Fünf Jahre nach Breivik
Stein LillevoldenAm fünften Jahrestag des von Anders Behring Breivik begangenen grausamen Massenmords an 69 Kindern und Jugendlichen beim sozialdemokratischen Sommerlager auf der norwegischen Insel Utøja und dem Bombenangriff auf ein Regierungsgebäude in Oslo, der acht Menschenleben kostete, taucht in München ein jugendlicher Nachahmer auf und ermordet acht junge Menschen. Diverse Hinweise legen hierbei auch eine rassistische Motivation nahe. In Breiviks sogenanntem Manifest „2083 — A European Declaration of Independence“ und dem nachfolgenden Gerichtsverfahren beschreibt dieser eine angebliche Organisation von heimlichen Solo- und Duo-Zellen. Diese Zellen würden überall in Europa darauf warten, gegen Islamisten und Dschihadisten in den Krieg zu ziehen. Zwar wird ein (möglicherweise auch psychisch kranker) 18-jähriger deutsch-iranischer Jugendlicher wohl kaum ein Alliierter im arischen Rassenkrieg sein, dennoch wird diese Solo-Zelle aus München von Breivik sicher als Beginn eines europäischen Bürgerkriegs gewertet. Ein Bürgerkrieg, in dem Breivik sich als ersten Märtyrer sieht. Noch steht die Tragödie von München eher für das Gegenteil und ist deutlicher Ausdruck dafür, dass all das, was Breivik zu seinem sogenannten Manifest zusammengekleistert hat, in den fünf Jahren nach Utøya keinerlei organisierte Fortsetzung gefunden hat.
Der Sieg des Rassismus
Weitaus erschreckender als Breiviks „einziger Getreuer“ ist, wenn Europas Fokus auf einen ISIS-inspirierten Terrorismus immer häufiger mit einer politisch heuchlerischen und zynischen Kampagne gegen Flüchtlinge vermischt wird. Eigentlich sollte man glauben, dass die Anschläge vom 22. Juli eine Delegitimierung von rassistischen und einwanderungsfeindlichen Äußerungen und Organisationen zur Folge gehabt hätte. Leider erleben wir überall in Europa das Gegenteil. In den letzten fünf Jahren ist Norwegens Gesellschaft kälter, rassistischer und brutaler geworden. Begriffe, die vor fünf Jahren noch nicht salonfähig waren, werden jetzt nicht mehr nur anonym im Internet, sondern auch in Parlamentsreden oder von den liberalen Medien verbreitet. Die Fortschrittspartei (Fremskrittspartiet), in der Breivik jahrelang Mitglied war, sitzt heute in der Landesregierung in einer schwarz-blauen Allianz mit der konservativen Partei Højre. Und der Platz, der den anti-islamischen Organisationen heute in der öffentlichen Debatte in Norwegen eingeräumt wird, ist besorgniserregend. Denn diese Debatten zielen nicht auf Lösungsvorschläge für soziale Probleme, sondern darauf, wie man Menschen am einfachsten wieder loswird.
Fjordman
Die notwendige politische Aufarbeitung und Abgrenzung zur extremen Rechten in Norwegen ist durch die Debatte um Breiviks Zurechnungsfähigkeit komplett untergegangen. Obwohl Breivik letzten Endes für zurechnungsfähig angesehen und verurteilt wurde, hat die Psychiatriedebatte eine Entpolitisierung der Terroraktion mit sich gebracht. Es gab schon immer einen engen Zusammenhang zwischen extrem rechten Terrorhandlungen und individueller Verrücktheit, ohne dass dies jedoch den Rassismus, die Ideologie und die Handlungen der Täter weniger politisch macht. Breiviks psychische Probleme entschuldigen deshalb nicht die ideologische Inspiration für seine Tat.
Peder Are Nøstvold, der Mann mit dem berüchtigten Pseudonym „Fjordman“, ist der Anti-Islamist, auf dessen Gedanken Breivik sich in seinem sogenannten Manifest hauptsächlich bezieht. Zwei Jahre nach dem Massenmord in Norwegen bekam derselbe "Fjordman" von der halbstaatlichen Organisation das „Freie Wort“ (Frit Ord) ein Autorenstipendium über 75.000 Kronen (ca. 8.200 Euro). Dies gab ihm die ökonomische Freiheit, eine tränenreiche Geschichte über die Ungerechtigkeit zu schreiben, dass er als Inspirationsquelle von Breivik ausgemacht wurde und wie dies dazu führte, dass er aus Norwegen flüchten und sich bei Gesinnungsgenossen in Dänemark und Deutschland niederlassen musste.
Dieses Buch versucht, den Fokus auf Peder Are Nøstvold ("Fjordman") als direkte Inspirationsquelle Breiviks für einen europäischen Bürgerkrieg zu entfernen. Es wird die These aufgestellt, dass Breivik mit seinem Terrorangriff im Namen des Antiislamismus diesen in Wirklichkeit in ein schlechtes Licht rücken will, um damit die „moderaten Islamkritiker“ zu zerstören.
Angst vor dem eigenen Schatten
Die politische Rechte kritisiert, dass bei der „Elite und den Experten“ eine angebliche Korrektheit, ein Konformismus und eine Konfliktlosigkeit gegenüber besonderen Ansprüchen von Migrant_innen herrsche. Diese Kritik hat sich mittlerweile zur hegemonialen Wahrheit entwickelt. Diese Argumentation wird auch gegen Alle benutzt, die aufzeigen, dass die „Religionskritik“ sich in hohem Maße zu einem traditionellen Rassismus und einer generellen Menschenverachtung entwickelt hat. In diesem dreckigen Fahrwasser konnte die islamfeindliche Internetseite "Document.no" wachsen und vom einseitigen Fokus der Gesellschaft auf den islamistischen Terror profitieren. Document.no ist jetzt die größte einwanderungsfeindliche Internetseite in Norwegen und gibt in einem eigenen Verlag Bücher und Zeitschriften heraus. In den Jahren vor seinem Terroranschlag versuchte Breivik, einen Zugang zu Document.no zu finden und nahm aktiv unter einem Pseudonym an Debatten auf der Seite teil.
Hans Rustad, Chefredakteur von Document.no, hat nach Breiviks Tat mehr und mehr Angst vor dem eigenen Schatten. Er ist ein typischer Intellektueller, der mit seinem christlichen und nationalchauvinistischen, antiislamischen Einwanderungswiderstand — den er selbst gern als „kulturkonservative Besorgnis über die multikulturelle Gesellschaft“ beschreibt — und der großen Abstand zu gröhlenden Neonaziskinheads und deren Gewaltorgien und Bombenmännern sucht, bis zum 22. Juli 2011 nicht einsehen wollte, dass es Menschen gibt, die Worten Taten folgen lassen. Aus diesem Grund führte Rustad die strenge Kontrolle von Inhalten und Diskussionen auf Document.no ein. Doch jetzt, wo Breivik nicht mehr allgegenwärtig ist, ist der Ton in den Debatten wieder hasserfüllter geworden. Dabei liegt der Fokus der Kritik von Document.no ähnlich wie bei Breivik auf der sozialdemokratischen Partei und den „sozialistischen Landesverrätern und Islamfreunden“. Und das, obwohl Rustads Lieblingspartei, die Fortschrittspartei, gerade in der Regierung ist und somit einen Teil der eigentlich kritisierten „Elite“ darstellen müsste.
"Invasive Kakerlaken"
Document.no hat in dem Bestreben, sich als christlich-konservativ zu präsentieren, eine Kunst von Andeutungen entwickelt. Schlussfolgerungen werden dabei den Besucher_innen der Internetseite überlassen. Ein Beispiel dafür ist eine auf den ersten Blick neutrale Pressemitteilung über das steigende Problem mit Kakerlaken und blutsaugendem Ungeziefer in Oslo. Die Relevanz einer solchen Meldung für ein Anti-Islam- Forum erschließt sich nicht sofort. Aber die Leser_innen der Diskussionsseiten verstehen augenblicklich die Codes und sprechen laut aus, wer diese Kakerlaken sind und wer für diese Invasion verantwortlich sei.
Hans Rustads Bedarf nach „Weißwaschung” ist nicht nur Breivik geschuldet, sondern auch dem Umstand, dass Document mittlerweile Investoren hat. Vier Vollzeitbeschäftige und teure Büroräume im Zentrum von Oslo kann das Projekt mittlerweile vorweisen.
Fortschrittspartei
In Norwegen ist der politische Erfolg der rechtspopulistischen Fortschrittspartei dennoch das Beunruhigendste am Rechtsruck im Land. In ihrer Position kontrollieren sie nun mit Hilfe der konservativen Partei Norwegens die Asylpolitik. Die grundlegende Politik der Fortschrittspartei beruht auf starken Generalisierungen gegenüber Volksgruppen, Nationalitäten und Einzelpersonen.
Als sich Mitglieder der Partei im Ausland selbst Generalisierungen ausgesetzt sahen, fühlten sie sich missverstanden. Der Botschafter Norwegens wurde instruiert, wie dem negativen Bild der Partei begegnet werden könne. Die ausländische Presse äußerte Verwunderung darüber, wie die Rechtspopulisten, deren Mitglied Rechtsterrorist Breivik zehn Jahre lang war, in einem demokratischen und sozialliberalen Norwegen an der Regierung sein können. Die Fortschrittspartei behauptet, Breivik sei lediglich passives Mitglied gewesen und habe bei ihnen keine Unterstützung für seine Ideologie gefunden. Dennoch trägt diese Partei eine große Verantwortung für die vorurteilsbehaftete Einstellung der Bevölkerung gegenüber Einwander_innen und Asylsuchenden in Norwegen. Über viele Jahre wurde eine Katastrophenstimmung im Land beschworen und Geflüchtete, „die politisch Korrekten“, Sozialist_innen und insbesondere Sozialdemokrat_innen als die Feinde Norwegens ausgemacht. Dass in der Konsequenz Schlagwörter und Brandreden zu Brandsätzen und Bomben werden können, zeigt nicht zuletzt der Fall Breivik.