaben die Behörden erst nach Recherchen antifaschistischer Gruppen zu.

In der „Exif“-Veröffentlichung zu „Combat 18“ im Juli 2018 haben die antifaschistischen Recherchegruppen nach Abwägung vieler Fakten und reiflicher Überlegung die These entwickelt, dass „Combat 18“ Deutschland nicht nur in hohem Maße mit Spitzeln durchsetzt ist, sondern dass die Organisation dem Verfassungsschutz vermutlich als eine Art „Honeypot“ dient, der militante und terroristisch ambitionierte Neonazis anlocken und bündeln soll, um diese besser zu überwachen oder lenken zu können. Dabei steht selbst Stanley R., der seit 20 Jahren ein Abonnement auf Bewährungsstrafen, eingestellte Verfahren und schnelle Entlassung aus der U-Haft hat, bei eigenen Kameraden im Verdacht, für den Geheimdienst zu spitzeln.

Unabhängig davon, ob die benannte Person tatsächlich Stephan Ernst ist, so ist dies ein weiteres Beispiel dafür wie sich seit Jahren oft ungestört militante und terroristisch ambitionierte Neonazi-Gruppen treffen und Allianzen schmieden. Und dass die Behörden, die darüber sehr wohl informiert sind, dies nicht verhindern.

Neue Erkenntnisse

Laut einer Foto-Dokumentation und Recherchen von "Exif Recherche" sollen die Kasseler Neonazis Stephan Ernst und Markus Hartmann am 1. September 2018 auf dem Weg zu einer AfD-Veranstaltung in Chemnitz gewesen sein.2 Auf Anfrage von dem Fernsehmagazin "Monitor" teilte der Anwalt von Stephan Ernst wenig überraschend dazu mit, sein Mandant bestätige die Teilnahme an den Demonstrationen nicht. Stephan Ernst habe mit Markus Hartmann an Aufmärschen in Erfurt und Dresden teilgenommen, aber nicht in Chemnitz.3

Markus Hartmann, einem engen Freund von Ernst, wirft die Generalbundesanwaltschaft „Beihilfe zum Mord“ vor. Wie Ernst sitzt Hartmann derzeit in Haft. Er soll Ernst nicht nur an den Waffenhändler vermittelt haben, bei dem dieser die Tatwaffe kaufte, sondern sich auch gemeinsam mit ihm radikalisiert und an Schusswaffen trainiert haben. Bei einer Hausdurchsuchung wurde bei Hartmann ein Buch des extrem rechten Autors Akif Pirinçci gefunden, indem der Name des Tatopfers Dr. Walter Lübcke mit einem Textmarker gelb markiert worden war. Die politischen Weggefährten besuchten am 14. Oktober 2015 zusammen die Bürgerversammlung in Lohfelden bei Kassel, auf der Walter Lübcke den Plan verteidigte, vor Ort eine Unterkunft für geflüchtete Menschen einzurichten.

Dort wohnte der 22-jährige Ahmed I., dem am 6. Januar 2016 in der Nähe der Unterkunft von einem vorbeifahrenden Radfahrer ein Messer in den Rücken gestoßen wurde. Ahmed I. wurde lebensgefährlich verletzt und erlitt bleibende Schäden. Die Generalbundesanwaltschaft verdächtigt Stephan Ernst, auch diese Tat begangen zu haben.

Bereits 2009 nahmen Hartmann und Ernst an Neonazi-Aufmärschen in Dortmund und Dresden teil. Markus Hartmann wurde zudem im Juni 2006 zum NSU-Mordfall Halit Yozgat befragt, da er auffallend häufig die Fahndungsseite der Polizei im Internet aufrief. In nur wenigen Sätzen erklärte Hartmann damals in einer Zeugenvernehmung, dass er Halit Yozgat und einen Freund von Yozgat kenne. Weitere Nachfragen der Polizei blieben aus, obwohl bereits damals aktenkundig war, dass Hartmann der organisierten Neonazi-Szene angehört. Vor wenigen Wochen wurde zudem bekannt, dass Hartmanns politischer Weggefährte Stephan Ernst namentlich elf mal in dem gesperrten NSU-Geheimbericht des Verfassungsschutzes Hessen auftaucht.

Bisher gaben Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang und Innenminister Horst Seehofer auf einer Pressekonferenz im Juni 2019 an, dass Stephan Ernst lediglich bis 2009 als Neonazi in Erscheinung getreten war und danach von ihrem Radar verschwunden sei. Haldenwang dachte laut darüber nach, ob man den Täter als „Schläfer“ kategorisieren sollte. Ernst war kein Schläfer, sondern ein durch und durch gewalttätiger Neonazi, der jederzeit für die Behörden greifbar war. Nun muss geklärt werden, ob der Verfassungsschutz – zu recht als die gefährlichste Behörde Deutschlands bezeichnet – die Öffentlichkeit und Politik erneut bewusst desinformiert haben oder wie es sein kann, dass sie bei dem immensen Personal- und Geldaufkommen die Aktivitäten von Ernst und Hartmann nicht beobachteten.