Haftstrafe für spanischen Antifaschisten
Seit dem Tod eines 55-jährigen Falange-Sympathisanten im spanischen Saragossa im Dezember 2017 saß der Antifaschist und Anarchist Rodrigo Lanza in Untersuchungshaft. Am 23. September 2020 wurde er nun zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Tödliche Auseinandersetzung 2017
Zu dem, was genau an jenem Abend vom 7. auf den 8. Dezember 2017 passierte, gibt es unterschiedliche Versionen. Fest steht, dass es in jener Nacht vor einer Bar in Saragossa zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Anhänger der faschistischen Bewegung1
, Victor Laínez, und dem Antifaschisten Rodrigo Lanza und seinen drei Freund_innen kam. Und dass Lainez schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, wo er einige Tage später an seinen Verletzungen starb.
Fünf Jahre Haft 2019
Als Tatverdächtiger wurde Rodrigo Lanza festgenommen. Der erste Prozess gegen Rodrigo im November 2019 führte zu einer Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge zu fünf Jahren Haft. Staatsanwaltschaft und Nebenklage legten jedoch beim Obersten Gericht von Aragon Berufung ein, woraufhin es zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens kam. Diesmal forderte die Jury Lanza des Mordes für schuldig zu sprechen und zu 25 Jahren Haft und einer Entschädigung von 500.000 Euro zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft hatte 20 Jahre Haft und 150.000 Euro Entschädigung gefordert, die Nebenklage – bestehend aus der Familie des Verstorbenen mit Unterstützung der rechten Partei „VOX“ - forderte 23 Jahre Haft und 500.000 Euro Entschädigung.
20 Jahre Gefängnis 2020
Am 23. September 2020 fällte die Richterin das Urteil: Rodrigo wurde des „heimtückischen“ und politisch motivierten Mordes für schuldig erklärt und zu 20 Jahren Haft und einer Entschädigungszahlung von 200.000 Euro verurteilt. Rodrigo selbst hatte in seiner Verteidigung stets erklärt, dass er aus einer Selbstverteidigungssituation heraus auf einen Messerangriff von Laínez reagiert habe. Angehörige und Freund_innen von ihm veröffentlichten eine Stellungnahme, in der sie den Angehörigen des Opfers ihre Anteilnahme aussprachen und die Sicht Rodrigos darstellten. Demnach hatte Laínez Rodrigo in der Bar zu sich gerufen und ihn als „sudaca de mierda“ beleidigt. Hierbei han-delt es sich um eine rassistische Beleidigung gegen Lateinamerikaner_innen, Rodrigo stammt aus Chile. Als Rodrigo mit seinen drei Begleiter_innen später das Lokal verließ, sei ihm Laínez gefolgt und habe ihn mit einem Messer attackieren wollen, worauf er ihm ins Gesicht geschlagen habe. Ein Freund von Rodrigo bestätigt dies und gibt an, er habe laut „Achtung, er hat ein Messer!“ gerufen; Rodrigo musste also mit einem Angriff gerechnet haben. Da das Messer jedoch nie gefunden wurde, würdigte das Gericht diesen Umstand nicht.
Da Rodrigo seither in Untersuchungshaft saß, werden diese drei Jahre auf die Haft angerechnet. Der Anwalt von Rodrigo kündigte an, gegen das Urteil Berufung einzulegen.
Politische Kampagne im Hintergrund
Der Fall erregte Aufsehen in der spanischen Öffentlichkeit, es wurde eine Kampagne gegen Rodrigo gefahren und eine spekulative Version lanciert, die Rodrigo vorverurteilte. Die Presse nannte es das „Verbrechen der Hosenträger“ und behauptete, Laínez sei nur deshalb angegriffen worden, weil er Hosenträger mit den Farben der spanischen Flagge getragen habe. Die Hosenträger wurden jedoch nie gefunden. Der Diskurs in den bürgerlichen bis extrem rechten Medien steht im Kontext der katalanischen Unabhängigkeitserklärung im selben Zeitraum. Die politische Situation beeinflusste das Verfahren und der Fall wurde gegen die katalanische Bewegung verwendet.
Aufgegriffen wurde hierzu auch ein Fall aus der Vergangenheit: Im Jahr 2008 war Rodrigo wegen schwerer Körperverletzung an einem Polizisten verurteilt worden. Er soll am 4. Februar 2006 einen Blumentopf auf einen Polizisten geworfen und diesen dabei schwer verletzt haben. Bei der Räumung einer Party in einem besetzten Haus in Barcelona war es zu Auseinandersetzungen gekommen, es flog ein Blumentopf aus dem Haus und traf einen unbehelmten Polizisten am Kopf. Die Polizei nahm noch in der Nacht wahllos zahlreiche Personen zum Teil weit über das Stadtgebiet verstreut fest, die äußerlich der linken Szene zugerechnet wurden. Auch Rodrigo, der sich jedoch zur Tatzeit nicht im Haus, sondern auf der Straße aufhielt, wurde festgenommen und angeklagt. Als sich der Auftenthaltsort Rodrigos nicht mit der Flugbahn des Blumentopfes in Einklang bringen liess, wurde kurzerhand die Version des Tatgeschehens geändert.
Damals kam es zu einem langen Prozess, es gab viele Verhaftungen und am Ende wurden vier Personen zu Haftstrafen verurteilt. Patricia Heras, eine der in dem Fall angeklagten Jugendlichen, nahm sich bei einem Freigang das Leben. Bekannte und Angehörige beschrieben Patricia Heras als Transfeministin, die unter anderem in der Queer-Szene in Barcelona sowie bei Initiativen wie „Post-Porno“ aktiv war. Patricia Heras habe sich freiwillig für den Tod entschieden, wobei „absolut keinen Zweifel daran bestehe, dass die Umstände der Repression ihre Entscheidung beeinflussten“, betonten Freund_innen und Genoss_innen.2
Ein im Jahr 2013 erschienener Dokumentarfilm „Ciutat morta” zu dem Fall – bekannt als „Fall F4“ (4. Februar) – kommt in seinen Recherchen zu dem Schluss, dass die Urteile ungerechtfertigt waren und beschreibt Vorurteile, Erniedrigungen und Gewalt bei der Polizei und die Tendenz zur Straffreiheit bei der Strafverfolgung von Polizist_innen. Ein Netzwerk aus polizeilicher und administrativer Korruption wird skizziert. Das lokale Fernsehen TV3 weigerte sich bis 2015, den Film zu produzieren oder zu zeigen. Als er doch ausgestrahlt wurde, waren auf Anordnung des Gerichts fünf Minuten gekürzt worden.
Nachdem Rodrigo Lanza fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte, zog er nach Saragossa, nicht zuletzt, weil er in Barcelona fortwährenden Polizeischikanen ausgesetzt war. Vor dem Hintergrund hatte Rodrigo nach seiner Freilassung geäußert, er glaube nicht an das Rechtssystem und suche nach Vergeltung für das, was ihm widerfahren ist. Eine Debatte über „Schuld“ und „Unschuld“, die Konstruktion von Gerechtigkeit und ob diese Kategorien in dieser Gesellschaft überhaupt Sinn ergeben (um dann an die Unschuld zu appellieren), beschäftigte Gefangenensolidaritätsgruppen und die anarchistische Bewegung.
Die Aussagen von Rodrigo griffen nun nicht nur rechte Medien auf und bezeichneten die Auseinandersetzung von Saragossa als eine angekündigte Vergeltungstat. Die Zeitung „El Periodico“ übertitelte ihre Berichterstattung mit: „Ich suche nach Rache, das habe ich ganz klar.“ Rodrigos politische Aussagen wie „Ich glaube heute mehr als denn je an die rechtsmäßige Selbstverteidigung, an den Antifaschismus, an meine Geschwister auf den Straßen, an meine Familie, an meine Prinzipien“, werden nunmehr von der Anklage so gedeutet, dass aufgrund seiner politischen Einstellung eine Auseinandersetzung mit einem neofaschistischen Falangisten keine Selbstverteidigung sein könne, sondern ein bewusstes Verbrechen (Hassverbrechen), bei dem der Gegner nur aufgrund seiner Gesinnung angegriffen worden sei.
Die extreme Rechte in Spanien bezeichnet den getöteten Víctor Laínez als einen von ihnen. Er sei seit den 1980er Jahren Mitglied der „Falange Española de las JONS“ (die 1934 gegründete spanische faschistische Partei) gewesen. Zu seiner Beerdigung sollen Vertreter der Falange mit roten Rosen erschienen sein. Die rechte Partei „VOX“ machte sich als Nebenklägerin im Verfahren gegen Rodrigo den Fall zu Eigen, Rechtsanwalt David Arranz war als Vertreter der Partei im Prozess.
Der Fall war auch Thema im spanischen Kongress, die „VOX“-Sprecherin Macarena Olona zeigte dem zweiten Vizepräsidenten ein Foto von Rodrigo Lanza und verkündete: „Sie kannten diesen Kerl, Mr. Iglesias“. Währenddessen berichtete Rodrigos Mutter kurz nach der Verhaftung von Morddrohungen durch Neonazis gegen sie und andere Familienmitglieder. Sie fürchten um ihr Leben.
Freunde und Unterstützer_innen rufen dazu auf, Rodrigo im Gefängnis zu schreiben:
Rodrigo Lanza HuidobroCentro Penitenciario De ZueraAutovía A-23, Km 32850800, Zaragoza, Spanien
- 1Die Falange war eine faschistische Bewegung in Spanien, die von 1933 bis 1937 bestand. Ihre Mitglieder wurden als Falangisten bezeichnet. Am 19. April 1937 wurden die faschistischen Falangisten zusammen mit den monarchistischen Carlisten von General Francisco Franco zur Staatspartei F.E.T y de las JONS vereinigt, deren Parteichef Franco wurde.
- 2marina.blogsport.de/2011/07/08/ehemalige-gefangene-in-spanien-begeht-selbstmord/#more-59