Spanien: Interview zum Aufstieg der VOX
Interview: Ralf StreckDer katalanische Journalist Jordi Borràs fokussiert seine Arbeit auf rechtsextreme Organisationen und soziale Bewegungen in Katalonien und dem spanischen Staat. Im Interview mit Ralf Streck erklärt er für das "Antifaschistische Infoblatt" (AIB), wie der Aufstieg der offen faschistisch auftretenden VOX-Partei möglich war, die im vergangenen Dezember erstmals in ein Regionalparlament in Andalusien eingezogen ist.
Bei den Parlamentswahlen im April 2019 zog die VOX (Latein für „Stimme“) zudem mit zehn Prozent ins spanische Parlament ein; Ende Mai erlangte sie Sitze in weiteren Regionalparlamenten, Stadträten und im Europaparlament. Borràs lebt gefährlich, da er auch die Verbindungen zwischen Sicherheitskräften und extrem rechten Gruppen untersucht. Der Journalist wird immer wieder angegriffen. Im vergangenen Sommer wurde er zusammengeschlagen, während der Schläger Diktator Franco hochleben ließ. Es stellte sich heraus, dass es ein Mitglied der „Informationsbrigade“ der spanischen Nationalpolizei war, eine Art polizeilicher Geheimdienst.
Ralf Streck: Mit den Wahlerfolgen von VOX seien „erstmals“ seit der Franco-Diktatur wieder Rechtsextreme in ein Parlament eingezogen, wurde oft berichtet. Stimmt das?
Jordi Borràs: Man müsste diese Leute fragen, in welchem Land sie bisher gelebt haben, oder welches Land sie sich angeschaut haben. Es stimmt, Spanien war eine Ausnahme in Europa. Es gab keine Partei, die in vollem Umfang und klar die Ultrarechte in den Institutionen vertreten hat. Dafür haben aber andere diese Funktion in den letzten 40 Jahren übernommen. Nehmen wir die sogenannte „transición“, den Übergang nach dem Tod des Diktators Franco 1975 bis etwa 1982. 1978 wurde die Verfassung verabschiedet und die erste rechtsextreme Partei war "Fuerza Nueva" ("Neue Kraft") unter Blas Piñar. Die versuchte, die Franquisten zu sammeln. Diese franquistische Partei ohne Franco schaffte es nicht, die Lage entsprechend zu analysieren. Dazu gab es andere Parteien, wie die „Demokratische Zentrumsunion“ (UCD) unter dem damaligen Präsidenten Adolfo Suárez, der bedeutende Posten im Franquismus eingenommen hatte. Er war Führungsmitglied der franquistischen Einheitspartei und zuletzt ihr Vize-Generalsekretär. Und das war dann sogar der erste Präsident des demokratischen Spaniens. Wenn man in Google sucht, findet man Bilder von Súarez mit der zum Hitlergruß ausgestreckten Hand.
Dann gab es mit der „Volksallianz (AP) eine weitere Partei, die dann später in die heutige Volkspartei (PP) umbenannt wurde, die von sieben ehemaligen Ministern der Franco-Diktatur gegründet wurde. Der bekannteste ist sicher Manuel Fraga Iribarne, der bis zu seinem Tod 2012 Ehrenpräsident der PP war. UCD und AP (PP) versuchten stets, die Franquisten zu integrieren, um an die vielen Stimmen des Sektors im Land zu kommen, der als soziologischer Franquismus bezeichnet wird.
Ralf Streck: Ist ihnen das gelungen?
Jordi Borràs: Letztlich schon, denn es hat keine Entwicklung in der extremen Rechten in Spanien gegeben. Anders als in Frankreich zum Beispiel, wo es im Rahmen der Reaktion auf die Mairevolten zu einer Veränderung der Ultrarechten zu einem Neofaschismus und der neuen Rechten in Frankreich kam, passierte das in Spanien nicht. Hier war der Falangist aus dem Jahr 1939 praktisch identisch mit dem von 1975.
Ralf Streck: Warum gab es keine Veränderung?
Jordi Borràs: Es gab in Spanien keine Notwendigkeit dazu. Es gab keinen Bruch, es gab keine Bestrafungen … Ich würde aber auch sagen, dass es kein rein faschistisches System war. Ich glaube, das war ein Regime, das in Italien geboren wurde und dort auch starb. Das ist in etwa so wie mit dem Nazismus in Deutschland und dem Franquismus, allerdings kommen alle drei Regime aus dem gleichen Stamm.
Der Franquismus hat sich schon unter Franco nicht verändert. Im Übergang wurden Wähler und Kader von nun konservativen Parteien aufgesaugt. Das dauert bis heute an. Hinzu kommen diverse Faktoren, wie die Zersplitterung der Rechtsextremen. Blas Piñar ließ zu, dass sich die „Fuerza Nueva“ auflöste und so gab es 40 Jahre keinen solchen Führer mehr. Es scheint, als könnte es der VOX-Chef Santiago Abascal werden.
Ralf Streck: Wieso hat VOX nun plötzlich Erfolg?
Jordi Borràs: Zunächst deshalb, weil sie nicht offen als Franco-Erbe auftritt, wie auch Marine Le Pen nicht die Nazi-Kollaboration verteidigt oder die AfD in Deutschland auch nicht den NS. Diese neue Welle ausländerfeindlicher Rechtspopulisten hat es verstanden, die Diktaturen zur Seite zu schieben. Nur so können sie sich verkaufen. Kriminelle Mörder offen zu verteidigen, geht nicht. Natürlich gibt es diese Leute in den Parteien auch, aber mit diesem Diskurs stößt man schnell an eine Grenze, wie es bei Vater Le Pen in Frankreich deutlich wurde. Deshalb hat sich Marine erfolgreich vom Vater abgesetzt.
Ralf Streck: Wie würden Sie den Chef der aufsteigenden VOX-Partei einstufen?
Jordi Borràs: Auch Santiago Abascal zeigt sich bei öffentlichen Auftritten nicht als klarer Franquist, obwohl er einer ist, wie alle in VOX. Und es ist falsch, dass angeblich nun erstmals Rechtsextreme in Parlamente eingezogen sind: Wer das behauptet, weiß nicht, wie Rechtsextreme hier funktionieren. Spezialisten wie Xavier Casals, Professor an der Universität Ramon Llull, sprach lange von ihrer „anwesenden Abwesenheit“. Auch wenn Rechtsextreme nicht als große Partei repräsentiert waren, wurden ihre Vorstellungen über die PP und andere repräsentiert. Sie waren auch so fähig, die politische und juristische Tagesordnung mitzubestimmen.
Ralf Streck: In welchen Formen geschah das?
Jordi Borràs: Neben der Beeinflussung der Parteien hat VOX auch massiven Einfluss auf die Justiz über ständig neue Anzeigen genommen. Sie tritt als Nebenkläger in vielen Verfahren auf, wie auch in dem wegen angeblicher Rebellion gegen katalanische Politiker.
Ralf Streck: Wie kam es nun zu dem massiven Zuwachs?
Jordi Borràs: Das Phänomen ist dem sehr ähnlich, das die PP mit den rechten Ciudadanos (Cs) zuvor erlebt hat. Als die Cs aufgetaucht sind, gingen Kader, Mitglieder und Wähler von der PP zu den Cs über. Und heute sieht man, wie sich viele in Richtung VOX bewegen. Die Rechtsextremen konnten über die anwesende Abwesenheit das Zentrum immer weiter nach rechts verschieben. Nun fordern sogar schon führende Sozialdemokraten, katalanische Unabhängigkeitsparteien zu verbieten. Ihr großer Erfolg war schon bisher, dass es ihnen auch ohne große Partei gelungen war, ihre Ideen durchzusetzen, die Politik und Medien dieses Landes bestimmten.
Ralf Streck: Wie sind die Verhältnisse zwischen PP, Cs und VOX? Kann man Cs und VOX als Abspaltung der PP bezeichnen?
Jordi Borràs: Schauen wir uns die Parteiführer an: Santiago Abascal war PP-Mitglied, auch Cs-Chef Albert Rivera war PP-Mitglied, obwohl er das bestreitet. Es wurde aber die Mitgliedsurkunde von Rivera in der PP-Jugend veröffentlicht. Ich habe Dokumente veröffentlicht, die belegen, dass Josep Bou Vila, PP-Kandidat für das Bürgermeisteramt in Barcelona, 1978 Mitglied der rechtsextremen „Fuerza Nueva“ war. Die drei Parteien gehen aus dem gleichen Stamm hervor und kommen nicht aus einer christdemokratisch-liberalen Rechten. Sie kommen aus einer franquistischen Tradition. Das ist die Realität. Es gibt zum Beispiel zur baskischen oder katalanischen Rechten einen klaren Unterschied: Das waren Anti-Franquisten.
Ralf Streck: Die Cs nennen sich »liberal«, sind aber dabei, der PP rechts den Rang abzulaufen und sich nicht vor Bündnissen mit VOX scheuen. Wer steht hinter dieser Partei?
Jordi Borràs: Geboren wurde die Partei hier in Katalonien. Sie entstammt einem Sektor aus frustrierten spanischen Nationalisten, der Sozialdemokratie (PSOE), der PP, aber auch aus der extremen Rechten. Zunächst ging sie gegen die katalanische Sprache vor. Ihr größtes Anliegen war, dass die Kinder in der Schule in spanischer statt in katalanischer Sprache unterrichtet werden. Das war 2006. Erst ab 2015 machte die Partei den Sprung nach Spanien, da sie von einigen faktischen Mächten im Land gefördert wurden. Das war eine Antwort von rechts auf das linke Phänomen Podemos. Geplant war aber keine Rechtspartei, sondern eine Zentrumspartei.
Dass es die Cs gibt, gefällt einigen in der PP, ja sogar in der PSOE. Bekannt ist, dass Alfonso Guerra, ehemaliger PSOE-Vizepräsident, Rivera mit Miguel Rodríguez von Festina bekannt gemacht hat. Ein sozialdemokratischer Regionalfürst hat für die Finanzierung der ersten nationalen Wahlkampagne der Cs gesorgt, die in Katalonien seiner Partei viele Stimmen abgenommen hat.
Dazu ist bedeutsam, wie eine Partei wie die Cs - oder jetzt auch VOX - von großen Medien gefördert wird. Nun wird sogar der VOX-Chef Abascal - ein Anti-Demokrat - zu Debatten eingeladen, als wäre er ein normaler Politiker. So wurde zuvor schon Rivera groß gemacht, während andere dort nicht auftauchen.