Grenzregime während der Corona-Krise
Christian JakobDass es die Fremden sind die Krankheiten bringen ist ein uraltes rassistisches Stereotyp. Wie mächtig es noch ist zeigte sich während der Corona-Krise. „Schaut auf die Außengrenzen. Dort zeigt sich, wer wir sind“, sagte dazu der grüne EU-Abgeordnete Erik Marquardt. Es war ein Bild, das man lieber nicht im Spiegel sieht.
Malta und Italien hatten die Flüchtlingsrettung und -aufnahme wegen Corona offiziell eingestellt. Man habe in der Gesundheitskrise keine Kapazitäten für eine Seenotrettung weit draußen auf dem Meer und müsse entscheiden zwischen der „Gesundheit vor Ort und anderen Dingen“, sagte Maltas Regierungschef Robert Abela. Doch es lag weder an fehlenden Kapazitäten noch am Seuchenschutz. Der Grund, weshalb nicht gerettet wurde, war der gleiche wie vor Corona: Die Abschreckung jener, die man in Europa nicht haben will. Die Seuche war dafür nur ein Vorwand.Durch Quarantäne, Reisebeschränkungen und Lieferengpässe bei Ersatzteilen hatte die Coronapandemie auch die Seenotrettung im Mittelmeer nach und nach ausgeschaltet. Seit Ende April 2020 war kein einziges privates Rettungsschiff mehr im Einsatz.
An Ostern etwa trieben hunderte Menschen in Seenot auf dem Mittelmeer. Wer wollte, konnte ihnen dabei zuhören, konnte mitlesen, wie sie den eigenen Tod näher rücken sahen. AktivistInnen der Initiative Alarm Phone hatten über Satellitentelefon den Kontakt gehalten und die Nachrichten der Schiffbrüchigen gleichsam in Echtzeit ins Netz gestellt um eine Reaktion zu erzwingen. Das Alarm Phone legte später Mitschnitte von Telefongesprächen mit 66 Schiffbrüchigen vor, die fünf Tage auf See trieben und nach dem ersten Notruf 41 Stunden lang auf Rettung warteten. Darauf war etwa zu hören wie ein Mann davon berichtete, dass ein maltesischer Soldat habe ihr Stromkabel für den Motor gekappt habe und ihr Boot voll Wasser laufe. „Er sagt, niemand kommt nach Malta, das hat er gesagt. Und als er ging, sagte er, ich verlasse euch, ich lasse euch im Wasser sterben.“
An jenem Tag wurden im gleichen Seegebiet fünf Leichen gefunden. Sie sollen von einem anderen Flüchtlingsboot stammen, das nach sechs Tagen auf dem Meer ebenfalls vor Malta in Seenot geraten war. Sieben Insassen dieses Bootes gelten bis heute als vermisst. Die Regierung hatte später eingeräumt einen Fischkutter angewiesen zu haben, die 51 Überlebenden des Bootes nach Libyen zurückzubringen.
Flüchtlinge in anderen Booten schafften es aus eigener Kraft nach Malta und wurden dort auf privaten Kreuzfahrtschiffen interniert. Über 400 gerettete Menschen saßen Anfang Juni in diesen von Maltas Regierung gecharteten Schiffen fest. Anstatt sie an einen sicheren Ort an Land zu bringen, „werden sie für politische Verhandlungen unter den EU-Mitgliedstaaten benutzt“, klagte die NGO SOS Mediterrannee. Eine politische Lösung aber war nicht in Sicht – kein Land wollte sie aufnehmen.
Aus Angst vor einem Ausbruch von Coronavirus-Infektionen hatten hunderte BewohnerInnen Ende April den Eingang des Geflüchteten-Lagers von Moria auf der griechischen Insel Lesbos blockiert. Sie trugen Transparente mit dem Spruch: „Freiheit für alle. Wir sind Covid-19 ausgesetzt“. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis in den Flüchtlingslagern Corona-Infektionen registriert werden, befürchteten Ärzte. Doch eine Evakuierung gab es nicht.
Auch in Deutschland traf die Pandemie die rund 215.000 BewohnerInnen von Flüchtlingsunterkünften besonders. Räumliche Distanz ist an diesen Orten nicht möglich, teils teilen sich sechs Personen ein Zimmer und waschen sich in Gemeinschaftsbädern. Wird ein Covid 19-Fall entdeckt, heißt es automatisch für hunderte andere Bewohner: Zwei Wochen lang kein Ausgang, kein Einkauf – und Ansteckungsgefahr. Forscher des Kompetenznetzwerks Public Health Covid-19 haben Unterkünfte in NRW, Bayern, Brandenburg, Bremen, Hessen, Sachsen und Sachsen-Anhalt untersucht. Ihre Ergebnisse zeigten: Tritt ein Infektionsfall auf, so stecken sich schnell viele weitere Personen an. Und zwar in vergleichbarer Höhe wie auf Kreuzfahrtschiffen.
Am 21. April starb der erste Bewohner eines Flüchtlingslagers in Deutschland an Covid-19. Es handelte sich um einen 60-jährigen Mann aus Armenien, der im „Anker-Zentrum” Schweinfurt lebte. Dort hatten sich seit März immer mehr Menschen gegenseitig angesteckt, während das Heim unter Quarantäne stand. In der Landeserstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen stieg Mitte April die Zahl Infizierter in wenigen Tagen von sieben auf 313, im Heim Lindenstraße in Bremen für jugendliche Flüchtlinge infizierten sich innerhalb weniger Tage über 120 Bewohner.
In Lagern wie Schweinfurt oder Halberstadt traten Flüchtling deshalb in Hungerstreik. Unterstützung erhielten sie durch Demonstrationen in vielen Städten. Nach drei sächsischen Verwaltungsgerichten stellte Mitte Mai auch das VG Münster fest: Infektionsschutz muss auch in Unterkünften für Geflüchtete gelten. Wenn dies nicht sichergestellt ist, dürfen die Personen ausziehen. Zu einer flächendecken Umverlegung führten die Urteile aber nicht.
Die Pandemie machte es aber auch schwierig, überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Die EU-Binnengrenzen wurden wegen Corona weitgehend geschlossen. Nach Deutschland durfte nur noch wer einen „dringenden Einreisegrund“ hat. Ob Asyl ein solcher sei, legte das Innennministerium in das Ermessen der Bundespolizei. Und wer reingelassen wurde, konnte nur noch einen Asylantrag stellen, wenn er negativ auf das Virus getestet wurden oder eine 14-tägige Quarantäne nachweisen konnte.
So ging die Zahl der Asylanträge in der EU sowie in der Schweiz und Norwegen in den ersten vier Monaten dieses Jahres deutlich zurück: Von Anfang Januar bis Ende April stellten insgesamt 164.718 Personen einen Antrag und damit 25 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum.
Für Flüchtlinge blieben die Grenzen also weitgehend zu. Eine Ausnahme machte Deutschland hingegen für SaisonarbeiterInnen in der Landwirtschaft. Am 2. April legte die Bundesregierung Regeln fest, unter denen diese einreisen konnten. Darin stand, dass die Erntehelfer_innen in möglichst kleine Gruppen von fünf bis maximal 20 Personen aufgeteilt werden. Zimmer sollen halb belegt werden. Gehalten hat sich daran offenbar kaum jemand. Traurige Symbolkraft für den schlechten Schutz von migrantischen Arbeiter_innen hat der Tod eines 57-jährigen Erntehelfers aus Rumänien am 11. April in Bad Krozingen bei Freiburg. Der Mann hatte dort bei der Spargelernte geholfen. Nur wenige Tage später wurde das Virus bei 16 weiteren Erntehelfer_innen nachgewiesen. Und in den folgenden Wochen infizierten sich weit über 1.000 meist aus Rumänien oder Bulgarien stammende ArbeiterInnen in deutschen Schlachthöfen. Zufall? Keineswegs. Die MigrantInnen würden von Subunternehmen beschäftigt, die sich nicht an deutsches Arbeitsrecht hielten, sagte etwa Wilfried Bommert vom Institut für Welternährung. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gebe es für die SchlachthofarbeiterInnen nicht. „Das heißt, die arbeiten auch, wenn sie krank sind, weil es sonst keinen Lohn gibt. Das ist der ideale Nährboden für Krankheitserreger.“
Die Gruppe „Corona Border Monitoring“ des Netzwerks kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) berichtete von Abweisungen bulgarischer Staatsbürger_innen durch die Bundespolizei an den Flughäfen in Berlin und Frankfurt. Teils seien die Menschen vor ihrem Rückflug in Gewahrsam festgehalten worden. Nachdem die Reisenden zurückgeschickt wurden, mussten sie in Bulgarien, das Mitglied der EU aber nicht Teil des Schengener Abkommens ist, für zwei Woche in Quarantäne.
Eine Recherche des WDR ergab, dass bereits erteilte Visa für Reisen, die wegen Corona nicht angetreten werden können, im Ausland nicht verlängert werden und deshalb verfallen. Antragsteller_innen, die mitunter Jahre auf ein Visum gewartet haben, müssen einen neuen Antrag stellen und die Prozedur von vorne beginnen. Die neu zu stellenden Anträge führen zu einer zusätzlichen Belastung der sowieso bereits überlasteten Visa-Antragsstellen. Familientrennung wird unnötig in die Länge gezogen, was immense Folgen für Ehepartner_innen, (werdende) Eltern und Kinder haben kann.