„Der Krimi ist der Gesellschaftsroman unserer Zeit“
Der Krimi-Autor Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Vor einigen Wochen lief seine erste Krimi-Verfilmung im deutschen Fernsehen. Wolfgang Schorlau neustes Buch soll bald erscheinen: Der Stuttgarter Privatdetektiv Georg Dengler soll in diesem die Mordserie der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) aufklären. Mit seinen Dengler Krimis hat sich der Schriftsteller zu einem der wichtigsten Vertreter des Politkrimis in Deutschland entwickelt. Die Gesamtauflage seiner Bücher beläuft sich mittlerweile auf fast eine Million Exemplare. Sieben Dengler-Krimi-Romane sind bisher erschienen, der achte mit dem vorläufigen Titel „Die schützende Hand“ soll in Kürze erscheinen. Wir sprachen mit ihm darüber.
In Ihrem neuen Krimi befassen Sie sich mit den NSU-Morden und den skandalösen Verquickungen zwischen Neonaziszene und Inlandsgeheimdiensten. Kann ein Krimi der Wahrheit näher kommen als ein Prozess?
Erzählen ist eine völlig andere Form, Wirklichkeit zu rekonstruieren als ein Gerichtsprozess. Ich versuche mir ein Bild zu machen, unterschiedliche Geschehnisse zusammenzufügen, die Realität zu verstehen und sie dann in einer Handlung nachzuahmen. Erzählungen sind daher genau so realistisch wie die Wirklichkeit. Und, wenn sie gelingen, können sie der Wahrheit näher kommen, als z.B. der Münchner Prozess, mit den unterschiedlichen Eigen- und Sonderinteressen der Akteure. Interesse an Aufklärung, an der Wahrheit, wenn Sie so wollen, zeigt in diesem Prozess allein die Nebenklage.
Sie sind bekannt, für Ihre Krimis immer sehr genau zu recherchieren. Gab es Momente bei Ihren Recherchen, wo Sie kaum glauben konnten, was Sie da lasen?
Es ist etwas anderes, viel spannenderes geschehen: Durch die Recherche setzte sich langsam ein anderes Bild von Deutschland zusammen, als ich es bisher im Kopf hatte. Wie die meisten von uns dachte ich, wir leben in einer „geglückten Demokratie“ mit mehr oder weniger großen, aber abstellbaren Unzulänglichkeiten. Der Historiker Josef Foschepoth fragt (allerdings in einem anderen Zusammenhang): Ist es nicht an der Zeit, die bisherigen Theorien und Deutungsmuster der bundesrepublikanischen Geschichte anhand neuer Fragestellungen auf der Grundlage einer sich enorm verbreiternden Quellenbasis zu überprüfen? Dazu will das Buch einen Beitrag leisten.
In Ihrem Buch „Das München-Komplott“ von 2009 geht es um das Oktoberfestattentat in München. Im Dezember 2014 wurden die Ermittlungen in diesem Fall tatsächlich wieder aufgenommen. Erhoffen Sie sich von Ihrem NSU-Buch auch eine aufklärerische Wirkung auf Öffentlichkeit und Ermittlerkreise?
Der Krimi ist der Gesellschaftsroman unserer Zeit. Und Aufklärung oder einen Blick hinter die Kulissen erwartet die Leserin und der Leser ja wohl zurecht von einem Gesellschaftsroman.
Ein Krimi hat gewöhnlich mehr Leser_innen als ein Sachbuch. Besteht gleichzeitig die Gefahr, dass die Leser_innen Fakten als Fiktion aufnehmen, wenn diese in einem Krimi stehen?
Wieso Gefahr? Ich schreibe Fiktion. Figuren und Handlung sind erfunden. Der zugrunde liegende Sachverhalt jedoch nicht. In „Die schützende Hand“ dokumentiere ich in einem Anhang sehr penibel meine Quellen.
Wer hat Ihrer Einschätzung nach ein Interesse am Verschleiern und Vertuschen der NSU-Hintergründe? Nur Staatsorgane die ihr eigenes Versagen decken wollen, oder steckt mehr dahinter?
Lesen Sie das Buch.
Wird es für die Leser_innen der Artikel über Neonazi-V-Leute und der Artikel über den NSU-Komplex im Antifaschistischen Infoblattes noch neue Überraschungen in Ihrem neuen Roman geben?
Ja.
Wolfgang Schorlau
„Die schützende Hand“ (erscheint am 12. November 2015)
14.99 EUR
ISBN: 978-3-462-04666-3