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Der Hamburger Stutthof-Prozess 2019/20

Adrian Stumpp
Einleitung

Von den Besatzer_innen zunächst als Gefangenenlager eingerichtet, wurde Stutthof, einen Tag nach dem deutschen Überfall auf Polen am 2. September 1939, Anfang Januar 1942 zum Konzentrationslager. Die vom SS-Lagerpersonal geschaffenen und aufrechterhaltenen Lebensbedingungen der Häftlinge zielten auf deren psychische und physische Vernichtung. Ab Mitte 1944 wurde das KZ Stutthof auch Schauplatz systematischer Vernichtungsaktionen. Deutsche Täter ermordeten zwischen Juni und Dezember 1944 mindestens 1 000 Menschen, v. a. Jüdinnen und Juden, in einer Gaskammer und einem für Vergasungen umgebauten Eisen­bahn­waggon. Darüber hinaus erschossen sie jüdische Häftlinge in der im Krematorium befindlichen Genickschussanlage und mordeten mit Giftinjektionen. Insgesamt töteten die Nazis etwa 65 000 Menschen in Stutthof, ca. 28 000 davon waren Jüdinnen und Juden.

Bild: Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Poland/MSZ; flickr.com; CC BY-ND 2.0

Ein unbeteiligter Täter

Am 17. Oktober 2019 begann der Prozess gegen den ehemaligen SS-Wachmann Bruno Dey, der wegen dessen Minderjährigkeit zum Tatzeitpunkt vor der Jugendstrafkammer des Hamburger Landgerichts geführt wurde. Die Anklage warf Dey vor, durch seinen Wachdienst im KZ Stutthof in der Zeit vom 9. August 1944 bis 26. April 1945 Beihilfe zum Mord an mindestens 5 230 Menschen geleistet zu haben. Mit 17 Jahren wurde der gelernte Bäcker Dey zur Wehrmacht einberufen, als frontuntauglich eingestuft und zum Wachdienst nach Stutthof abkommandiert. Er zählte zu einer Gruppe von rund 500 Wehrmachtssoldaten, die ab Juni 1944 zur Verstärkung der Wachmannschaften in Stutthof eingesetzt und in die Waffen-SS übernommen wurden. Der SS-Schütze Dey leistete mindestens Wachdienst in der Postenkette um das Lager, auf den Wachtürmen und bei der direkten Bewachung von Häftlingen auf Arbeitskommandos. Er war mit einem Karabiner bewaffnet und hatte die Aufgabe Fluchten und Aufstände zu verhindern.

Vor Gericht versuchte sich der 93-jährige Angeklagte von Beginn an als willenloses Opfer äußerer Umstände zu inszenieren. Gegen die Übernahme in die SS und den KZ-Wachdienst habe er sich nicht wehren können. Sein Wille habe nicht gezählt und als Soldat habe er Befehle ausführen müssen. Bruno Dey räumte ein, auch auf dem Wachturm neben dem Krematorium und der Gaskammer gestanden zu haben. Vom systematischen Morden wollte er jedoch nichts mitbekommen haben. Lediglich bei Gesprächen von Kameraden habe er „munkeln“ gehört, dass in Stutthof Menschen vergast würden. Einmal habe er selbst gesehen, wie eine Gruppe von Häftlingen in die Gaskammer geführt worden sei. Erst als sie im Gebäude waren, habe er „Schreie und Poltern“ gehört, aber nicht gewusst, dass es sich um Vergasungen handele. Und überhaupt: Was hätte er schon dagegen machen können? Wenn er versucht hätte sich versetzen zu lassen, so behauptete Dey, wäre auch kein Mensch gerettet worden.

Angesichts dieser zynischen, verharmlosenden und auf Selbstentlastung zielenden Aussagen blieben die Beileidsbekundungen des Angeklagten reine Makulatur. 75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und dem in dieser Zeit angehäuften gesellschaftlichen Wissen um die deutschen Verbrechen, an denen sich Dey direkt beteiligt hatte, griff der Angeklagte auf bewährte Formen deutscher Schuldabwehr zurück und präsentierte sich als unbeteiligter und zu Unrecht auf der Anklagebank sitzender alter Mann. Sein Selbstmitleid gipfelte in der gleich zu Prozessbeginn getätigten Aussage: „So habe ich mir mein Alter nicht vorgestellt!

Die Stimmen der Überlebenden

Auch in diesem NS-Verfahren waren es die Überlebenden, die die verschleiernden Erklärungen der Täter aufbrachen und den mörderischen KZ-Alltag schonungslos schilderten. Der polnische Widerstandskämpfer Marek Dunin-Wasowicz, der im Mai 1944 aus dem Warschauer Pawiak-­Gefängnis nach Stutthof deportiert worden war, erinnerte sich an die allgegenwärtigen Leichen im Lager, die neben den Häftlingen beim Appell auf dem Boden gelegen hätten und von Gefangenen in überladenen Wagen zum Krematorium gezogen worden seien.

Der jüdische Überlebende Abraham Korisky schilderte die permanenten Misshandlungen durch die Wachmannschaften, die schon bei seiner Ankunft im Lager im August 1944 auf die Menschen mit Gewehrkolben eingeprügelt und Schüsse in die Luft abgegeben hätten, um die Neuankömmlinge einzuschüchtern.

Rosa Bloch, die im Juli 1944 aus dem KZ und früheren Ghetto Kaunas nach Stutthof verschleppt worden war, erklärte vor Gericht, wie sie von einem SS-Mann mit einem Stuhl niedergeschlagen worden sei, weil sie versucht hatte bei der Essensausgabe etwas mehr Suppe zu erhalten. Bloch beschrieb wie allmächtig das Wachpersonal auftrat, das Häftlinge ständig hätte kontrollieren und töten können. An die Täter von Stutthof gerichtet, sagte sie: „Ich werde ihnen nie verzeihen und das nie vergessen.“

Die Morde von Neustadt

Ende April 1945 ließ die SS das KZ Stutthof endgültig räumen. Etwa 2 000 Häftlinge wurden auf zwei Kähne gesperrt. Als Bewacher an Bord befand sich auch Bruno Dey. Nach mehrtägiger Fahrt über die Ostsee erreichte der Räumungstransport am 2. Mai 1945 Neustadt/Holstein. Am Strand von Pelzerhaken kam es dann zu einem der zahlreichen Verbrechen der Kriegsendphase. SS-Männer aus Stutthof und Neustädter Marinesoldaten ermordeten hier am Morgen des 3. Mai 1945 mindestens 257 KZ-Häftlinge. Die Frage nach der Rolle von Bruno Dey bei diesem Massaker war im Verfahren ausgeklammert worden. Dey erklärte, dass er mit einem Gewehr bewaffnet am „Einsammeln“ von Häftlingen beteiligt gewesen sei und Leichen auf einen LKW geladen habe. Wie dieses „Einsammeln“ ablief, schilderte der jüdische Überlebende David Ackermann, der die Räumung von Stutthof mitmachen musste. Ein SS-Mann habe Häftlinge, die erschöpft auf dem Boden saßen, unmittelbar neben ihm mit Genickschüssen getötet. Die Wachen trieben die Häftlinge anschließend nach Neustadt und erschossen diejenigen, die nicht mehr mithalten konnten.

Das Urteil

Am 23. Juli 2020 wurde Bruno Dey wegen Beihilfe zum Mord in 5 232 Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in einem Fall zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Die Richterin betonte, dass der Angeklagte seine Schuld nicht erkannt und seine Funktion in Stutthof lediglich als die eines Beobachters interpretiert habe. Den Versuch seine Taten mit einer angeblichen Befehlssituation zu rechtfertigen, ließ das Gericht nicht gelten.

Das verschwindend geringe Strafmaß resultierte auch aus dem Vorhaben, das Verfahren angesichts des Alters des Angeklagten zügig abzuschließen. Die Verteidigung hatte angekündigt, bei einer Bewährungsstrafe auf eine Berufung verzichten zu wollen.

Das mittlerweile rechtskräftige Urteil hat einen neuen Maßstab bei der juristischen Bewertung von NS-Verbrechen gesetzt. Der Angeklagte wurde nicht nur verurteilt, ohne dass ihm konkrete Taten nachgewiesen werden konnten, sondern auch für den gesamten Zeitraum seines Wachdienstes in einem Konzentrations­lager. Die Urteile gegen John Demjanjuk 2011 und Oskar Gröning 2015, die den bis dato notwendigen Einzeltaten-Nachweis in NS-Prozessen obsolet werden ließen, waren noch an die Tätigkeit in einem reinen Vernichtungslager, wie im Fall Demjanjuk Sobibor, und an zeitlich eingrenzbare Vernichtungsaktionen, wie bei Gröning die „Ungarn-Aktion“ 1944 in Auschwitz-Birkenau, gebunden.

Das Hamburger Landgericht gelangte nun zu der Erkenntnis, dass auch die Lebensbedingungen in einem Konzentrationslager vom ersten Tag der Inhaftierung ein „grausames Sterben“ für die Häftlinge bedeutet hätten. Diese Erkenntnis ist nicht neu und wird von Überlebenden seit 75 Jahren kontinuierlich in die Öffentlichkeit getragen. Deutsche Gerichte hatten jedoch kein Interesse daran, ihnen zuzuhören und NS-Täter strafrechtlich zu belangen.

Ob das Urteil von Hamburg für weitere NS-Prozesse richtungsweisend sein wird, ist mehr als fraglich. Lediglich in einem der aktuell noch 14 bei deutschen Staatsanwaltschaften anhängigen Ermittlungsverfahren gegen ehemaliges KZ-Personal  wurde bisher eine Anklage zugelassen. Prozesse werden weiterhin verschleppt und durch ihr hohes Alter können sich die Beschuldigten den Verfahren oftmals erfolgreich durch Verhandlungsunfähigkeit entziehen. Die deutsche Justiz, so hat es die Stutthof-Überlebende Judith Meisel auf den Punkt gebracht, hat NS-Täter wie Bruno Dey sieben Jahrzehnte in dem Glauben gelassen, in ihrem Leben nichts falsch gemacht zu haben.