Haltbare Stereotype über Sinti und Roma
Nora NeumannSeit dem späten Mittelalter leben Sinti und Roma in Europa und sind seither staatlichen Repressionen ausgesetzt. Als die Große Pest 1708 im Ostseeraum ausbrach und viele Menschen in Preußen tötete, ordnete Friedrich I. 1709 die Gründung von Pesthäusern vor den Toren der Städte an – eines davon ist die heutige Charité in Berlin. Noch vor dieser Anordnung befahl er, aus Polen kommende Sinti und Roma notfalls mit Gewalt an der Grenze abzuweisen, unabhängig davon, ob sie gültige Pässe besaßen. Solche Erlasse dienten damals wie heute zweierlei Zwecken: Sinti und Roma als Sündenböcke für Missstände zu präsentieren und die ordnende Stärke des Staates zu demonstrieren.
Die Stereotype, die Sinti und Roma damals schon begegneten, haben sich bis heute gehalten. Ihnen wird mangelnde Disziplin, Regelmissachtung, Kriminalität und Seuchenübertragung vorgeworfen. Mit Ausbruch der Corona-Pandemie hat sich die Stimmungsmache wieder verschärft. In der Politik, in Behörden und Medien werden Stimmen lauter, die den oft in Armut und prekären Bedingungen lebenden Sinti und Roma die Schuld für die Ausbreitung des Coronavirus zuweisen und nach Stärke und Ordnung rufen.
Nicht nur Boulevardmedien und die extreme Rechte nutzen alte Vorurteile, auch im Mainstream sind sie wieder salonfähig. Mit für andere Bevölkerungsgruppen undenkbaren Maßnahmen wie Einzäunung und Abschottung ganzer Wohnhäuser bzw. Viertel sollen die „Seuchenträger“ von der Gesellschaft abgeschottet werden. Mit der Realität haben weder rigide Maßnahmen noch rassistische Schuldzuweisung etwas zu tun.
In Bulgarien ist die Rede von sorglos handelnden Sinti und Roma, die aufgrund mangelnder Disziplin ihre Landsleute ansteckten. In der Folge wurden mehrere Stadtviertel abgeriegelt, alle dort lebenden Sinti und Roma wurden von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Bulgarien ist kein Einzelfall. In allen Ländern Mittelost- und Südosteuropas sind Sinti und Roma massiv von Gewalt und Rassismus bedroht – nicht erst seit der Corona-Pandemie. Oft fehlt es in osteuropäischen Siedlungen an fließendem Wasser und Menschen leben auf engstem Raum, wodurch Hygienevorschriften unmöglich umgesetzt werden können. Diese menschenunwürdigen Verhältnisse sind jahrzehntelangem strukturellen Rassismus entwachsen. Anstatt die Not anzugehen, werden extrem rechte Forderungen nach Isolierung aller Sinti und Roma – als kollektive Gefahr – umgesetzt um eine vermeintlich homogene Gruppe zu kontrollieren.
Zwar sind die Bedingungen für Sinti und Roma in Osteuropa besonders erschreckend, doch auch in Deutschland leben viele in menschenunwürdigen Verhältnissen. Seit Jahren berichten Medien von „Horrorhäusern“ oder „Romahäusern“, die entmietet werden sollen. Zu überteuerten Preisen werden Wohnungen an Sinti und Roma vermietet, oft an mehrere Familien pro Wohnung. Die sanierungsbedürftigen Häuser sind oft verwahrlost und die Vermieter*innen reagieren gar nicht oder nur minimal auf behördliche Anweisungen. Jugendämter trauen sich nicht in diese Häuser – die Kinder dort sind Gewalt und Dreck schutzlos ausgeliefert. Viele Medien berichten einseitig darüber, wie die „alten Mieter“ in der Hölle leben. Wie Vermieter Sinti und Roma gnadenlos ausbeuten und sie in menschenunwürdige Bedingungen drängen, wird selten erwähnt.
Zusätzlich zu prekären Wohnbedingungen kommen prekäre Arbeitsverhältnisse. Die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen bei deutschen Billigfleischproduzenten wurden durch den „Fleischskandal“ bei Tönnies erneut ins Bewusstsein gerufen. Seit Jahren flammt die Debatte um Sklavenarbeit bei den Billigfleischproduzenten immer wieder auf, ohne das sich je etwas Grundlegendes geändert hätte. Durch den Coronaausbruch bei Tönnies gerieten die Arbeitsbedingungen und Wohnunterkünfte erneut in die Kritik. Für die schwere Akkordarbeit erhalten Deutschlands moderne Sklaven maximal Mindestlohn, teils werden für drei Monate Arbeit nur 2.000 Euro gezahlt. Die Subunternehmer, bei denen Osteuropäer*innen angestellt sind, fordern Vermittlungsgebühren und Wuchermieten, Betten in Mehrbettzimmern werden für bis zu 275 Euro monatlich vermietet, teilweise werden sich Betten in Schichten geteilt. Von Hygienekonzepten kann nirgendwo die Rede sein. Als der Tönnies-Skandal einer breiten Öffentlichkeit aufzeigte, wie Sinti und Roma und andere osteuropäische „Leiharbeiter*innen“ mitten in Deutschland ausgebeutet werden, handelte nun auch die Politik. Allerdings lediglich symbolisch. Arbeitnehmer*innen dürfen nicht mehr über Subunternehmer angestellt werden – die miserablen Wohnunterkünfte und Hungerlöhne sind geblieben.
Ausbeutung und menschenunwürdigen Wohnverhältnissen werden durch offenen systemischen Rassismus deutscher Behörden flankiert. Als im Iduna-Zentrum in Göttingen etwa 100 Menschen positiv auf Corona getestet wurden, beschloss die Stadt, das gesamte Areal mit über 700 Bewohner*innen mit Bauzäunen zu umstellen und von der Polizei die Quarantäne überwachen zu lassen. Das Gesundheitsamt gab an, Großfamilien, die das Zuckerfest gefeiert haben sollen, sowie eine Feier in einer Shishabar seien schuld an dem Ausbruch. Der Boulevard stürzte sich auf „arabische Großfamilien aus dem ehemaligen Jugoslawien“. Mit der Realität der Bewohner, welche nicht nur aus dem Kosovo stammende Sinti und Roma waren, hatte die Medienberichterstattung wenig zu tun. Zwar machte die Stadt schnell ein Mitglied einer Roma Familie als Auslöser aus, jedoch gibt es Berichte über einen Quarantänebrecher, der bereits vor dem Ausbruch von der Polizei festgenommen wurde.
Auch ein Elendsbau an der Groner Landstraße in Göttingen wurde komplett abgeriegelt. In dem Gebäude, wo bis zu 800 Menschen auf engstem Raum leben müssen, werden 20 Quadratmeter Appartements für 450 Euro vermietet – auch an Geflüchtete, die von der Stadtverwaltung dorthin vermittelt wurden.
In Berlin Neukölln wurde ein hauptsächlich von Sinti und Roma bewohnter Wohnblock „unter Quarantäne“ gestellt. Zwar gingen hier Behörden und Polizei besonnener vor, als in Göttingen, wo es Ausbruchsversuche und Angriffe auf die Polizei gab, dennoch wurde mit Hundertschaften gedroht. Der Boulevard stürzte sich auf die „modernen Seuchenträger“. Zwar gab es nur 57 positive Testergebnisse in 137 Wohnungen (während berlinweit tausende Menschen positiv getestet wurden), dennoch wurde der Wohnkomplex schnell als „Corona-Block“ gebrandmarkt. Auch hier wird offensichtlich, dass Sinti und Roma als Community verstanden werden, die unter sich leben und nichts mit der Mehrheitsgesellschaft zu tun haben. Sperrt man sie ein und kontrolliert sie, kann der Rest der Mehrheitsgesellschaft Lockerungen genießen.
Wie so oft wiederholt sich die Geschichte. Sinti und Roma, seit Jahrhunderten diskriminiert, verfolgt und vertrieben, werden auch im modernen Europa eingesperrt und ausgegrenzt. Die Vorurteile von vor hundert Jahren haben heute noch ebenso starke Wirkkraft wie 1708, wenn eine Göttinger Stadtverwaltung nicht davor zurückschreckt, öffentlich und nicht belegbar einer Minderheit die Schuld zuzuweisen, um Hunderte aus der Gesellschaft verdrängte Menschen einzupferchen. Alles im Namen des Schutzes der Mehrheitsgesellschaft.
Wenn selbst die Bundesagentur für Arbeit 2018 ausdrücklich rumänische und bulgarische Personen mit Leistungsmissbrauch in Verbindung bringt und ihren antiziganistischen Rassismus damit nur schwach zu verschleiern versucht, wird klar, dass Sinti und Roma nie als Individuen betrachtet werden, sondern als homogene Masse, denen die gleichen antiziganistischen Motive wie vor 300 Jahren angedichtet werden. Sie stellen eine Gefahr für die Mehrheitsbevölkerung dar, deshalb werden sie von Gewalt durch die Mehrheitsbevölkerung bedroht. Sie leben regellos und undiszipliniert, deshalb müssen sie diszipliniert und kontrolliert werden.
Mit menschenverachtenden Klischees versuchen deutsche Behörden und deutsche Medien, Sinti und Roma als Sündenböcke darzustellen und gleichzeitig Stärke und Ordnung zu repräsentieren. Die Wutausbrüche von Bewohner*innen der Quarantäneblocks sind nur ein Hilfeschrei, den deutsche Behörden, Medien und die Mehrheitsgesellschaft zu verantworten haben.