Neonazi-Überfall auf das AJZ in Erfurt bleibt straffrei
„k56 aufdecken“ (Gastbeitrag)Am 5. Mai 2016 überfiel etwa ein Dutzend Neonazis aus dem Umfeld des militanten „Kollektiv 56“ das „Autonome Jugendzentrum“ (AJZ) in Erfurt und griff die anwesenden Gäste mit Pfefferspray und Flaschen an. Viereinhalb Jahre später müssen sich lediglich zwei mutmaßliche Täter vor Gericht verantworten und bleiben straffrei.
Dass Neonazis nach brutalen Überfällen in Thüringen nur selten mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen, hat die Vergangenheit bereits mehrfach gezeigt. Im Ballstädt-Prozess sorgten fatale Fehler des Landgerichts dafür, dass das Gerichtsverfahren über siebeneinhalb Jahre nach der Tat neu aufgerollt werden muss. Nach den Ausschreitungen am 1. Mai 2017 in Apolda mit rund 100 Neonazis wurde kein genügender Anlass zur Klageerhebung gesehen oder die Verfahren eingestellt. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, wie militante Neonazis Narrenfreiheit im rot-rot-grün regierten Thüringen genießen.
Angriff mit Flaschen und Pfefferspray
Am sogenannten „Männertag“ im Mai 2016 ereignete sich der Überfall auf das AJZ in Erfurt. Etwa ein Dutzend Neonazis trafen sich zunächst in der Innenstadt, um von dort mit der Straßenbahn gemeinsam zum AJZ zu fahren. Als diese an der Haltestelle Salinenstraße, welche direkt an den Tatort grenzt, ausstiegen, warfen die Täter bereits die ersten Flaschen gegen das Gebäude. Anschließend drang die Gruppe durch das offenstehende Tor auf den Hof des Geländes ein und griff unvermittelt die Anwesenden an. Dabei setzten mehrere Täter u.a. Pfefferspray ein, andere wiederum versperrten das Tor und machten eine Flucht der Angegriffenen unmöglich. Mindestens ein Neonazi filmte die Tat. Das Handy konnte später zwar durch die Polizei sichergestellt werden, jedoch sei auf dem Video kein Täter zweifelsfrei zu identifizieren gewesen. Nach dem Angriff zog sich die Gruppe mit Hilfe weiterer Flaschenwürfe zurück zur Haltestelle, um mit der Straßenbahn zu flüchten. Mehrere verletzte Gäste des AJZ bleiben zurück. In der Mittelhäuser Straße, nur einen Halt später, wurden mehrere Neonazis von der Polizei gestellt und deren Personalien aufgenommen.
Rechte Tatmotivation für Gericht unerheblich
Erst am 29. Mai 2018 erhob die Staatsanwalt Erfurt zunächst Anklage. Von den damals Angeklagten fanden sich am 10. November 2020 lediglich zwei Neonazis als Beschuldigte vor Gericht wieder. Alle weiteren zuvor Angeklagten wurden als Zeugen vorgeladen, von denen lediglich zwei vom Gericht gehört wurden, die Verfahren gegen sie wurden im Vorfeld eingestellt. Bereits nach einer Stunde im ersten Prozesstag machte die vorsitzende Richterin mehrfach deutlich, dass für sie die rechte Tatmotivation keine Rolle spiele und wies sämtlich Fragen der Nebenklägerin Kristin Pietrzyk, wie mögliche Parteienzugehörigkeit oder Mitgliedschaft im „Kollektiv56“, zurück. Hierfür wurde keine Bedeutsamkeit für das Verfahren gesehen.
Wobei dies keine Seltenheit darstellt. Im Fall eines organisierten Angriffes in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 2020 vor der Erfurter Staatskanzlei, erfolgte eine Entpolitisierung der Tat. Mehrere Neonazis griffen hier zum Teil vermummt junge Erwachsene an und schlugen fünf von ihnen schwer verletzt ins Krankenhaus. Bei einem Teil der Täter handelte es sich um die selben Angreifer auf das AJZ 2016. Die Polizei sprach im Nachgang des brutalen Angriffs vor der Staatskanzlei erst von einer „Massenschlägerei“ statt von einem koordinierten Überfall. Im Januar 2021 schloss die Staatsanwaltschaft Erfurt die Ermittlungen dazu ab und ließ verlautbaren, dass ein rechtes Tatmotiv nicht zu ermitteln sei.
Das „Kollektiv 56“
Bei den Tätern des Überfalls handelte es sich um Aktivisten des Erfurter Neonazigruppierung „Kollektiv56“ (K56) und dessen Umfeld. Die Gruppe verortete sich selbst im Spektrum der „Autonomen Nationalisten“ und war im so genannten „Antikapitalistischen Kollektiv“ organisiert, welches der Gruppe bundesweite Kontakte zu anderen solcher Gruppen ermöglichte.
Einige Anhänger des „Kollektiv56“ beteiligten sich an einer Reihe von Überfällen in Erfurt und darüber hinaus. Neben dem Angriff auf das AJZ, waren auch einzelne K56-Aktivisten wie Robert B., Julian F., Johann Walter R. sowie David L. am Angriff auf den Leipziger Stadtteil Connewitz am 11. Januar 2016 in Leipzig beteiligt. (Siehe AIB Nr. 110) Als Führungsfigur des „Kollektiv56“ galt Michael Z., welcher auch in anderen Neonazistrukturen, wie „Media Pro Patria“, „Weisse Wölfe Terrorcrew“ (Siehe AIB Nr. 111) sowie regionalen „Freien Kräften“ aktiv war und hier als Bindeglied fungierte. Weiterhin pflegte er Kontakte zum NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben und war mit internationalen rechtsterroristischen Netzwerken wie der „National Action“ (NA) sowie „Asow-Miliz“ in der Ukraine (Siehe AIB Nr. 124) vernetzt. Ebenso versuchte sich Michael Z. eine Zeit lang als „Anti-Antifa-Fotograf“ bei antifaschistischen Demonstrationen, um Informationen über Antifas und Linke zu sammeln. Mittlerweile gibt es Gerüchte über einen möglichen „Ausstieg“ von Michael Z. aus der Neonaziszene.
Weitere Aktivisten der Gruppe, wie der im AJZ-Prozess angeklagte Philippe A. und Johann Walter R. trainierten mindestens seit dem Jahr 2018 regelmäßig mit scharfen Waffen sowie Anscheinswaffen an verschiedenen Schießständen, wie beispielsweise im nahegelegenen Elxleben. Im gleichen Ort formierte sich ein Paintball-Team, welches regelmäßig zu verschiedenen Events fuhr, um sich neben dem Umgang mit Waffen auch im Bereich Taktik und Deckungsstrategien zu schulen.
Folgen des Überfalls
Die Vernetzung militanter Neonazi-Gruppen sowie die Sicherheit und Erfahrung im Umgang mit Waffen stärken das Selbstbewusstsein der Neonaziszene. Wenn diese für ihre Taten schließlich keine Konsequenzen erwarten müssen und der Staat sie gewähren lässt, gilt es umso mehr den antifaschistischen Selbstschutz zu organisieren. Nach den vergangenen brutalen Angriffen, wie sie sich zuletzt im August vergangenen Jahres am Hirschgarten und auf dem Herrenberg ereigneten, rufen in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt nun immer mehr Gruppen hierzu auf. Gerade diese beiden Vorfälle, als vor der Thüringer Staatskanzlei ca. 20 Neonazis eine Gruppe feiernder Jugendlicher angriff und einige Tage später vor einem Erfurter Neonazizentrum drei junge Männer aus Guinea durch Neonazis schwer verletzt wurden, zeigen die Dimension rechter Gewalt.
Recherchen des MDR zeigten im Frühjahr 2021, dass einer der mutmaßlichen Haupttäter im Verfahren zu dem Angriff vor der Staatskanzlei ebenfalls Philippe A. ist, welcher schon für den Angriff auf das AJZ 2016 vor Gericht stand. In einem Statement des AJZ Erfurt nach der Einstellung des Verfahrens gegen die Täter von 2016 heißt es: „Es ist für uns im Sinne aller Betroffenen rechter Gewalt nicht hinnehmbar, dass Verfahren immer weiter verschleppt und die Tatmotivation nicht allumfänglich thematisiert und aufgeklärt werden.“
Insbesondere die weite Vernetzung der Täter in die bundesweite Neonaziszene und ihre hohe Gewaltbereitschaft machten deutlich, was die Erfurter Antifa Gruppe „Dissens“ Anfang 2021 in einem Statement auf den Punkt brachte: „Als Konsequenz aus den Ereignissen kann für Antifaschist_innen nicht der Appell an ein besseres Durchgreifen des Staates gegen Neonazis stehen. Für uns kann lediglich die Forderung stehen: Organisiert euch!“