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NSU-Prozess: Ein passendes Urteil

Rechtsanwalt Peer Stolle
Einleitung

Der 6. Strafsenat des OLG München hat sich die maximal zulässige Zeit genommen, nun liegt sie seit dem Frühsommer 2020 vor: die schriftliche Abfassung des im NSU-Verfahren am 11. Juli 2018 verkündeten Urteils.

Foto: Christian Ditsch

Die auf 3 025 Seiten verfassten schriftlichen Urteilsgründe stellen die passgenaue Fortschreibung der Ermittlungen und der Hauptverhandlung dar. Der Umfang des Urteils suggeriert lediglich eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Ergebnis der Beweisaufnahme. Tatsächlich werden in den Urteilsgründen ganz wesentliche Ergebnisse der Beweisaufnahme außen vor gelassen. Schon die mündliche Urteilsverkündung ließ erahnen, dass mit dem Urteil kein Beitrag zur Wahrheitsfindung geleistet und die Dimension des Stoffes außer Acht gelassen wird. Das schriftliche Urteil ist eine Fortsetzung dessen.

Maximale Entkontextualisierung der ­Taten

In dem Urteil wird an keiner Stelle auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem die persönliche Entwicklung der Angeklagten und ihre Radikalisierung stattgefunden haben, eingegangen. Weder die Wende noch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 und die damit verbundenen sozialen Veränderungen in Ostdeutschland werden überhaupt in dem Urteil erwähnt. Auch findet sich keinerlei Bezugnahme auf die Anfang der 1990er Jahre erfolgte Zunahme von rassistischen Einstellungen in der Bevölkerung und deren lautstarke und gewalttätige Artikulierung durch eine Neonazi-Szene, die - oft unterstützt von Teilen der Bevölke­rung - in vielen Orten Pogrom-Stimmung verursacht und permanent Anschläge und Angriffe auf Migrant*innen und deren Unterkünfte durchgeführt hat. Erwähnt werden in dem Urteil lediglich einzelne Vorfälle, die von Zeug*innen in der Hauptverhandlung erwähnt worden sind, wie das Grölen von rechten Liedern und das rassistische Beschimpfen von vietnamesischen Straßenverkäufer*innen.

Eine Einbettung der Entwicklung der Angeklagten und ihrer Taten, die ja nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Zuständen verstanden werden können, erfolgte nicht.
Folgerichtig wird sich in dem Urteil auch nicht mit den in der Beweisaufnahme erhobenen Erkenntnissen zum „Thüringer Heimatschutz“ (THS) auseinandergesetzt. Erwähnung findet dieser fast ausschließlich im Rahmen der Darstellung der Einlassungen der Angeklagten. Auch das Neonazi­-Netzwerk „Blood & Honour“ (B&H) findet keine Erwähnung, obwohl Mitglieder des Chemnitzer Ablegers ganz maßgeblich bei der Beschaffung von TNT für die „Kameradschaft Jena“ und für die Unterstützung beim Untertauchen von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe verantwortlich waren.

Eine Auseinandersetzung oder nur Erwähnung der damals in der Neonazi-Szene kursierenden Publikationen, Ideologien und Konzepte, die maßgeblich für die Entstehung und Ausrichtung des NSU gewesen sind, sucht man im Urteil vergebens.

Dass aus Jugendlichen rassistische Mörd­er*innen werden können, erklärt sich nach dem Urteil allein aus der Zugehörigkeit zu einer Jugendclique mit wenigen Mitgliedern.
Aufrechterhaltung der Trio-These

Wenig überraschend hält der Senat in der Urteilsbegründung an der These, dass der NSU nur aus Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bestanden habe, fest. Die Beweisführung dazu ist dünn. Zur Begründung wird insbesondere auf die von dem Angeklagten Gerlach beschriebene „Richtungsdiskussion“ in der „Kameradschaft Jena“ Bezug genommen, in dessen Rahmen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sich für, die Angeklagten Gerlach und Wohlleben sich gegen die Anwendung von Gewalt ausgesprochen haben sollen. Aus dieser Äußerung wird an späterer Stelle des Urteils sodann ein „Widerstand“ der Angeklagten Gerlach und Wohlleben gegen den Einsatz von Gewalt (Seite 574) konstruiert. Diese Unterscheidung von Befürwortern und Gegnern des Einsatzes von Gewalt widerspricht den weiteren Feststellungen im Urteil. Schließlich war der Angeklagte Wohlleben bei dem ersten Einsatz einer Bombenattrappe (im Rahmen der Anbringung des Puppentorsos) mit dabei. Außerdem war er gemeinsam mit den Angeklagten Gerlach und Schulze an der Beschaffung von Schusswaffen für die drei Untergetauchten beteiligt gewesen; Umstände, die ganz wesentlich gegen die Annahme, nur Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt hätten die Anwendung von Gewalt befürwortet, sprechen.

Gleiches gilt für die Annahme, die Entscheidung zur Gründung einer kriminellen/terroristischen Vereinigung im Sinne der Paragraphen 129, 129a StGB sei erst nach dem Untertauchen der Drei in Chemnitz erfolgt. Zwar wird im Urteil zurecht das Fertigen von Bombenattrappen, das Versenden von Drohschreiben, der dann folgende Einsatz von Bombenattrappen mit TNT und der in der Garage erfolgte Versuch der Herstellung von zünd- und sprengfähigen Rohrbomben als Eskalation in der Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt beschrieben. Die im Urteil sodann getroffene Feststellung, die Entscheidung, aus rassistischen Motiven Tötungsdelikte zu begehen und sich deshalb zu einer Vereinigung zusammenzuschließen, sei erst nach dem Umzug nach Chemnitz erfolgt, widerspricht der beschriebenen Eskalationsdynamik, die ja in Jena stattgefunden hat. Ziel war es offensichtlich, die Entscheidung zur Gründung der Vereinigung nach Chemnitz zu verlegen. Im Zusammenhang mit der weiteren kontrafaktischen Feststellung, dass der Kontakt der Drei zu anderen Personen nach dem Abtauchen auf ein Minimum beschränkt worden sei, sollte eine Kleingruppe konstruiert werden, die allein und aus der Illegalität heraus Entscheidungen getroffen und Taten geplant und durchgeführt hat.

Das vielfältige Wissen des Umfeldes und die umfangreichen Unterstützungshandlungen aus Jena und Chemnitz sollten damit heruntergespielt werden, um die Trio-These aufrechtzuerhalten.

Ganz besonders deutlich wird dies bei der Behauptung, der Angeklagte Eminger habe von den rassistischen Taten des NSU nichts gewusst. Diese, im Wesentlichen auf Angaben Zschäpes beruhende Annahme ist vollkommen lebensfremd und steht auch im Widerspruch zu den Ausführungen in dem knapp ein Jahr vorher erlassenen Beschluss, mit dem gegen Eminger Untersuchungshaft angeordnet wurde.

Totschweigen der Rolle der Sicherheitsbehörden

Die umfangreichen Wissensstände der Sicher­heitsbehörden über den Aufenthaltsort der Drei, über das sie unterstützende Netzwerk, über die Tatsache, dass sich die Drei Waffen beschaffen (wollten), die im Rahmen der Hauptverhandlung thematisiert und erlangt worden sind, finden im Urteil keine Erwähnung. So wird - entgegen dem Ergebnis der Beweisaufnahme - zunächst ausgeführt, dass nach dem Untertauchen der Kontakt zu einzelnen Personen, sofern er überhaupt aufrechterhalten worden sei, auf ein Minimum reduziert worden sei und auf eine Weise stattgefunden habe, dass es den Ermittlungsbehörden an Anhaltspunkten für den Aufenthaltsort der drei geflohenen Personen gemangelt habe. Das ist zunächst insofern falsch, als dass die Kontakte sehr vielfältig waren; in diesen war im Übrigen auch der Spitzel des Thüringer Verfassungsschutzes Tino Brandt mit involviert. Auch der Umstand, dass die Behörden bereits im Herbst 1998 durch die Angaben des V-Mannes Szczepanski über ausreichend Wissen verfügten, um Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe festzunehmen, findet keine Erwähnung. Stattdessen wird vollkommen unvermittelt und ohne weitere Begründung die Aussage eines Polizeibeamten, dass die Drei für die Behörden nach dem Januar 1998 nicht mehr „greifbar“ gewesen seien, als glaubhaft dargestellt.

Übernahme rassistischer Stereotypen und Deindividualisierung der Opfer

Von den Mordopfern erfahren wir lediglich ihren Namen; nicht mal das Alter oder der Beruf werden genannt. Sie werden im Urteil so beschrieben, wie sie vom NSU gesehen worden sind – als nicht unterscheidbare, austauschbare Opfer, ohne Persönlichkeit oder Individualität. Auch die Angaben der Angehörigen zu den Folgen der Taten finden keinerlei Erwähnung. Ihr Aussehen allerdings wird als „südländisch“ beschrieben. Damit werden nicht nur diskriminierende Muster wiederholt, sondern auch der Kern der vom NSU verfolgten Ideologie eines völkischen Rassismus igno­riert, der Menschen nicht nach ihrem Aussehen, sondern nach ihrer Herkunft und ihrer Zugehörigkeit beurteilt.

Das Urteil passt zu den „Aufklärungsbemühungen“ der Sicherheitsbehörden und des 6. Strafsenates. Die Aufgabe des Gerichts war von Anfang an klar formuliert: Eine gesellschaftliche Verantwortung sollte negiert, die (Un-)Tätigkeit der Sicher­heitsbehörden nicht kritisiert und die These einer abgeschottet agierenden Klein­gruppe, von der niemand wusste und der niemand habhaft werden konnte, bestätigt werden. Mit der schriftlichen Urteilsbegründung könnte jetzt versucht werden, einen Schlussstrich unter den NSU-Komplex zu ziehen: Es gibt keine weiteren Täter*innen, keine staatliche Verantwortung, nichts weiter aufzuklären- die Akte könne geschlossen werden. Es bleibt weiterhin unser aller Aufgabe, dass dies nicht passieren wird.

Lesetipp:

Antonia von der Behrens (Hrsg.),
Kein Schlusswort. Naziterror, Sicherheitsbehörden,
Unterstützernetzwerk. Plädoyers im NSU-Komplex. Hamburg 2018.