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Brasilien: Krieg gegen die Armen

Thilo F. Papacek
Einleitung

Die Regierung von Jair Bolsonaro wurde für das Versprechen, effektiv gegen Korruption und Kriminalität vorzugehen, gewählt. Doch die Sicherheitspolitik gleicht eher einem Kampf gegen Arme. Gleichzeitig mehren sich die Hinweise, dass der amtierende Präsident nur wegen illegaler Absprachen innerhalb der Justiz gewählt wurde.

Bild: Screenshot von youTube/teleSUR

Der Regierungschef von Rio de Janeiro, Wilson José Witzel, im Militärhubschrauber.

Jetzt ist Schluss mit dem Chaos! Wir werden die Ordnung im Haus wieder herstellen!“ schreit der untersetzte Mann mit Halbglatze in die Kamera. Neben ihm stehen einige Polizisten mit Waffen, hinter ihm steht ein Helikopter der Militärpolizei von Rio de Janeiro mit laufenden Rotoren. Wenig später sieht man in dem Video, das Anfang Mai 2019 in den sozialen Medien verbreitet wurde, wie der Mann in dem Helikopter sitzt, während er über eine Favela fliegt. „Hier sind wir über der gefährlichsten Region von Angra dos Reis1 . Jetzt machen wir hier Schluss mit den Banditen!“, schreit er. Kurz danach feuert einer der Polizisten auf eine exponierte Hütte der Favela. Der Mann, ist der Regierungschef von Rio de Janeiro, Wilson José Witzel. Seit dem 1. Januar 2019 ist er der Gouverneur des notorisch von Kriminalität geplagten Bundesstaates. Seinen Wahlerfolg verdankte er seinem Versprechen, mit harter Hand gegen „Banditen“ vorzugehen. Das Video, das er auf den sozialen Medien seinen Followern präsentierte, sollte wohl deutlich machen, dass er sein Wahlversprechen erfüllt. Doch die Hütte, welche die Polizisten beschossen haben, gehört der „Asambleia de Deus“, einer evangelikalen kirchlichen Gemeinschaft. „Das ist ein Ort des Gebets, die Christen kommen täglich dorthin, Alte und Kinder“, sagte der Diakon Shirton Leone von der örtlichen Gemeinde der Tageszeitung „Folha de São Paulo“. Fünf Einschusslöcher habe er in dem Dach der Hütte gezählt. Witzel war für die „Christlich-Soziale Partei“ angetreten, die vor allem von evangelikalen Christen gewählt wird.

Der Gouverneur Witzel macht aus dem Strafsystem fast eine Reality-Show. Aber anders als bei Big Brother Brasil sind hier alle Teilnehmer*innen arm und schwarz. Und es gibt keine Gewinner“, kommentierte der Journalist Igor Leone die Aktion auf einem Facebook-Account. Zwei Tage später war ein Hubschrauber aus der selben Einheit wie der, mit dem Witzel herumflog, an einer Polizeiaktion in der Favela Maré (Rio de Janeiro) beteiligt. Acht Menschen wurden von der Polizei erschossen, die Aktion erfolgte zu einer Zeit, in der die Kinder die Schulen verlassen. Die Kinder mussten sich in den Fluren auf den Boden legen, um sicher zu sein, die Lehrer*innen berichteten, dass die Schüler*innen völlig traumatisiert waren. In den sozialen Medien war ein Video von dem Einsatz zu sehen: Ein Militärhubschrauber kreiste weniger Meter über den Dächern und ballerte scheinbar ziellos herum. Witzel, der 17 Jahre lang als Bundesrichter tätig war, will die Bestrafung von Kriminellen sogar direkt der Polizei übertragen: Mehrfach hatte er angekündigt, dass er dafür ist, dass Polizisten auf Kriminelle schießen, um sie zu töten. Dadurch würden verfassungswidrig Aufgaben der Judikative auf die Exekutive, die Polizei, übertragen, ganz abgesehen davon, dass es in Brasilien offiziell keine Todesstrafe gibt.

Dieser Diskurs hat Folgen: In den ersten 100 Tagen der Regierungszeit Witzels sind 434 Menschen in Rio de Janeiro als Folge von Polizeiaktionen getötet worden, über vier pro Tag. Es gab bereits mehrere Massaker, die unmittelbar darauf zurückzuführen sind, dass die Polizei sich unantastbar fühlt. Im Februar 2019 tötete die Polizei eine unschuldige Person, da sie den Wagen einer Kleinfamilie mit dem Wagen von Kriminellen verwechselt hatte. Über 80 Schuss wurden abgefeuert, selbst nachdem Anwohner*innen versuchten, die Verletzten aus dem Fahrzeug zu bergen. Einer der Helfer starb.

Bei einem Polizeieinsatz in der Favela Morro do Alemão tötete die Polizei 15 junge Männer. Im Polizeibericht steht, die Männer hätten auf die Polizei geschossen, diese hätte das Feuer erwidert. Den Zeugenaussagen der Anwohner*innen zufolge richtete die Polizei aber die 15 Männer praktisch hin, als diese sich in einem Zimmer aufhielten. Die Opfer des Massakers waren mutmaßlich Mitglider der Drogenmafia „Comando Vermelho“; in den Augen vieler Brasilianer*innen rechtfertigt dies die extralegale Hinrichtung.

Daniela Fichino von der Nichtregierungsorganisation „Justiça Global“, die Polizeigewalt und Menschenrechtsverbrechen untersucht, sieht einen direkten Zusammenhang zwischen den Aussagen Witzels (PSC) und der Zunahme der Polizeigwalt: „Wenn der Gouverneur, als offizieller Kommandant der Polizeieinheiten des Bundesstaates, von der ‚Ausrottung‘ des Verbrechens spricht, autorisiert er letztlich solche Massaker.“ Präsident Jair Bolsinaro hat gegen diese Politik des Gouverneurs von Rio de Janeiro nichts einzuwenden. Bolsonaro gehörte selbst der Partei Witzels, der PSC an, bevor er kurz vor den Wahlen im vergangenen Jahr zur, ebenfalls stark evangelikal geprägten „Sozial-Liberalen Partei“ (PSL) wechselte. „Ein Polizist, der nicht tötet, ist kein Polizist“, hat der Präsident verlauten lassen. Während des Wahlkampfs versprach Bolsonaro, die Polizei erhalte eine „Lizenz zum Töten“. Der Bolsonaros Sohn Flávio, der 2018 zum Senator für Rio de Janeiro gewählt wurde, hatte den Wahlkampf Witzels um den Gouverneursposten explizit unterstützt.

Diese Form der Kriminalitätsbekämpfung, wie sie Bolsonaro und Witzel und andere propagieren, bietet aber nur eine Simulation von Sicherheit. Es bedient das Strafbedürfnis der Ober- und Mittelschicht, die Kriminalität nur bei der armen und mehrheitlich schwarzen Bevölkerung des Landes sieht. Tatsächlich handelt es sich um einen Krieg gegen die Armen. Die Polizeiaktionen beschränken sich ausschließlich auf die Menschen in der Favela, die Korruption und Beteiligung von Politiker*innen und Unternehmer*innen am Drogenhandel bleiben dagegen ungeahndet. Im Gegenteil, Bolsonaro versprach sogar mehr Straffreiheit für Unternehmer*innen.

In der Agrarindustrie kommt es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverbrechen im Zusammenhang mit Landkonflikten oder im Arbeitsrecht. Bolsonaro hatte aber gerade diesem Sektor vor der Wahl signalisiert, dass er die „Orgie der Strafzahlungen“ beenden würde, sprich: Die Unternehmer*innen bräuchten sich nicht mehr zu sorgen, dass ihre Verbrechen geahndet werden. Am 11. Juni 2019 wurde Carlos Cabral Pereira, Präsident einer Landarbeitergewerk im Bundesstaat Pará, ermordet. Zuvor hatte er mehrere Drohungen von lokalen Unternehmer*innen erhalten. Im gleichen Bundesstaat erhielten mehrere Kontrolleure für Arbeitsrecht Morddrohungen von Unternehmer*innen.

Gerade in den Staaten des Nordens und Westens Brasiliens kommt es immer wieder zu rechtswidrigen Arbeitsverhältnissen, die praktisch der Sklaverei gleichkommen. Die Regierung Bolsonaro,  kürzt nun massiv die Mittel für derartige Kontrollen. Dies hat Folgen. Eduardo Sakamoto, Journalist und Spezialist für moderne Sklaverei in Brasilien, schrieb am 12. Juni 2019, dass die Fälle von Kindern, die in sklavereiähnlichen Verhältnissen leben und arbeiten müssen, zunehmen. Seit beginn des Jahres wurden 27 Kinder aus solchen Verhältnissen gerettet, im Mai waren es 13 Kinder im Alter von drei bis 16 Jahren, die in einer Produktionsstätte für Maniokmehl zur Arbeit gezwungen wurden. Ähnliches passiert bei der Umweltpolitik. In Landkonflikten mehrt sich in Brasilien die – ohnehin bereits sehr präsente – Gewalt. Agrarunternehmen heuern immer wieder Pistoleiros an, um sich das Land von Kleinbäuerinnen und – bauern, Indigenen oder Quiliombolas2 illegal anzueignen oder Naturschutzgebiete illegal zu roden.

Für die Kontrolle solcher Verbrechen ist in Brasilien die Umweltbehörde IBAMA zuständig. Doch mit Ricardo Salles hat Bolsonaro einen Umweltminister eingestellt, gegen den selbst Klagen wegen Umweltvergehen anhängig sind. Als Minister sorgt Salles dafür, dass die IBAMA praktisch nicht mehr agieren kann. Wenn also die brasilianische Regierung davon redet, das Verbrechen zu bekämpfen, dann meint sie letztlich eine Bekämpfung der Armen des Landes. Die brutale Ausbeutung und illegale Bereicherung der Oberklasse bleiben ungeahndet. Es ist ein brutaler Klassenkampf von oben.

  • 1Stadt im Süden des Bundesstaates Rio de Janeiro
  • 2Nachfahren von geflohenen Sklaven, die der brasilianischen Verfassung zufolge einen besonderen Rechtsschutz genießen