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Brasilien: Bürgerkrieg im Wartemodus

Mario Neumann (Gastbeitrag)
Einleitung

Einfach außergewöhnlich“: So könne sein Verhältnis zu Donald Trump beschrieben werden, ließ Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro kürzlich die Zuhörer auf der „Conservative Political Action Conference“ in Maryland wissen. Die Veranstaltung wird jährlich von der Lobbyorganisation „American Conservative Union“ organisiert und gilt als eine der bedeutendsten Zusammenkünfte des rechten Lagers in den USA. Bolsonaro war für eine Rede angereist und wurde frenetisch gefeiert. Nicht nur für die amerikanische Rechte bleibt er auch nach seiner knappen Niederlage bei der Präsidentschaftswahl im Herbst 2022 eine Ikone.

Protestschild gegen Pinera, Trump und Bolsonaro
(Foto: John Englart ; CC BY-SA 2.0)

Die politische Nähe zwischen Trump und Bolsonaro, sie war schon zu Amtszeiten der beiden Ex-Präsidenten kein Geheimnis. Deren betont außergewöhnliche Beziehung wird sicherlich dazu beigetragen haben, dass sich diverse politische Ereignisse in den letzten Jahren gefühlt mehrfach zutrugen: Trump und Bolsonaro wetterten im Chor aus den Präsidentenpalästen gegen „die Elite“, die Medien, die linke Weltverschwörung, den Genderwahn und machten mit misogynen Ausfällen von sich reden. Die regionalen oder föderalen Corona-Maßnahmen bekämpften sie nicht nur rhetorisch und verharmlosten das Virus, mit teils verheerenden Konsequenzen. Jeweils denkbar knapp sind beide dann bei den Präsidentschaftswahlen an einer Wiederwahl gescheitert, für die sie prophylaktisch schon vor den Urnengängen Wahlsysteme und Wahlbetrug verantwortlich machten. Der unbelegten Propaganda von der Wahlfälschung folgten in beiden Ländern dann handfeste Auseinandersetzungen, die im Sturm auf Regierungsgebäude und Parlamente gipfelten.

In den USA ereignete sich der Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021. Der Angriff sollte die offizielle Bestätigung des Wahlsieges von Joe Biden verhindern, der von Trumps Gefolgschaft als Wahlbetrug dämonisiert wurde. Da ist kostümierter Widerstand natürlich Pflicht. Bolsonaros Anhänger kopierten - fast genau zwei Jahr später, am 9. Januar 2023 - die Aktion und änderten das Drehbuch nur geringfügig. Neun Tage nach offiziellem Beginn der dritten Amtszeit des Bolsonaro-Kontrahenten Lula da Silva drangen mehrere tausend Menschen in der Hauptstadt Brasilia in den Kongress, den Obersten Gerichtshof und in Regierungsgebäude ein, demolierten das Inventar und durchwühlten Unterlagen.

Die Aktion war keineswegs spontan, Reisebusse aus dem ganzen Land hatten den Aufstand an- und abtransportiert. Nach dieser konzertierten Aktion, bei der symbolisch alle drei Gewalten der brasilianischen Verfassung angegriffen wurden, kam es nicht nur zu einem weltweiten Aufschrei und zahllosen Verhaftungen, es verloren auch eine erhebliche Anzahl ranghoher Militärs und Polizisten ihre Jobs. Es bestand kein Zweifel, dass ohne deren Duldung und Zutun ein solcher symbolischer Putsch niemals hätte zustande kommen können.

Gericht statt Gott

Brasiliens Oberstes Gericht nahm im Anschluss Ermittlungen gegen Jair Bolsonaro auf, der seine politische Verantwortung allerdings stets bestritt. Dennoch schien er auf Nummer sicher gegangen zu sein und hielt sich zu jener Zeit außerhalb Brasiliens auf – in den USA. Mittlerweile sind wegen verschiedenster Delikte mehrere Hundert Verfahren gegen Bolosnaro anhängig, 16 zielen direkt darauf ab, ihn bei der nächsten Präsidentschaftswahl nicht als Kandidaten zuzulassen. Anfang Mai 2023 durchsuchte die Bundespolizei sein Haus – wegen des Verdachts auf Fälschung von Impfdaten. Ein Mann des Volkes also, dem jetzt nun, wie auch seinem Kumpel Donald Trump, die Justiz auf den Fersen ist.

Dass Bolsonaro mit seinem Selbstbild als Outlaw nicht nur kokettierte, er schon während seiner Amtszeit ziemlich laut Putschfantasien äußerte und immer wieder die Verfassung sabotierte, könnte ihm also jetzt zum Verhängnis werden. Hatte er vor der Wahl noch getönt, dass „nur Gott“ ihn von der Präsidentschaft entfernen könne, muss er sich heute ganz weltlich und für zum Teil kleinkriminelle Delikte vor Brasiliens Gerichten verantworten.

Einige Vorwürfe könnten ihn allerdings mindestens die politische Karriere kosten. „Lula ist nicht in der Lage, wichtige Veränderungen einzuleiten und ist in vielerlei Hinsicht eine Geisel der konservativen Mehrheit im Kongress. Das öffnet den Rechtsextremen einen gewaltigen Raum. Aber gleichzeitig hat die Justiz Bolsonaro, seine Söhne, Verbündete und Unterstützer effektiv verfolgt. Das Oberste Gericht hat dabei die Hauptrolle gespielt. Das Gespenst der extremen Rechten lebt zwar weiter, aber seine Inkarnation ist in ernsten Schwierigkeiten“ meint Antonio Martins, Chefredakteur der linken Online-Zeitschrift Outras Palavras. Es sind vorsichtige Worte einer Entwarnung, die sich allerdings vor allen Dingen auf die Person Bolsonaros beziehen.

Rechte Revolte

Man sollte allerdings, wie auch im Falle des amerikanischen Albtraums, die umgekehrte Wahrheit nicht vergessen: Auch wenn die schillernde Gestalt der brasilianischen extremen Rechten angeschlagen ist, bleibt seine Anhängerschaft eine Tatsache. Sie befindet sich in einer Art Bürgerkriegsbereitschaft, die jener in den USA ähnelt. Da ist einerseits ein extrem mobilisierter, bewaffneter und nicht selten kampferprobter Teil, der jede Lüge glaubt, die für ihn gemacht wurde und sich im Prinzip bedingungslos hinter ihrem Führer versammelt hat. Andererseits sind da die etwas weniger als die Hälfte der brasilianischen Wähler*innen, die Bolsonaro auch nach seiner ersten Amtszeit – also in vollem Bewusstsein über seine Ziele und Methoden – ihre Stimme gegeben haben.

In Brasilien spricht man aufgrund dieser Vertiefung des Autoritarismus inzwischen vom bolsonarismo als einem gesellschaftlichen Phänomen. Der deutsche Journalist Niklas Franzen nennt diesen Prozess in seinem Buch sogar eine „rechte Revolte“. Auch wenn deren großer Marsch durch die Institutionen vorerst entschärft werden konnte, hat sie sich doch zu einer etablierten und brandgefährlichen Kraft entwickelt. Der bolsonarismo sitzt in den Parlamenten, Behörden, Institutionen und der Polizei. Rechte Hegemonien herrschen vielerorts und eine autoritäre Mehrheit bei Wahlen bleibt, wie beinahe auf dem ­gesamten südamerikanischen Kontinent, eine permanente Möglichkeit und Bedrohung, die von einer bewaffneten Politik der Straße flankiert wird. Das bleibt gefährlich, zumal Bolsonaro immer noch besonders in Polizei und Militär starken Rückhalt findet.

Düstere Zukunft

Am 1. Mai 2022 lief ich eher zufällig durch ein Stadtviertel nahe der Copacabana in Rio de Janeiro. Etwas nichtsahnend geriet ich an jenem Tag in eine riesige Veranstaltung von Bolsonaros Anhängerschaft, die sich auf den Wahlkampf einstimmte. Aus allen Straßen strömten Pärchen und Familien in Brasilien-Devotionalien auf die Uferpromenade, wo es vor allem Bolsonaro- und Israel-Fahnen zu kaufen gab. Von riesigen Trucks tönte es immer wieder „Bolsonaro, Bolsonaro, unser Kapitän!“. In geifernden Reden konnte man auch mit schlechten Sprachkenntnissen immer wieder die Beschimpfung „Comunista! Comunista!“ heraushören. Die ganze Szenerie war eine grauenhafte Mischung aus Familienfest und dumpfer Aggression. Ein Faschismus für die ganze Familie, von denen nicht wenige folgerichtig mit dem T-Shirt „Deus – Patria – Familia“ bekleidet waren: "Gott – Familie -Vaterland". Man kann es förmlich riechen, was sich weltweit ereignet, wenn man diese Orte zu Gesicht bekommt: Große Massen an Menschen haben sich ihren niederen Instinkten, dem egoistischen Bedürfnis nach Sicherheit und einem autoritären Nationalismus verschrieben, der lange als ein Relikt der Vergangenheit galt. Alles Menschliche steht still, der Herausforderung einer chaotischen Welt begegnet man mit Weltdeutungen und Glaubenssätzen, die nicht viel mit der Realität, dafür umso mehr mit den psychischen Bedarfen der Gläubigen zu tun haben.

Das Dramatische daran sind nicht bloß die potentiellen politischen Mehrheiten, die hier längst entstanden sind. Aus der Nähe betrachtet zeigt sich, wie tief das alles geht. Statt mit Ausrutschern in der Wahlkabine hat es nicht bloß Brasilien mit der sozialen Basis für einen neuen Faschismus zu tun. Eine Atmosphäre von Hass und Bürgerkrieg ist geschaffen.

Die große und wohl kaum zu lösende Frage besteht daher auch darin, ob es für die Unzähligen, die sich diesem autoritären Angebot angeschlossen haben, eigentlich einen Weg zurück gibt. Ansonsten bleibt der Linken, die sich eigentlich nur dadurch auszeichnet, nicht rechts zu sein, heute nur ein Abwehrkampf im Angesicht einer potentiellen faschistischen Mehrheit. Diese wird zwar politisch organisiert und medial orchestriert, ihre Subjektivität speist sich allerdings quasi soziologisch aus der Geschichte eines krisenhaften Neoliberalismus. Ein neu angestrichener und zugleich morbider Liberalismus, der seine demokratische Vitalität nur über eine äußerliche Gegnerschaft zu den „Diktaturen“ und „Autokraten“ generiert, während er die Fortsetzung des neoliberalen Krisenregimes betreibt, wird das ganz sicher nicht aufhalten können - weder in den USA und Brasilien, noch in Europa.