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30 Jahre Asyl-Diskurs, 30 Jahre rechter Terror

Robert Fietzke
Einleitung

In der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 wird der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) auf seiner Terrasse mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe hingerichtet. Der mutmaßliche Täter Stephan Ernst, ein 45-jähriger Neonazi, gesteht erst und widerruft dann sein Geständnis – wohl aus taktischen Gründen.

Bild: Screenshot YouTube/mdr

Sommer 1992: Auch in Quedlinburg im Harz kommt es zu einem rassistischen Pogrom. Neonazis und Bürgermob greifen eine Woche lang das städtische Flüchtlingsheim an. Die Polizei greift nicht ein. Erst eine Antifa-Demonstration bereitet dem ein Ende. Schließlich lässt die Landesregierung die Flüchtlinge in andere Städte verlegen. Der Forderung der Neonazis wird nachgegeben.

Ein Mord mit hundertfacher Ansage

Dem Mord voraus geht eine jahrelange Kampagne extrem rechter Akteur*innen gegen Walter Lübcke, die im Herbst 2015 ihren Anfang nimmt. Der CDU-Politiker trifft bei einer Bürger*innenversammlung anlässlich der Eröffnung einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Kassel auf rassistische Pöbler. Nach mehrmaliger Unterbrechung durch die Störer erwidert Lübcke, dass man in Deutschland für Werte eintreten müsse.  „Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“ Daraufhin wird es laut. Buhrufe, Raunen, Schreie. Ein bei Youtube hochgeladenes Video dokumentiert die Szenerie. Ein Mann, der sehr nah an der Kamera steht oder möglicherweise selbst filmt, sagt laut: „Ich glaub‘s nicht!“ und ruft in den Saal „Pfui! Verschwinde!“. Dieser Mann ist Stephan Ernst. Eine Lawine an Hass-Mails erreicht in den nächsten Tagen das Regierungspräsidium.

Dann greift der rassistische Blog „pi-news“ die „Story“ auf. Lübckes Adresse und Telefonnummer werden veröffentlicht. Auch die AfD springt auf den rollenden Zug aus Vernichtungsfantasien auf und postet etwas dazu auf ihrer Facebookseite. In den Kommentarspalten wird bereits sein Kopf gefordert. Nach und nach ebbt die gezielte silencing-Kampagne ab – bis Erika Steinbach, inzwischen Vorsitzende der AfD-nahen "Desiderius-Erasmus-Stiftung", im Februar 2019 erneut etwas dazu bei Twitter postet. Wieder ergießt sich der Hass in den sozialen Medien. „Dieser Hans Wurst gehört gelyncht“ heißt es unter anderem. Wenige Monate später wird Walter Lübcke tatsächlich gelyncht. Ein Mord mit hundertfacher Ansage.

Der Intensivtäter wird häuslich – und verschwindet vom Radar

Die Biografie des mutmaßlichen Täters, Stephan Ernst, gibt Aufschluss über den Zusammenhang zwischen früheren Gewalt- und Ermächtigungserlebnissen in einem neonazistischen Umfeld und den gesellschaftlichen Diskursen. 1989, mit 15 Jahren, setzt er ein Mehrfamilienhaus in Aarbergen-Michelbach (Hessen) in Brand. Mit 19 sticht er auf einer öffentlichen Toilette mit einem Messer auf einen „Ausländer“ ein und verletzt ihn dabei lebensgefährlich. Mit 20 versucht er, eine Asylunterkunft mit einer selbst gebastelten Rohrbombe in die Luft zu jagen, was nicht gelingt, weil die Bewohner*innen der Unterkunft die Explosion verhindern. Danach wandert er für sechs Jahre ins Gefängnis.

Nach Absitzen der Gefängnisstrafe wendet er sich wieder seinen neonazistischen Netz­werken zu. Er macht Wahlkampf für die NPD, was ihm den Spitznamen „NPD-Stephan“ einbringt. 2003 ist er laut Ermittlungsakte sogar an einem gemeinschaftlichen Totschlag beteiligt. Ab 2005 gibt es keine Einträge mehr. Er kauft ein Haus, renoviert und zieht mit Ehefrau und Kindern ein. Doch er ist weiterhin aktiv. Ein Video zeigt ihn bei einer Auseinandersetzung im Februar 2007 in Kassel am Rande einer DGB-Bildungsveranstaltung. Es kommt zu Wortgefecht und Schlägerei. Am 1. Mai 2009 greift er mit anderen Kameraden eine DGB-­Demonstration an und erhält dafür eine Bewährungsstrafe. Insgesamt weist seine Akte 37 Einträge auf. Eine „stolze“ Neonazi-­Karriere über einen Zeitraum von 20 Jahren. Trotzdem verschwindet Ernst ab 2010 vom Radar der Sicherheitsbehörden.

Früh-Radikalisierung im Zeichen der „Wende“

Die Parallelen zum NSU sind bestechend. Ebenso wie die Neonazis Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe und ihre zahlreichen Unterstützer*innen findet die Früh-Radikalisierung in den Umbruchzeiten der „Wende“ statt. Im Zusammenhang mit der Perestroika-Transformation, dem Zusammenbruch des Ostblocks und kriegerischen Konflikten auf dem Gebiet Jugoslawiens steigen die Flüchtlingsbewegungen Anfang der 1990er-­Jahre in Europa stark an. Schon Ende der 1980er-Jahre starten die Unionsparteien eine dezidiert rassistisch und zum Teil antiziganistisch aufgeladene Kampagne gegen Zuwanderung, Geflüchtete und das Grundrecht auf Asyl. Sie weben Kampfbegriffe wie „Asylmissbrauch“ in den Diskurs ein. Auf einem CDU-Wahlplakat aus Bremen von 1991 ist zu lesen: „Asylmissbrauch beenden. Schein-Asylanten konsequent abschieben. Grundgesetz ändern.“ Unterstützung erhält diese Kampagne auch von Leitmedien. Die BILD titelt „Fast jede Minute ein neuer Asylant!“, während der SPIEGEL schon 1990 fragt: „Asyl in Deutschland? Die Zigeuner“. „Das Boot ist voll“ wird zum raumgreifenden Apokalypse-Sprachbild einer rassistischen, flüchtlingsfeindlichen Bewegung aus Parteien, Medien und von Neonazis angeführten Menschenmassen auf der Straße, die in Pogromen und Morden mündet.

Trotz den nicht enden wollenden rassistischen Gewalteruptionen, für die Ortsnamen wie Hoyerswerda1 , Rostock-Lichtenhagen2 und Mölln3 beispielhaft stehen, und die viele Todesopfer gefordert haben, reißt die Kampagne gegen Zuwanderung und das Grundrecht auf Asyl nicht ab. Am 6. Dezember 1992 knickt die SPD unter Lafontaine ein. Der „Asylkompromiss“ steht. Die Neuregelung, die im Mai 1993 im Bundestag verabschiedet wird, schränkt den Artikel 16 des Grundgesetzes so sehr ein, dass das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft wird.

Drei Tage später feiern vier junge Neonazis aus Solingen diesen „Erfolg“, als sie Brandsätze auf ein von zwei türkischen Familien bewohntes Haus werfen und dabei fünf Menschen ermorden. Der damalige CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl schlägt die Einladung, an der Trauerfeier teilzunehmen mit der Begründung aus, er wolle nicht in „Beileidstourismus“ verfallen.

Rechter Terror und seine politische Satisfaktion

Zwei Charakteristika sind im Hinblick auf den rechten Terror der frühen 1990er-Jahre besonders zentral: Die für eine ganze junge Generation an Neonazis besonders prägsamen Gewalt- und Terror-Erfahrungen und die die Gewalt legitimierenden Reaktionen aus der Politik. Mit Akten rechten, rassistischen Terrors faktisch politische Erfolge einzufahren und bestimmte Forderungen zumindest teilweise erfüllt zu bekommen, prägen das Aktionsbild von Neonazis bis heute.

Am Beispiel von Stephan Ernst lässt sich zudem ablesen, dass der gegenwärtige Asyl-Diskurs, der in der Schärfe und Menschenverachtung dem der frühen 1990er-Jahre in nichts nachsteht, nicht nur eine Neu-Radikalisierung weiter Teile der Bevölkerung bedeutet, sondern auch eine Re-Radikalisierung älter gewordener Neonazis mit sich gebracht hat. In seinem widerrufenen Geständnis nimmt Ernst Bezug auf zwei Ereignisse, die ihn „aufgewühlt“ hätten, die Kölner Silvesternacht 2015/16 und der islamistische Anschlag in Nizza 2016. Offensichtlich stellte Lübcke eine Projektion für sämtliche Feindbilder im Zusammenhang mit der „Flüchtlingsfrage“ dar, eine Projektion, die nahe genug wohnte und gesamtschuldnerisch für die „Invasion“ und den „Volkstod“ zur „Rechenschaft“ gezogen werden sollte.

Mit Blick auf die zahlreichen Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts seit 2014 kann festgestellt werden, dass sich nur wenig am Mechanismus geändert hat, dass die konkrete Tat auch konkrete politische Wunsch­ergebnisse nach sich zieht. Weder der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungs­ausschusses noch die zahllosen rechten Brand- und Mordanschläge der letzten fünf Jahre haben ein Umdenken der politischen Akteur*innen im Zusammenhang mit der Bekämpfung rechten Terrors mit sich gebracht.

Im Gegenteil, es scheint, als gingen der konkrete Terror gegen Geflüchtete, Muslime, Linke und Andersdenkende und die fortwährende Entrechtung geflüchteter Menschen im Gleichschritt, als sich bedingende und beschleunigende Anteile. Dass rechte Terrorpolitik auch heute faktisch erfolgreich ist, ist dabei auch eine Spätfolge der Versäumnisse der Vergangenheit. Sie haben es möglich gemacht, dass eine alte Generation von Neonazis ihre Erfolgserfahrungen mit politischer Gewalt an eine nachgewachsene Generation weiter­geben konnte. Von diesen Erfahrungen profitieren wiederum andere Akteur*innen, die es in ihrem Ansinnen, sich auf den „Tag X“ vorzubereiten, noch etwas ernster meinen, Waffendepots anlegen und schon mal Leichensäcke und Ätzkalk bestellen.

Wird dieser Mechanismus der politischen Satisfaktion nach rechtem Terror nicht endlich durchbrochen, werden immer neue Legitimationsrahmen für eben diesen entstehen. Diese Entwicklung ist spiralförmig und ein Ende ist kaum abzusehen.

  • 1Im September 1991 veranstalten Neonazis, angefeuert und unterstützt von 500 Anwohner*innen, ein rassistisches Pogrom in Hoyerswerda. Molotow-Cocktails und Steine werden unter Beifall auf Vertragsarbeiter- und Flüchtlingswohnheime geworfen. Insgesamt werden 32 Menschen verletzt. Die Polizei greift nicht ein.  Die Opfer dieses rassistischen Fanals werden „evakuiert“, die meisten werden abgeschoben.
  • 2Ein Jahr später, im August 1992, fliegen Molotow-Cocktails in das „Sonnenblumenhaus“ im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen, in dem 120 Vietnames*innen eingeschlossen sind. Deutsche klettern Balkone hoch, um zu lynchen. 2.000 applaudieren bei Bier und Bratwurst.
  • 3Im November stecken zwei Neonazis zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in Mölln (Schleswig-Holstein) in Brand. Die beiden 10- und 14-jährigen Mädchen Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz sowie ihre Großmutter Bahide Arslan (51) sterben in den Flammen, neun Menschen werden verletzt.