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Brasilien: Hasserfüllter „Lebensschutz“

Einleitung

Seit dem Amtsantritt von Jair Bolsonaro als Prasident im Januar 2019 erleben rechte und religiös-konservative Strukturen und Diskurse starken Aufwind in Brasilien. Eine rechte Influencerin mit hoher digitaler Reichweite erweist sich dabei nicht nur durch ihren schrillen Celebrity-Faktor, sondern auch wegen ihrer „authentischen Verwandlung“ von einer Femen-Aktivistin hin zu einer rechten, katholischen Antifeministin als besonders hilfreich.

Screenshots Instagram

winter is coming: Im T-Shirt „pro life - pro god - pro gun“ präsentiert sich die rechte „Lebensschützerin“ ihren Follower_innen. (Screenshots Instagram)

Ihr international beachteter, mili­tanter Versuch, eine Abtreibung bei einem Kind zu verhindern, konnte letztlich nur duch die Gegenwehr feministischer und antifaschistischer Gruppen und einer halbwegs rechtstaatlichen Justiz abgewendet werden. Letztere hatte Bolsonaros rasanten Rechtskurs in der Vergangenheit immer wieder ausgebremst.

Sara Fernanda Giromini, besser bekannt unter ihrem Bloggernamen „Sara Winter“, ist eine extrem rechte, streng katholische, aggressive Abtreibungsgegnerin und selbsterklärte „Lebensschützerin“, die sich zeitweise sogar im brasilianischen Frauenministerium betätigte. Um die rechten Ziele von Präsident Jair Bolsonaro zu unterstützen, setzt sie nunmehr auf paramilitärische Strukturen und Fake-News-­Attacken.

Doch das war nicht immer so: 2012 gründete Giromini eine feministische brasilianische Femen-Gruppe und küsste 2014 öffentlichkeitswirksam vor einer Kirche in Rio de Janeiro halbnackt mit einer Dornenkrone auf dem Kopf eine Mitstreiterin, während sie an ein Kreuz gefesselt war. Im Jahr 2015 ließ sie verlauten, Gott habe sie vom „Genderwahn“ geheilt. Ihr Sinneswandel habe in einem Krankenhaus nach einer Abtreibung begonnen. Giromini heiratete einen Militärfunktionär, gebar einen Sohn und wurde im April 2019 von Präsident Bolsonaro zur nationalen Koordinatorin für „Mutterschaftspolitik“ ins Staatssekretariat für Frauen, Familie und Menschenrechte berufen. Dieses wird von ihrer ideologischen „Adoptivmutter“, der evangelikalen Pastorin und Ministerin Damares Alves geleitet.

Bereits im November reichte Giromini dort wieder ihren Rücktritt ein. Die Abwendung vom Feminismus und die „Heilung durch Gott“ kommt nicht nur in extrem rechten Kreisen gut an: Giro­mini publiziert Bücher, hält Vorträge und kämpft unter anderem gegen Marxismus, progressive Genderpolitik und Abtreibungen. Für die Regierung unter Bolsonaro ist die rechte Influencerin ein propagandistischer Glücksfall. Während des Höhepunktes der COVID-19-Pandemie 2020 warb sie für eine teils paramilitärische Gruppe namens „Os 300 do Brasil“, welche die extrem rechte Politik von Präsident Jair Bolsonaro verteidigen soll. In sozialen Netzwerken erklärte Giromini, die Gruppe sei von der Schlacht bei den Thermopylen während der Persischen Kriege inspiriert und verfolge das Ziel, den Ministern des „Supremo Tribunal Federal“ (STF) klarzumachen, dass sie nicht 11 Halbgötter seien.

Das „Supremo Tribunal Federal“ ist das oberste Gericht der (föderativen) Republik Brasilien und übt hier auch die Funktion eines Verfassungsgerichts aus. Auf Online-Videos tritt „300 do Brasil“ als eine Gruppe von AktivistInnen auf, die etwa musikalische Choreographien zur Unterstützung des rechten Präsidenten machen. Rekrutiert wird auch außerhalb von Brasilien, viele UnterstützerInnen wurden offenbar über soziale Netzwerke und WhatsApp-Gruppen erreicht. Ende Mai enthüllte u.a. die Zeitschrift „Metropoles“ staatliche Informationen, wonach sich ein Trainingslager der Gruppe in einem schwer zugänglichen Gebiet umgeben von Hügeln und Wäldern befände. Zwischen den Verwaltungsregionen Paranoá und Planaltina war eine Farm im ländlichen Kern Rajadinha ihr Hauptquartier. Die militärische Ausbildungsstruktur der dort getrennt untergebrachten Männer und Frauen brachte das Quartier auf den Radar der Geheimdienste. Als die Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss beantragte, zogen die AktivistInnen rechtzeitig weiter.

Gewalt durch „Lebensschützer“

August 2020 (Triggerwarnung: Sexuelle Gewalt): Eine Zehnjährige ist in Brasilien über Jahre hinweg im Familienkreis vergewaltigt worden. Gegen eine nötige Abtreibung kämpfen religiöse „Lebensschützer“ und versuchen sogar, die behandelnde Klinik zu stürmen. Im Klartext: Katholische, evangelikale und extrem rechte bzw. regierungsnahe DemonstrantInnen wollen verhindern, dass ein zehnjähriges vergewaltigtes Mädchen eine Abtreibung durchführen kann. Dabei darf in Brasilien ein Schwangerschaftsabbruch nur im Ausnahmefall bei Lebensgefahr für die Mutter, wenn der Fötus den Geburtsfehler Anenzephalie hat oder nach einer Vergewaltigung stattfinden.

Es war die „Familienministerin“ Damares Alves - die evangelikale Pastorin - die diesen Vorgang zum Skandal machte. Der Schutz des vergewaltigten Kindes wurde von ihr dabei nie erwogen. Sara Giromini alias „Sara Winter“ nutzte ihre digitale Reichweite als Influencerin und rief ihre 270 000 Follower1 zum Widerstand gegen die geplante Abtreibung auf und veröffentlichte u.a. über Twitter den Klarnamen und die Adresse des zehnjährigen Vergewaltigungsopfers. Die antifeministischen und religiösen „Lebensschützer“ verfolgten das Mädchen und setzten das Krankenhaus, indem die Abtreibung in ihrer Heimatstadt durchgeführt werden sollte, unter Druck, sodass das Mädchen mehr als 1000 Kilometer in einen anderen Bundesstaat fliegen musste. Dort erhielt es Unterstützung von Hunderten Feminist_innen und „pro-choice“-Demonstrant_innen, die sich um das Krankenhaus versammelten und die Zugänge gegen rechte und religiöse Angriffe sicherten. Laut BBC wurde das Mädchen im Kofferraum eines Autos auf das Krankenhausgelände geschmuggelt und betrat das Gebäude durch eine Seitentür. Der Arzt, der die Abtreibung vornahm, war bereits zuvor wegen seiner Arbeit von der katholischen Kirche exkommuniziert worden.

Immerhin: Die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Espírito Santo hat über die Kinder- und Jugendstaatsanwaltschaft von São Mateus eine Entschädigungsklage gegen Sara Fernanda Giromini wegen der Anprangerung des 10-jährigen Mädchens eingereicht.

Im Visier der Behörden

Ende Mai 2020 wurde unter anderem auch Giromini das Ziel einer Durchsuchungs- und Beschlagnahmeaktion der Bundes­polizei. Die sogenannte „Operação Fake News“ erfolgte im Rahmen einer polizeilichen Untersuchung gegen ein „hate-office“ („Gabinete do Ódio”) mit einer breit angelegten Fake-News-­Struktur. Das Bundesgericht (STF) untersucht hierbei insbesondere die Verbreitung von Falschmeldungen und Drohungen gegen Politiker_innen und Richter_innen. An dieser Kommunikationsstruktur waren Geschäftsleute und Blogger beteiligt, die falsche Nachrichten verbreiteten und dazu falsche Profile ­(Roboter/Bots) nutzten. Die spanische Tages­zeitung „El Pais“ hatte am 27. Mai berichtet, das mit Hilfe von Bots betriebene System sei von Unternehmer_innen finanziert worden, die dem rechten Präsidenten nahestehen.

Insgesamt wurden 29 Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse vollstreckt, u.a. bei dem Blogger Allan dos Santos von der extrem rechten Webseite „Terça Livre“, dem Komiker Rey Biannchi, dem Kongressabgeordneten Douglas Garcia, dem Bundesabgeordneten Filipe Barros, dem ehemaligen Bundesabgeordneten Roberto Jefferson und Geschäftsleuten wie Luciano Hang (Havan) und Edgard Corona (Smart Fit). Nach der Beschlagnahmung ihres Mobiltelefons und Computers in diesem Zusammenhang war Giromini so erzürnt, dass sie in einem Video Drohungen gegen einen beteiligten Beamten aussprach.

Im Juni wurde die Bolsonaro-Unterstützungsgruppe „300 do Brasil“ von der Polizei wegen des Vorwurfs durchsucht, die nationale Sicherheit des Landes zu gefährden. Dass Giromini mehrfach öffentlich damit gedroht hatte, einen Richter des Obersten Gerichtshofs zu schlagen, dürfte ihre Lage nicht verbessert haben. Am 30. Mai hatte die Gruppe „300 do Brasil“ um Giromini einen Fackelmarsch mit weißen Masken zum Obersten Gerichtshof initiiert. Angeführt von Giromini hatten rund 20 ihrer AnhängerInnen nach der Räumung eines Protest-Zeltlagers versucht, den Kongress zu stürmen und Pyrotechnik gezündet.

Die Zeitschrift „istoe“ sprach von einer „farsa da guerrilheira“ (einer Farce von Guerilla), denn die lediglich 20 Zelte des sogenannten „Widerstand-­Camps“, die einen Monat vor dem Kongress in Brasilia aufgestellt waren, hatten nicht weniger als die „Schließung“ des Obersten Gerichtshofes und die Entlassung des Präsidenten des Repräsentantenhauses gefordert. Interessantes Detail der politischen Wochenzeitschrift: Die meist unbewohnten Zelte wurden alle auf einmal angeliefert und aufgebaut. Darüber hinaus waren sie typen­gleich mit den Zelten, die von Bolsonaro­-Anhänger Luciano Hang in seiner Kaufhauskette Havan verkauft werden.

Nach einem Monat konstatierten die in Brasilia ansässigen Staatsanwälte: „Die Präsenz bewaffneter Milizen in der zentralen Region der Hauptstadt des Landes stellt einen eindeutigen Schaden für die Ordnung und die öffentliche Sicherheit dar“.

  • 1Auf Twitter hatte sie fast 270 000 Follower, einige Accounts (Twitter, Instagram, Youtube) wurden zum Schutz des minderjährigen Mädchens gesperrt. Ihr Facebook-Konto und andere Kanäle auf Youtube und Telegram blieben. Die Accounts von Facebook und Twitter die im Zuge der Fake-News-Ermittlungen in Brasilien gesperrt wurden, waren weiter über ausländischer Server aufrufbar. Darum ordnete ein Richter die komplette Sperrung an. Twitter kam dem nach, Facebook erst einmal nicht und wurde daher zu einer Geldstrafe verurteilt. Erst nachdem dem Direktor von Facebook und Instagram in Brasilien persönlich Geldstrafen drohten, lenkte der Konzern ein. Facebook legte Berufung ein und Präsident Bolsonaro hat persönlich die Staatsanwaltschaft beauftragt, die Sperrung der Konten zu überprüfen.