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Systemischer Rassismus und Covid-19: Die große Gleichgültigkeit

Einleitung

Durch systemischen Rassismus gewachsene sozioökonomische Ungleichheiten fallen mit dem Ausbruch des Coronavirus besonders auf und lassen sich nicht mehr so leicht in der Statistik verstecken. 

Foto: Christian Ditsch

In England und Wales sterben überproportional viele Menschen mit sogenanntem „BAME“-Hintergrund („Black, Asian, and minority ethnic“) an Covid-19. Auch in den USA zeigt sich, dass besonders die People of Color (POC) überproportional betroffen sind. In beiden angelsächsischen Systemen offenbart sich nun, wie Austerität, systemischer Rassismus und die für Einkommensschwache oft unerschwingliche private Gesundheitsvorsorge in den USA und die Unterfinanzierung des staatlichen NHS (National Health Service) in Großbritannien, dazu beitragen, dass überproportional viele POC chronisch krank sind und eine geringere Lebenserwartung als Weiße haben.

In den USA und Großbritannien sind Vorerkrankungen wie Asthma, Herzkrankheiten und Stresssymptome unter POC schon lange ein Problem. Sie leben oft in Gebieten mit besonders hoher Luftverschmutzung, in überfüllten Wohnungen, haben schlechten Zugang zu Bildung, und arbeiten im Einzelhandel, im öffentlichen Transport, in der Pflege oder anderen oft schlechtbezahlten aber nun als essenziell geltenden Jobs und sind somit stärker in Gefahr, sich zu infizieren, als jemand der zuhause im Homeoffice am Laptop arbeitet.

Durch systemischen Rassismus sind POC überproportional arm, durch ihre Armut öfter chronisch krank. Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit in England und Wales an Covid-19 zu sterben, für POC beinahe doppelt so hoch wie für Weiße. Auch Menschen aus „sozial benachteiligten“ Gegenden Englands sterben eher an Covid-19 als jene aus reicheren Gegenden. Etwa 40 % der medizinischen Angestellten im britischen NHS haben einen „BAME“-Hintergrund. Bei den an Covid-19 Verstorbenen medizinischen Angestellten liegt der Anteil „BAME“ zu weiß bei 60 Prozent. In den USA beträgt der Anteil der POC an der Gesamtbevölkerung 13  Prozent, der Anteil an Covid-19 Verstorbenen beträgt 25 Prozent.

Staatliche Beratergremien wie die britische SAGE (Scientific Advisory Group for Emergencies) versuchen diese entlarvenden Zahlen zu widerlegen: Unter Berücksichtigung von Vorerkrankungen und „Entbehrungen“ (vermutlich sind damit generell die Lebensbedingungen der „Armen“ gemeint) sei die Wahrscheinlichkeit für Minderheiten an Covid-19 zu sterben nicht erhöht. In den USA werden ähnliche Statistikspiele genutzt: Der allgemeinhin schlechte Gesundheitszustand der POC sei schuld an den vielen Covid-19-Toten. Problem gelöst.

Die Probleme auf der griechischen Insel Lesbos wiederum werden durch Wegschauen gelöst. Das Lager Moria ist seit Jahren hoffnungslos überfüllt. Konzipiert für 3 000 Menschen leben dort etwa 20 000 Menschen in oft selbst gezimmerten Provisorien. Im Zentrum des Lagers teilen sich etwa 200 Menschen eine Dusche und eine Toilette, weiter am Rand sind es schon 500. Zur Essensausgabe müssen die Geflüchteten stundenlang anstehen, sowohl Hygiene- als auch Abstandsregelungen sind unmöglich einzuhalten. Unter diesen Zuständen leben etwa 40 000 Geflüchtete in Lagern in ganz Griechenland. Bei Covid-19 Ausbrüchen werden Lager (wie etwa Malakasa) komplett unter Quarantäne gestellt und die Menschen darin weitestgehend sich selbst überlassen.

Schaut man sich die schieren Zahlen an, scheint sich die größte Katastrophe jedoch nicht im Mittelmeerraum anzubahnen, sondern in Cox’s Bazar in Bangladesch. Dort liegt das mit einer Million internierter Rohingya größte Lager der Welt: Kutupalong. Erst 2019 umzäunte die Regierung dort das Areal, schränkte die Bewegungsfreiheit der Geflüchteten ein und wies die Telekommunikationsanbieter an, die Internetgeschwindigkeit auf das bare Minimum zu reduzieren. In diesem Kommunikationsblackout ist der Zugang zu wissenschaftlichen Informationen über Covid-19 unterbunden. Im Zusammenhang mit den katastrophalen Hygiene-Bedingungen und der Gedrängtheit von einer Million Menschen ist dies ein optimaler Nährboden für das im Mai erstmals dort aufgetretene Coronavirus. Was sich in den Folterlagern im Bürgerkriegsland Libyen abspielt, kann niemand überprüfen, geschweige denn sich vorstellen.

In Deutschland sind die Bedingungen für Geflüchtete in Lagern besser, dennoch haben sie auch hier keinen freien Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und menschenwürdiger Unterbringung. Auch hier gilt noch immer das Credo: konzentrieren, kontrollieren, abschrecken. Da Hygiene- und Abstandsregelungen unmöglich umzusetzen sind, kommt es zu Massenansteckungen, woraufhin ganze Lager, wie in Griechenland, unter Quaran­täne gestellt werden.

Wie wenig die Schwächsten in Deutschland wert sind, zeigt auch der „neue Skandal“ um an Covid-19-erkrankte rumänische „Leiharbeiter_innen“ in der deutschen Fleischindustrie. In vielen Betrieben kommt es zu Massenansteckungen und in den Massenunterkünften der Leiharbeitsmafia ist Isolierung unmöglich. Die zuständigen Behörden schieben die Verantwortung hin und her, passieren tut: nichts. Das einzig neue an diesem „Skandal“ ist das Coronavirus. So oder so ähnlich schafft es die Sklavenarbeit in der Fleischindustrie alle Jahre wieder in das öffentliche Be­wusstsein, nur um genauso schnell wieder daraus zu verschwinden. Seit 1991 gibt es die: „Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Rumänien über die Entsendung rumänischer Arbeitnehmer aus in Rumänien ansässigen Unternehmen zur Beschäftigung auf der Grundlage von Werkverträgen“.

Ähnliche Vereinbarungen gibt es mit beinahe allen osteuropäischen Ländern. Demnach dürfen Osteuropäer nur in deutschen Betrieben arbeiten, solange sie bei einem osteuropäischen Unternehmen angestellt sind. Seit Bestehen dieser Vereinbarung sprechen Betriebsrät_innen und Gewerkschafter_innen von Lohnsklaverei und organisierter Kriminalität. Die „Leiharbeiter_innen“ müssen Zimmer in überteuerten Sammelunterkünften beziehen, arbeiten auf Abruf im Schichtdienst und verdienen – nach Abzug der Gebühr für die „Leiharbeitsfirma“ – etwa vier Euro die Stunde.

Dieser Lohnsklavenhandel hat seit Jahren System. In unzähligen Verfahren gegen diese Sklavenhändler geht es jedoch nie um Sklaverei, Menschenhandel, Bedrohung, Erpressung oder Lohndumping, sondern um Sozialversicherungsbetrug und Steuerhinterziehung in Millionenhöhe. Der wirtschaftliche Schaden, der dem deutschen Staat entsteht, hat einen höheren Stellenwert als die Menschenwürde und das Wohl von Osteuropäer_innen.

Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien scheinen die schnellen und umfassenden Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie in Deutschland eine größere Katastrophe vorerst abgewendet zu haben. Hier zeigt sich das deutsche Gesundheitssystem äußerst fortschrittlich im internationalen Vergleich – angesichts der katastrophalen Arbeitsbedingungen vieler medizinischer Angestellter bei hiesigen profitorientierten Gesundheitskonzernen ein eher düsteres Bild. Dennoch sind auch in Deutschland die Schwächsten am stärksten betroffen. Es zeichnet sich eine Differenzierung zwischen schützenswertem Leben und nicht schützenswertem Leben ab. Im Namen der Sicherheit für die Allgemeinheit werden ganze Lager unter Quarantäne gestellt und die darin Internierten, wie in einer Dystopie, dem Virus und sich selbst überlassen.

In den USA und Großbritannien wird versucht, die eindeutigen Zahlen zu den Covid-19-Toten durch Verweise auf Vorerkrankungen und allgemein schlechte Lebensbedingungen der schwarzen Bevölkerung zu relativieren. In klassischer Täter-Opfer-Umkehr wird den Opfern von systemischem Rassismus eine Mitschuld an den hohen Todesraten gegeben und ihr „ungesunder Lebensstil“ angeprangert – als wäre das eine Lifestyleentscheidung. Anstatt sich mit solch banalen Dingen wie der Gesundheitsversorgung von Minderheiten und dem Bekämpfen von systemischem Rassismus zu befassen, wird lieber weggeguckt, schöngerechnet und Schuld zugewiesen. Wenn das alles nichts hilft, wird ein Zaun ums Lager gebaut und das Internet abgedreht.