Die 1990er Jahre in Thüringen
Katharina König-Preuss (Gastbeitrag)Auch in Thüringen entstand in den frühen 1990er Jahren eine gut organisierte Neonazi-Szene und sorgte für ein Klima der Angst. Die massive Delegitimierung des Antifaschismus insbesondere durch staatliche Behörden und politische Akteure zeigt bis heute ihre Wirkung.
„Im Unterschied zur BRD wurde im sozialistischen deutschen Staat der Faschismus mit allen seinen Wurzeln, mit Stumpf und Stiel ausgerottet.“1 Dieser Legitimationsmythos der DDR wurde spätestens mit dem Überfall von extrem rechten Skinheads auf ein Punkkonzert in der Ostberliner Zionskirche im Oktober 1987 offensichtlich und unter medialer Beachtung widerlegt. Wie falsch der Mythos, wie gefährlich der häufige Nicht-Umgang mit diversen bestehenden Neonazi-Strukturen und insbesondere deren Ideologie war, sollte sich spätestens in den frühen 1990er Jahren wahrnehmbar für alle zeigen. Tödlich für von Rassismus betroffene Menschen war dies bereits zu DDR-Zeiten.
Die über mehrere Jahre andauernde sogenannte „Asyldebatte“ fand nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland willige Vollstrecker. Übergriffe auf von Rassismus betroffene Menschen und ihre Unterkünfte zogen sich wie ein Sturm durch die neuen Bundesländer und eskalierten in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Die politische Konsequenz ist bekannt: Die Grundrechtsänderung, der sogenannte „Asylkompromiss“, die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, fand 1993 mit den Stimmen der CDU, CSU, FDP und der damals oppositionellen SPD ihre Umsetzung. Das damit an die sich radikalisierende Neonazi-Szene gesendete Signal war fatal.
Klima der Angst
In Thüringen traten eine Vielzahl neonazistischer Organisationen auf die Bildfläche. Neben (extrem) rechten Parteien wie der NPD, der DVU und „Die Republikaner“ (REP) wurden regionale Gruppen wie der „SA-Sturm Erfurt“, verschiedene rechte Skinhead-Cliquen und -Bands sowie bundesweit bedeutsame Neonazi-Gruppen aktiv.
Zunächst gewannen in den neuen Bundesländern nicht die bekannten westdeutschen Wahlparteien, sondern randständige, radikale Neonazi-Gruppen an Einfluss. Darunter zahlreiche informelle Zusammenschlüsse offen gewaltbereiter Aktivisten, die vor allem der rechten Skinhead-Subkultur angehörten. Gerade dieses subkulturelle Milieu war maßgeblich für die Gewaltwelle gegen MigrantInnen verantwortlich. Die in den frühen 1990er Jahren bestehende Anomie in Ostdeutschland tat ihr übriges.
Nach einer Fluktuationsphase war spätestens 1994 der Formierungsprozess der Neonazis in Thüringen abgeschlossen. Angriffe auf besetzte Häuser, teils mit Waffen, kontinuierliche Übergriffe auf alternative und von Rassismus betroffene Menschen sowie alle anderen, die als „Feinde“ markiert wurden, waren bis Ende der 1990er Jahre an der Tagesordnung. Seitens staatlicher Verantwortungsträger gab es keine Konsequenzen. Im Gegenteil. Gedächtnisprotokolle aber auch Aussagen von Sachverständigen im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss verdeutlichen die Ohnmachtssituation der damals gegen Neonazis engagierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen: „Es war teilweise so schlimm in Saalfeld, dass man sich wegen der Alltagsbedrohung so unsicher fühlte, dass viele Jugendliche nur noch bewaffnet außer Haus gingen, da es vorkam, dass in öffentlichen Nahverkehrsmitteln den Leuten von rechten Schlägertrupps Waffen an den Kopf gehalten werden, dass die Leute tagsüber überfallen werden, indem von heranfahrenden Autos die Türen aufspringen und dann Nazis ausstürmen, die Leute verprügeln. Man hatte eine Angst, wenn man sich allein durch die Straßen bewegt, dass man sich ständig umdreht, dass man bei langsam fahrenden Autos sofort auf die Nummernschilder und die Insassen schaut, um schnell genug reagieren zu können. Es war eine Zeit der Angst.“2
Die An- und Übergriffe der Neonazis wurden Alltagserfahrung für nichtrechte Jugendliche und junge Erwachsene. Der Kampf um die Straße, die (versuchte) Umsetzung des 1991 veröffentlichen Konzeptes der „National befreiten Zonen“ hatte begonnen.
Entpolitisierte staatliche Reaktionen
Mit dem „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“ (AgAG) reagierte die Bundesregierung 1992 auf die eskalierte Gewalt in Ostdeutschland. Ziel war eine Gewaltreduktion durch die Einbindung gewalttätiger Jugendlicher in Maßnahmen der Jugendhilfe herbeizuführen, diesen Alternativen zu eröffnen und öffentliche Räume zu befrieden. Die Entpolitisierung vom AgAG eröffnete Neonazis Räume und Strukturmöglichkeiten.
Die Konsequenzen wurden bereits kurz nach Einführung des Programms deutlich. Ehemals besetzte Häuser von Neonazis (wie der Dichterweg in Weimar) wurden über das Programm legalisiert, in Saalfeld und Jena wurden die per AgAG finanzierten Jugendclubs zu einer entscheidenden Infrastruktur von Neonazis. Faktisch wurden – zumindest in einigen AgAG-finanzierten Einrichtungen - Neonazis Räume durch staatliche Institutionen überlassen. In Verbindung mit der Entpolitisierung und Reduzierung des Problems auf „Gewalt“, fehlender sozialpädagogischer Intervention, einer in den 1990er Jahren auch durch die Landespolitik beförderten, aktiven gesellschaftlichen Ignoranz gegenüber rechten Strukturen konnte die rechte Szene ihre Strukturen unter dem Deckmantel der Jugendarbeit aus- und aufbauen. Der spätere NSU-Mörder Uwe Mundlos wird in der Ostthüringer Zeitung 1991 wie folgt zitiert: „Wir haben einen Raum gesucht und haben einen Raum gekriegt.“ und weiter: „Wenn wir Probleme haben, können wir mit den Streetworkern quatschen, und wenns hart auf hart kommt, gehen wir einen trinken.“
Im Jenaer „Winzerclub“, dem kommunalen Jugendzentrum in dem sich neben Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe auch Ralf Wohlleben oder André Kapke aufhielten, wurde bereits früh deutlich, welche Konsequenzen dieser Auf- und Ausbau hatte. Neben einem auch für Neonazi-Bands nutzbaren Proberaum und der Möglichkeit, eigene Veranstaltungen und Rechtsrock-Konzerte durchführen zu können, wurden die Räumlichkeiten des „Winzerclub“ als Rückzugsort nach Übergriffen im Stadtteil Jena-Winzerla genutzt.
Die zu DDR-Zeiten etablierte, aktive Ignoranz und bewusste Verdrängung des Rassismus-, Antisemitismus und Neonazismus-Problems wurde in den 1990er Jahren fortgeführt. Landesregierung und Verantwortungsträger auf kommunaler Ebene wiesen die Problematik nicht nur von sich, sondern diffamierten gar gegen rechts Engagierte. Thüringens Behörden, Politik, Sicherheitsorgane sowie die Mehrheit der Gesellschaft versagten im Umgang mit Neonazis, im Erkennen, Registrieren und Analysieren der bestehenden und wachsenden neonazistischen Strukturen; der Neonazismus als solches wurde verharmlost. Mit einer kontinuierlichen Gleichsetzung von „links“ und „rechts“ ging die Negierung hunderter Übergriffe einher.
Noch Ende des Jahres 1996 wurde vom Thüringer Verfassungsschutz ein Thesenpapier erstellt, welches zu „Gelassenheit und Akzeptanz der Ränder in vertretbarem Maße“ auffordert und schließlich gar mit dem Fazit endet: „Aufrufe an die Öffentlichkeit, Zivilcourage nützen nichts, führen maximal zu einer Hypersensibilisierung, die zum ‚Hexenjagdklima‘ führt und gegebenenfalls ein nicht existentes Problem im Sinne einer self fulfilling prophecy herbeibetet.“3 Diese „Gelassenheit“ im Umgang mit Neonazi-Strukturen endete für viele alternative Jugendliche und Migrant_innen im Verlust der körperlichen Unversehrtheit und in mehreren Fällen in Thüringen tödlich.
Antifaschistische Gegenwehr
Die Zunahme neonazistischer Aktivitäten und deren Vernetzungsstruktur im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt (1995 189 rechte Straftaten, 1996 bereits 231)4 wird aufgrund mangelnder Thematisierung der Polizei, fehlender Berichterstattung lokaler Medien sowie einer gegenteiligen Situationseinordnung Zuständiger und Verantwortlicher im Landkreis zwar nicht der Öffentlichkeit, jedoch in antifaschistischen Kreisen überregional bekannt.
Die sich häufenden Übergriffe in Saalfeld führten 1997 zur Vorbereitung einer bundesweiten Demonstration unter dem Motto „Den rechten Konsens brechen“, die im Juli durch die „Landesarbeitsgemeinschaft Gewerkschafter gegen Rassismus und Faschismus“ für den 11. Oktober 1997 angemeldet wird. Neben Gewerkschaften und Parteienvertreter_innen mobilisieren insbesondere antifaschistische Gruppen für den 11. Oktober nach Saalfeld. Alles andere als Unterstützung hingegen gibt es im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt: Sowohl der Bürgermeister als auch Stadträte und Teile der Medien widersprechen – trotz bekannter Statistiken – der Einordnung des Vorbereitungsbündnisses, das Saalfeld eine Hochburg rechter Aktivitäten sei. Allein die Aussage an sich würde dem Ansehen der Stadt Saalfeld schaden, lautete der Vorwurf. Der Aufruf wäre von Gewalt geprägt. Im Landkreis kommt es zu Distanzierungen von der angemeldeten Demonstration – auch von SPD und Teilen der Bündnis 90/DIE GRÜNEN.
Folgend wird die antifaschistische Demonstration sowohl in der medialen Darstellung als auch behördlicherseits diffamiert und Schreckensbilder von vermeintlich anreisenden Chaoten und Chaostagen in Saalfeld inszeniert. Einer der Organisatoren der Demonstration, der Gewerkschafter Angelo Lucifero, erhält derweil von Neonazis Morddrohungen. Dies kommentiert der Leiter des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz, Roewer, im mdr wie folgt: „es sei „normal“, daß die, die sich „politisch aus dem Fenster hängen“, mit Drohanrufen rechnen müßten.“5 Der Landesverband der NPD Thüringen meldet Anfang August unter dem Motto „Gegen linke Gewalt“ einen Aufmarsch - ebenfalls für den 11. Oktober, ebenfalls in Saalfeld - an.
In der Woche vor dem 11. Oktober kommt es zum Verbot beider Demonstrationen. Die Organisator_innen der antifaschistischen Demonstration kündigen bereits wenige Tage später – auch aufgrund der polizeilichen Repression - eine Neuauflage an. Für den 14. März 1998 wird erneut bundesweit mobilisiert. Ebenso beginnen – bereits im Oktober 1997 – erneut die Diffamierungen. So wendete sich der Landrat des Landkreises Saalfeld-Rudolstadt Werner Thomas (CDU) mit einem Schreiben an die Parteien im Landkreis und rief sie zu „einer konzertierten Aktion [auf], um eine erneute Demonstration in Saalfeld (…) zu verhindern.“6 Den Initiatoren solle verdeutlicht werden, daß "die Bürger des Landkreises entschieden Einspruch dagegen erheben, daß ihre Heimat zum Austragungsort der Auseinandersetzung linker und rechter Extremisten wird.“7 7 Die Demonstration findet schließlich unter enormen Auflagen statt, mehr als 5000 Antifaschist_innen aus dem gesamten Bundesgebiet beteiligen sich. Erneut distanzieren sich die politisch Verantwortlichen in Saalfeld, der Stadt sei bereits im Vorfeld der Demonstration „ein beträchtlicher, nicht wieder gut zu machender, öffentlicher, politischer, sozialer und damit letztlich wirtschaftlicher Schaden zugefügt worden (...)“.8 Nur zwölf Tage später, am 26. März 1998 wird die vierzehnjährige Jana G. von einem der rechten Szene zuzuordnenden Jugendlichen im Saalfelder Stadtteil Gorndorf ermordet.
Und heute?
Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Ein zwar noch zaghaftes aber beginnendes Umdenken findet nach einem Anschlag auf die Erfurter Synagoge in den frühen 2000er Jahren statt. Medien beginnen über rechte Strukturen und deren Etablierung in Thüringen zu berichten, Bürgerbündnisse gegen Rechtsextremismus gründen sich. 2011 enttarnt sich der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU). Repressionsmaßnahmen der Polizei im Kontext der NSU-Ermittlungen führen zu einem vorübergehenden Rückzug der Neonaziszene.
Dies änderte sich spätestens 2014 – einhergehend mit der Erkenntnis, dass weder Ermittlungen im Zuge des NSU-Komplexes noch ideologisch begründete Aussageverweigerungen im NSU-Prozess zu Konsequenzen führen. Hinzu kam der erneute Versuch der NPD in den Thüringer Landtag einzuziehen. Mit den 2015 auch in Thüringen ankommenden Menschen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea und weiteren Ländern entdeckten Neonazis ein altes Kampffeld neu und konnten nicht nur auf erfahrenes Personal, sondern etablierte Strukturen und ein weit verzweigtes Netz zurückgreifen. An Demonstrationen der AfD nahmen Neonazis unwidersprochen durch die Veranstalter teil, zusätzlich wurden eigene Formen (Sügida, Thügida, unzählige Kleinstaktivitäten) etabliert. Demonstrationen gegen Geflüchtete wurden in mehreren Städten durch ehemalige Aktivisten des "Thüringer Heimatschutzes" (THS) organisiert und unterstützt. Führende Neonazis der 1990er Jahre sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Widerspruch erfahren sie selten.
2017 fand in Themar das bis dahin größte Rechtsrock-Konzert mit 6000 Neonazis statt. Ein nicht zu vernachlässigender Teil der organisierenden Strukturen entstammt dem „Thüringer Heimatschutz“. Die Neonazi-Szene wächst und differenziert sich aus.
Der Umgang mit ihr hat sich – im Vergleich zu den 1990er Jahren – stark gewandelt. Die extreme Rechte wird als Problem nun zumindest anerkannt. Auch die antifaschistischen Demonstrationen sind inzwischen weitaus heterogener. Wenig gewandelt hat sich hingegen das Abwehrverhalten von Städten, aber auch der Polizei gegenüber antifaschistischen Gruppen und Demonstrationen. Während in Eisenach Neonazis nicht nur über ein eigenes Objekt verfügen, in dem regelmäßig Rechtsrock-Veranstaltungen oder Vorträge stattfinden und es kontinuierlich zu Bedrohungen und Übergriffen auf nichtrechte Jugendliche kommt, wurde im Vorfeld einer antifaschistischen Demonstration im März 2019 nicht die Neonazi-Problematik seitens der Bevölkerung skandalisiert, sondern die Antifa-Demonstration. Das Motto: „Die Wartburgstadt ins Wanken bringen“ sei die Ankündigung von Gewalt.
- 1Siegler, Bernd (1991): Auferstanden aus Ruinen. Rechtsextremismus in der DDR. Berlin: Edition Tiamat, S. 99.
- 2Vgl.: Aussage des Sachverständigen T. R. im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss, 23.04.2012
- 3THÜRINGER LANDTAG 5. Wahlperiode Bericht des Untersuchungsausschusses 5/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, Drucksache 5/8080, 16.07.2014
- 4Vgl.: Hübner, Carsten: „Rechte Strukturen in Thüringen und in Saalfeld-Rudolstadt“ Kopfstand / Neustadt-Orla 1997
- 5Sänger, Fabian: „Wenig Sorgen mit den Rechten.“ Jungle World Nr. 38, September 1997
- 6Hintergrund: Furcht vor Neuauflage der Demonstration. Saalfelder Landrat wendet sich mit einem eindringlichem Appell an alle demokratischen Parteien. Thüringer Landeszeitung, 23. Oktober 1997.
- 7ebd.
- 8www.conne-island.de: "Saalfeld. Ein Stück deutscher Normalität II".