Schweiz: Breite Solidarität gegen massive Repression
Paul Kellner für die Kampagne 500K.chIn Basel werden Antifaschist*innen zu Haftstrafen verurteilt, weil sie sich 2018 einem genehmigten Neonazi-Aufmarsch entgegenstellten. Und weil sie damit erfolgreich waren.
Aufgrund der Pandemie hält sich die Schweizer Linke gerade ziemlich zurück mit öffentlichen Mobilisierungen. Doch es gibt Ausnahmen. Etwa jene vom 28. November 2020 in Basel: Unter der Parole „Für einen revolutionären Antifaschismus“ zogen etwa 3.500 Personen durch die Grenzstadt am Rhein. Es war die mit Abstand größte Antifa-Demonstration seit den antifaschistischen Abendspaziergängen in Bern Anfang der Nullerjahre. Die Demonstrant*innen kamen zu Hunderten aus Bern, Zürich, der Romandie und anderen Gegenden der Alpenrepublik nach Basel. Hintergrund dieser Massenmobilisierung ist eine Repressionswelle gegen die antifaschistische Bewegung. Und ein durchschlagender Erfolg einer „Anti-Nazi-Blockade“ vom 24. November 2018.
Testlauf der Schweizer Neonazi-Szene
Vor zwei Jahren empörten sich Rechte weltweit über den neuen UNO-Migrationspakt. Die „Partei national orientierter Schweizer“ (PNOS), eine völkisch-nationalistische Kleinstpartei und zugleich die einzige parteilich organisierte Neonazistruktur in der Schweiz, nahm den Migrationspakt zum Anlass, in Basel eine Protestkundgebung „gegen überbordende Migration“ anzumelden. Eine Kundgebung hatte die PNOS schon seit Jahren nicht mehr hinbekommen, erst recht keine Demonstration. Und noch nie seit ihrer Gründung im Jahr 2000 hat es die PNOS gewagt, in einer links dominierten Großstadt des Landes aufzumarschieren.
Ihre Basler Kundgebung hatte also ein-deutig den Charakter eines Tabubruchs und eines Testlaufs. Das realisierten bald auch andere neonazistische Spektren, die nach und nach den PNOS-Aufruf unterstützten. So etwa die „Kameradschaft Heimattreu“ und die Sammlungsbewegung „Nationale Aktionsfront“ aus aus dem Kanton Schwyz, die „Résistance Hélvetique“ aus der West-schweiz sowie „Blood & Honour Schweiz“. Kurzum: fast alle aktiven Schweizer Neo-nazi-Strukturen propagierten die Fahrt nach Basel. Alte Rivalitäten und Ressentiments gegen die umstrittene PNOS solle man begraben und nun zusammenstehen, hieß es in den extrem rechten Kreisen.
2000 gegen 50
Antifaschist*innen rätselten, wie viele Teilnehmende wohl zusammenkommen würden. Umso mehr, als der damalige Basler PNOS-Chef Tobias Steiger für seine Kundgebung eine polizeiliche Genehmigung erhielt, das Gesuch für eine Gegenkundgebung in Hör- und Sichtweite hingegen abgelehnt wurde. Davon unabhängig rief das Bündnis #Baselnazifrei dazu auf, die PNOS-Kundgebung mit allen nötigen Mitteln zu verhindern.
Schließlich war der "große Tag" gekommen. Doch für die PNOS begann er ernüchternd. Statt der 450, die Tobias Steiger in der Presse angekündigt hatte, erschienen nur knapp 50 Rechte, die einer Übermacht von 2000 Antifaschist*innen gegenüberstanden. Dies zu Beginn sogar ohne Polizeischutz. Die später herbeieilende Polizei konnte eine Konfrontation gerade noch verhindern.
Erleichtert rollten die Neonazis ihre Fahnen aus. Doch aus ihrer misslichen Lage, in die Ecke gedrängt und umringt von einer schützenden Polizeikette, kamen sie vorerst nicht mehr heraus. So verhallte Steigers Hetzrede gegen eine angeblich jüdische „Neue Weltordnung“ fernab jeder Öffentlichkeit, ebenso jene von Karl Richter, damals noch NPD-Stadtrat in München.
„Ablenkung“ mit Gummischrot
Im Zuge der Versammlung entschied sich die Polizei mehr Bewegungsfreiheit für die Neonazis zu schaffen. Die polizeilichen Überlegungen, wie das erreicht werden könne, sind heute dank geleakter Polizei-videos und -audios bekannt: Die Antifaschist*innen, die sich zu diesem Zeitpunkt völlig friedlich verhielten, sollten „abgelenkt“ werden, damit die Rechten ungestört abziehen konnten. Der Polizeiangriff begann wie aus dem Nichts. Und zwar – wie in der Schweiz üblich – per Gummischrot. Mindestens zehn Polizei-Schützen schossen während einer ganzen Minute in die Menge hinein. Drei schwere Gesichts- und Augenverletzungen waren die Folge. Den vorgeschriebenen Mindestabstand von 20 Metern ignorierte die Polizei. Die für schweizerische Verhältnisse relativ brutale Attacke löste sofort einen kleineren Krawall samt Barrikadenbau aus, wobei die Menge gegen die hochgerüstete Polizei eher schlecht vorbereitet war und wohl mehr Bierdosen und andere harmlose Gegenstände flogen als Steine.
Trotz der Polizeigewalt war der Tag ein Erfolg für die Antifaschist*innen und eine peinliche Schlappe für die Neonazis. Obwohl sie für diese Generalprobe alles aufgeboten hatten, kam nur ein trauriges Häuflein zusammen. Auffallend war aber noch ein anderer Punkt: Trotz einiger Schlägereien, den militanten Auseinandersetzungen und einem Heer von Polizei ließen sich die Verhaftungen letztlich an einer Hand abzählen. Vorerst.
Razzien und Pranger
Bald folgten schweizweit Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Nach den Razzien, die mit DNA-Entnahmen einhergingen, folgte der zweite Schlag. Die Basler Staatsanwaltschaft stellte Bilder von 30 gesuchten „Krawallmachern“ ins Internet. Den Onlinepranger nahm die SVP-nahe „Basler Zeitung“ dankend auf und druckte ihn 1 zu 1 ab – ein Novum in der Schweiz. Ebenfalls neu war, dass die Staatsanwaltschaft insgesamt 60 Strafverfahren eröffnete – so viele wie noch nie bei einem Strafdelikt in Basel, auch nicht bei Ausschreitungen nach Demonstrationen oder Fußballspielen.
Seit Juli 2020 stehen nun fast wöchentlich Antifaschist*innen vor dem Basler Strafgericht. Und dieses folgt den haarsträubenden Anklagen der Staatsanwaltschaft weitgehend. Allen Angeklagten wird „Landfriedensbruch“ und „Teilnahme an nicht bewilligter Demonstration“ vorgeworfen. Also der Verstoß gegen zwei „Gummiparagrafen“, mit denen auch jene abgeurteilt werden können, die nichts anderes verbrochen haben, als anwesend zu sein.
Knast für „Gesinnungstäterin“
Die verheerende Urteils-Bilanz bisher: schon über zehn Haftstrafen sind verhängt worden. Zu jeweils 6, 7, 8 oder mehr Monaten, meist ausgesetzt auf mehrjährige Bewährung. Nicht so bei einer 28-jährigen Basler Antifaschistin. Ihr Urteil lautet auf 8 Monate Haft ohne Bewährung, obwohl sie nicht vorbestraft ist, ihr keine aktive Gewalttat und nicht einmal Vermummung vorgeworfen wurde. Schuldig sei sie jedoch der „passiven mehrfach qualifizierten Gewalt und Drohung gegen Beamte“. Sie habe allein durch ihre Anwesenheit die „gewalttätige und aggressive Stimmung“ vor Ort unterstützt und gebilligt. Diese „unbedingte“ Haftstrafe begründete der Gerichtspräsident damit, dass die Frau eine „Gesinnungstäterin“ sei, wie ihr vorgetragenes Plädoyer für einen revolutionären Antifaschismus beweise.
Alle Urteile sind bisher auffällig drako-nisch. So sehr, dass sich schon mehrfach Rechtsexpert*innen empört an die Öffent-lichkeit gewandt haben, darunter sogar der ehemalige Basler Gerichtspräsident. Die Anwaltschaft der Angeklagten fordert die Verlegung der Prozesse an ein unbefangenes, außerkantonales Gericht.
Noch skandalöser als die Urteile sind freilich die Strafforderungen. Einen kurdischen Ange-klagten wollte die Staatsanwaltschaft an die Türkei ausliefern, wo er politisch verfolgt ist. Für einen Demonstranten, der am 24. November 2018 sein Augenlicht durch Gummischrot weitgehend verloren hatte, forderte der Staat 14 Monate Haft auf 4 Jahre Bewährung. Seine Augenverletzung habe er sich möglicherweise mit seiner Fahnenstange selbst zugefügt. Doch diese Version hielt sogar der Richter für „abwegig“.
Spenden- und andere Erfolge
Verzweifeln müssen die Verurteilten und Angeklagten wegen all dem nicht. Zum einen, weil eine historisch einmalige antifaschistische Spendenkampagne unter dem Namen 500k.ch mit solcher Kraft gestartet ist, dass binnen weniger Wochen über 100.000 Franken zusammengekommen sind. Das Ziel einer halben Million Franken für Repressions- und Anwaltskosten dürfte spätestens Ende 2021 erreicht sein.
Und zum andern, weil die Schweizer Neonazis seit 2018 noch an Mobilisierungsfähigkeit verloren haben. Die PNOS dümpelt in ihrer vielleicht tiefsten Krise überhaupt und ist fast inaktiv. Mehrere andere Gruppen haben sich kürzlich aufgelöst. Und der oberste Basler Repressionsverantwortliche, FDP-Regierungsrat Baschi Dürr, wurde abgewählt. Demgegenüber beweist die antifaschistische Bewegung in diesen Monaten, dass sie nicht nur mit Neonazis, sondern auch mit einem Massen-Schauprozess umzugehen weiss.
(Mehr Informationen zur Solikampagne findet ihr auf www.500k.ch und Twitter 500kCh)