Zum Mord an Walter Lübcke: Kein Netzwerk gesucht
Sonja BraschAm 16. Juni 2020 wurde der Prozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann vor dem Oberlandesgericht Frankfurt eröffnet. Ernst wird der Mord an dem Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie der Mordversuch an einem jungen Mann aus rassistischen Motiven vorgeworfen, Hartmann soll ihn ideologisch unterstützt und ihm Zugang zu Waffen ermöglicht haben, so die Erzählung der Bundesanwaltschaft.
Auch ein Untersuchungsausschuss im hessischen Parlament soll sich noch vor der Sommerpause konstituieren, um die Umstände der Taten und das Handeln der Geheimdienste zu beleuchten. Denn es ist klar, die Behörden wussten mehr über die Täter, als sie zu Beginn zugaben. Klar ist aber auch, dass es bei beiden institutionellen Vorgängen um die direkte Schuld und Verstrickung der beiden Angeklagten geht, nicht aber darum die neonazistische Szene in Kassel zu durchleuchten, die die rechtsterroristischen Taten ermöglicht.
Die Erzählung der Bundesanwaltschaft ist klar: In der Nacht des 1. Juni 2019 soll der Kassler Neonazi Stephan Ernst als alleiniger Täter den Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses im nordhessischen Istha mit einem Kopfschuss hingerichtet haben. Er wurde gut zwei Wochen später festgenommen, da er mittels einer DNA Spur ermittelt wurde. Ernst legte ein umfassendes Geständnis ab, auf Grundlage dessen sein mutmaßlicher Helfer Markus Hartmann am Folgetag ebenfalls festgenommen wurde. Hartmann soll von der konkreten Tat nichts gewusst haben, er habe aber mit Ernst die gleiche Ideologie geteilt und ausgelebt, ihm Zugang zu Waffen ermöglicht und mit ihm Schießtrainings veranstaltet und damit das Attentat in billigend Kauf genommen haben. Ernst widerrief sein erstes Geständnis und belastete Hartmann in seinen erneuten Einlassungen schwer. Die beiden seien gemeinsam nach Istha gefahren, um Lübcke „eine Abreibung zu verpassen“, dabei habe Hartmann die Waffe in der Hand gehalten und es habe sich ein Schuss gelöst. Die Bundesanwaltschaft stützt ihre Anklage allerdings weiter auf das erste Geständnis von Ernst.
Stephan Ernst wird eine weitere Tat zu Last gelegt: Am Abend des 6. Januar 2016 war Ahmad E. draußen unterwegs, um sich Zigaretten zu kaufen. Er war im Juni 2015 aus dem Irak vor dem IS geflohen und lebte in der Geflüchtetenunterkunft in Lohfelden. Ahmad war mit seinem Telefon beschäftigt, als sich ein Mann auf einem Fahrrad näherte und eine Parole rief, von der er nur „Deutschland“ verstand. Kurz darauf stach ihm der Mann mit einem Messer zwischen die Schulterblätter, er erlitt schwere Verletzungen. Ahmad E. wies immer wieder auf das sehr wahrscheinliche rassistische Motiv hin, die Ermittler prüften bekannte Nazis in der Region. Auch bei Stephan Ernst schauten sie vorbei, fotografierten sein Fahrrad. Anscheinend ließen sie sich aber derart einfach abwimmeln, dass sie Ernst nicht genauer überprüften. Es wurde kein Täter ermittelt. Erst nach der Festnahme von Stephan Ernst wendete sich der junge Mann gemeinsam mit der Betroffenenberatung „response“ mittels eines Briefs erneut an die Behörden. Gleichzeitig machte auch Ernst bei seinem Geständnis Aussagen, die ihn als Täter dieser Nacht infrage kommen ließen. Die Kölner Silvesternacht sei für ihn ein Schlüsselerlebnis gewesen, das ihn dazu bewogen habe, in Lohfelden Plakate abzureißen, von einem Angriff sprach er allerdings nicht. Bei einer erneuten Durchsuchung im Haus der Familie Ernst fanden die Ermittler dann die vermeintliche Tatwaffe mit DNA-Spuren, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vom Opfer stammen.
Zwei Seiten der rassistischen Medaille
Beide Taten, die Stephan Ernst und zum Teil Markus Hartmann vorgeworfen werden, hängen eng zusammen und stehen im Kontext der rassistischen Mobilisierungen der letzten Jahre. An ihnen lässt sich gut analysieren, wie Rassismus als Klammer von der (extremen) Rechten bis weit in die Mitte der Gesellschaft wirkt und wie die rassistische Mobilisierung in den Parlamenten, Medien und den Sozialen Netzwerken sich in die Tat umsetzt. Beide Opfer sind ausgewählt worden, weil sie die als „Willkommenskultur“ bezeichnete Offenheit der Gesellschaft, Menschen aufzunehmen, repräsentieren. Der eine als Entscheidungsträger, der andere als konkreter geflohener Mensch.
Ernst und Hartmann waren gemeinsam zur Bürgerversammlung zur Eröffnung einer Gemeinschaftsunterkunft in Lohfelden gegangen. Ahmad E. sollte später in dieser Unterkunft leben. Der örtliche PEGIDA-Ableger KAGIDA hatte zur Teilnahme an der Versammlung aufgerufen. Dort filmte Hartmann den Satz von Walter Lübcke, der ihn in rechten Kreisen zur Hassfigur machen sollte und stellte ihn ins Netz. Beide unterstützen die AfD und nahmen an einer rassistischen Demonstration in Chemnitz teil. Die rassistische Mobilisierung und die fehlende klare Haltung dagegen befördern erneut das Gefühl militanter Rechter, den „Volkswillen“ auszuführen. Ob die beiden dabei allein vorgingen oder noch weitere Personen in die Pläne eingeweiht waren, wird nicht Gegenstand des Verfahrens sein. Ziel der Bundesanwaltschaft ist, wie im Strafprozess üblich, der Nachweis der Schuld der beiden Angeklagten. Wie auch beim NSU-Prozess wird hier die Einzeltäterthese weitergestrickt. Das BKA kündigte in 2019 an, parallel zu den Ermittlungen der BAW ein Strukturermittlungsverfahren zu führen, über den Stand der Ermittlungen wurde die Öffentlichkeit aber nie weiter informiert.
Aufklärungsversuch im Parlament
Die Oppositionsparteien in Hessen planen, einen Untersuchungsausschuss zu den Personen Ernst und Hartmann einzusetzen. Zum einen können hier die Zusammenhänge zwischen dem NSU-Mord an Halit Yozgat und dem Mord an Walter Lübcke aufgegriffen werden1 1, zum anderen muss sich der hessische Verfassungsschutz für sein Verhalten bezüglich der beiden Personen verantworten. So konnten Ernst und Hartmann legal mit den Waffen trainieren und sie erwerben, weil der Geheimdienst Erkenntnisse zu Hartmann dem Gericht gegenüber vorenthalten hatte. Die Stadt Kassel wollte Hartmann keine Waffenerlaubnis ausstellen, dieser wehrte sich im Jahr 2015 gerichtlich dagegen und bekam Recht, da das Gericht keine ausreichenden Belege hatte, um Hartmann den Umgang mit Schusswaffen zu untersagen. Der Verfassungsschutz spricht erneut von einer „Panne“ und beteuerte, dass die Behörde heute nicht mehr so handeln würde. Es scheint unglaublich, was sich der Verfassungsschutz und das Innenministerium in Hessen erlauben kann, ohne dass daraus Konsequenzen gezogen werden. Noch im Untersuchungsausschuss zum NSU hatte man beteuert, die Behörde umstrukturiert zu haben. Der in 2013 für den Reformprozess der hessischen Behörde zuständige Beamte Kanther hatte im Ausschuss 2017 beteuert: „Wir sind den Rechtsextremen mit den Waffenbesitzen hinterher, versuchen denen alles wegzunehmen, was geht, und das einzuschränken.“ Geradezu absurd scheint es, dass der Tod des CDU-Politikers durch die Informationsverweigerung des Geheimdienstes gegenüber eines Gerichts ermöglicht wurde.
Auch das hessische Innenministerium gibt in der Causa Ernst und Hartmann keine gute Performance ab. Innenminister Beuth gibt nur zu, was bereits öffentlich bekannt ist und fährt die gewohnte Salamitaktik und sprach von „abgekühlten Rechtsextremisten“. Hinter diesem Begriff steckt nicht nur erneut ein falsches Verständnis von rechtem Terror, es handelte sich auch um eine offensichtliche Lüge.
Ernst und Hartmann sind lange schon Teil der organisierten Neonaziszene in Kassel. Sie sind mit dem ideologischen Handwerkszeug dieser Szene ausgerichtet, um die eindeutigen rassistischen Botschaften aufzugreifen und nach ihnen zu handeln. Sie sind in Kassel bis heute gut vernetzt und organisierten sich in verschiedenen politischen Zusammenhängen, von der „Freien Kameradschaft“, der NPD bis zur AfD.
Das hessische Parlament will in einem Untersuchungsausschuss diesen offenen Fragen weiter nachgehen. Es bleibt dabei zu hoffen, dass sich die Abgeordneten nicht auf die Theorie der zwei Einzeltäter einlassen, sondern die Verbindungen von Ernst und Hartmann in die Kassler Neonaziszene, die Bedeutung der rassistischen Mobilisierung in Kassel und die Verstrickungen der Behörden in die Szene zum Thema des Ausschusses machen, um den Mechanismen auf die Spur kommen zu können, die Kassel immer wieder zum Tatort machen.
- 1Hartmanns Name war bereits in den NSU-Ermittlungen genannt worden. Eine Veröffentlichung der Rechercheplattform Exif geht detailliert auf die Zusammenhänge zwischen 2006 und 2019 ein.