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Geschichte und Situation der Roma in Mittel- und Osteuropa

Einleitung

In Deutschland leben heute nach dem nationalsozialistischen Völkermord ca. 100.000 Sinti und Roma. Umfragen aus den neunziger Jahren besagen, dass zwei Drittel aller Deutschen Sinti und Roma ablehnen. Sinti leben seit ca. 600 Jahren in Deutschland, während die vor Pogromen und rassistischer Verfolgung in Osteuropa nach Deutschland geflohenen Roma vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten hierher kamen. Die Mehrheit der ca. 10 Millionen Roma lebt nach wie vor in Osteuropa und den Staaten ex-Jugoslawiens. Der folgende Text wirft ein Schlaglicht auf ihre Situation.

Bild: flickr.com; Beppo Straßenkehrer; kenny/CC BY SA 2.0

Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma.

»Wiedergutmachung« made in Germany

Wie der historische Antisemitismus hat auch der historische Antiziganismus seinen Ursprung in christlichen Mythen. Bei den Vernichtungsstrategen des NS hieß es, »es besteht kein Unterschied zwischen Juden und Zigeunern«. Viele der ehemaligen Roma- und Sinti-NS-ZwangsarbeiterInnen warten heute noch vergeblich auf eine Entschädigung. Die Bundesstiftung »Erinnerung und Zukunft« hat die umstrittene »International Organisation for Migration« (IOM) mit der Bearbeitung ihrer Anträge beauftragt. Die IOM hat jedoch bisher lediglich ein Zehntel aller Anträge positiv entschieden. Insbesondere in Osteuropa haben Roma1 , die die nationalsozialistische Verfolgung überlebt haben, kaum Informationen über die Entschädigungsmöglichkeiten bekommen. Ihr Alltag ist nach wie vor von Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung bestimmt. Selbst wenn ihnen die Flucht nach Deutschland gelungen ist, droht ihnen nun die Abschiebung.

Ursprünge und Gegenwart

Die Ursprünge der Roma liegen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit in Indien. Im 18. Jahrhundert beobachteten Forscher Gemeinsamkeiten in der Sprache der Roma, dem Romanes, mit den in Indien gesprochenen Hindi und Punjabi. Partielle Gemeinsamkeiten wurden sogar mit dem alten Sanskrit festgestellt. Auch der Begriff rom (Romanes = Mensch) hat seine Wurzeln in Indien. Eine aus Nordindien stammende Gruppe Menschen, die in den Jahren 224 bis 241 n.Chr. nach Persien emigrierte, gab sich den Namen dom, was ebenfalls Mensch bedeutete. Bei der Aussprache dieses Wortes wurde das »d« mit nach oben gebogener Zungenspitze ausgesprochen, woraus sich später das »r« entwickelte. Die Analyse verschiedener historischer Quellen lässt den Schluss zu, dass die Roma im 14. Jahrhundert nach Europa kamen.

Heute leben Roma in allen europäischen Ländern. Mit Ausnahme von Spanien und Frankreich ist allerdings zu bemerken, dass in den westlichen Staaten ihre Zahl im Vergleich zu Mittel- und Osteuropa eher gering ausfällt. Besonders Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Serbien, Rumänien, Bulgarien und Makedonien weisen sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft einen großen Anteil an Roma auf. Die von den Behörden gelieferten Informationen bezüglich ihres Bevölkerungsanteils sind immer unter Vorbehalt zu sehen.

Aufgrund anhaltender Diskriminierung ziehen es Roma in bestimmten Regionen vor, ihre Zugehörigkeit zu einer Minderheitengruppe zu leugnen. Statt dessen versuchen sie, sich der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft anzupassen, deren Sprache und Kultur zu übernehmen und den Kontakt zu anderen Roma-Gruppen zu vermeiden. Andersherum kommt es auch vor, dass ihr Bevölkerungsanteil aus politischen Gründen künstlich in die Höhe getrieben wird. Zum Beispiel in den achtziger und neunziger Jahren im Kosovo, wo der Anteil ethnischer Gruppen wie der Roma von den serbischen Behörden größer dargestellt wurde, um den Anteil der in der Region ansässigen Albaner zu mindern, mit dem Ziel, deren Ansprüche bei der politischen Mitbestimmung abzuwehren.

Mittelalter und Gegenwart

Aufgrund ihrer kontinuierlichen Ausgrenzung waren die Roma auf ihre Mobilität angewiesen. Diskriminierung und Pogrome zwangen sie, ihre professionellen Fähigkeiten an verschiedenen Orten anzubieten. Die Politik der Mehrheitsgesellschaften gegenüber den Roma fiel im Mittelalter von Land zu Land unterschiedlich aus. In Ungarn konnten die Anfang des 15. Jahrhunderts eingewanderten Roma aufgrund des Arbeitskräftemangels und der Struktur der damaligen Gesellschaft leichten Zugang zum ökonomischen Leben finden.2 Im Zuge der ökonomischen Veränderungen wurden sie allerdings an den Rand der Gesellschaft gedrückt und im 18. Jahrhundert zwangsangesiedelt. Das beinhaltete auch, dass ihnen Pferde und Wagen und auch ihre Kinder geraubt wurden, die in ungarischen Familien erzogen werden sollten. Die Verdrängung vom Arbeitsmarkt und das Verbot ihrer Sprache führte schließlich dazu, dass sich eine am unteren Rand der Gesellschaft befindliche Schicht von Roma bildete, die heute Ungarisch spricht. Daneben leben heute in Ungarn Gruppen später eingewanderter Roma, die noch immer Romanes sprechen und sich deshalb als »caco rom« (echte Roma) bezeichnen.

In Rumänien, dem Land mit dem bei weitem höchsten Roma-Anteil in Europa mit unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwei bis vier Millionen Menschen, wurden die Roma Opfer einer kollektiven Versklavung. Sie wurden Eigentum der herrschenden Familien, als Kriegsbeute verschleppt, verkauft oder verschenkt. Aufgeteilt in vier Kategorien mussten sie entweder für die Herrschenden, den Adel oder den Klerus arbeiten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird in Bezug auf die Wallachei von drei gesellschaftlichen Klassen berichtet: Adligen, Geistlichkeit und mit weitem Abstand folgend der Dritte Stand. Anschließend findet noch Erwähnung, dass es zusätzlich eine »sehr viel niedrigere Klasse [gab], die jedoch derart verelendet, degradiert und verachtet ist, dass man sie nicht einmal zu den Einwohnern des Fürstentums zählt. Diese armseligen Kreaturen, deren Zahl 80.000 übersteigt, heissen Zigeuner«.3

Verfolgung heute: Zum Beispiel im Kosovo

Abgesehen von der kleinen Anzahl wohlhabender Roma in Mittel- und Osteuropa, die einen bürgerlichen Lebensstil führen oder als Clanführer anerkannt werden, lebt die überwiegende Mehrheit der Roma am unteren Rand der jeweiligen Gesellschaften. Im Zuge der Industrialisierungsprozesse waren sie die Hilfsarbeiter, die ohne Ausbildung zu niedrigsten Löhnen arbeiten mussten. Ihre ökonomische Situation sieht heute nicht viel besser aus. Der Zugang zu schulischer Bildung oder einer anschließenden Berufsausbildung ist ihnen nur schwer möglich. Oft leben sie in eigenen Stadtteilen oder Dörfern, oft ohne Elektrizität oder fließendes Wasser. In vielen Fällen müssen auch die Kinder arbeiten gehen, um der Familie das Überleben zu ermöglichen. Die Minderjährigen arbeiten beispielsweise in Rumänien als Schuhputzer auf den Strassen, sammeln Papier oder Aluminium auf den Müllhalden, um es zu verkaufen, oder gehen betteln. An ihrer dunkleren Haut leicht zu identifizieren, werden sie auch oft als Sündenböcke instrumentalisiert und Opfer gewalttätiger rassistisch motivierter Übergriffe oder Pogrome. Viele von ihnen flohen während der letzten Kriege auf dem Balkan nach Westeuropa oder leben seitdem in Flüchtlingslagern in der Region.

In den letzten drei Jahren seit der Stationierung der KFOR-Truppen im Kosovo, existiert dort eine für die Region bis heute einmalige Pogromstimmung gegen die ansässige Romabevölkerung. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge wurde die Mehrheit der Romabevölkerung vertrieben. Rom e.V. aus Köln zufolge wurden sogar über 80 Prozent der Roma aus dem Kosovo vertrieben.4 Häuser und ganze Siedlungen wurden niedergebrannt, wobei es immer wieder Tote gab. UCK-Einheiten oder auch zivil auftretende Albaner schüchterten die nicht-albanische Bevölkerung ein, bedrohten sie oder warfen Handgranaten in ihre Häuser. Viele Familien leben seitdem in Angst und verlassen nur in den nötigsten Fällen ihre Häuser. Andere verloren ihr Leben auf der Flucht, z.B. bei Bootsüberfahrten nach Italien.

Staatsgewalt gegen Roma: Zum Beispiel Bulgarien

Die Situation im Kosovo sticht aufgrund der Kriegssituation besonders heraus. Doch auch in anderen Ländern sind die Roma aufgrund von Armut und alltäglichen Diskriminierungen weitestgehend vom gesellschaftlichen Leben der Mehrheitsbevölkerung ausgeschlossen. Ein Auszug aus einem Report des Helsinki Watch Committee dokumentiert die Wohnsituation der Roma in Bulgarien Anfang der neunziger Jahre. In Anbetracht der Entwicklungen in dem Land muss davon ausgegangen werden, dass sich die Situation in den letzten zehn Jahren kaum zum Positiven entwickelt hat: »Die Wohnsituation der Zigeuner ist sehr viel schlechter als die der Bulgaren. Viele der von den Zigeunern bewohnten Stadtviertel sind Ghettos. Diese Stadtviertel bieten der Bevölkerung pro Kopf gerechnet weniger Lebensraum als die von Bulgaren bewohnten Stadtviertel. Die meisten Zigeunerviertel sind äußerst überbevölkert. Häufig leben zwei oder mehr Familien in einem Raum. Für die sanitären Verhältnisse wird wenig getan. Das unterirdische Abwassersystem ist schlechter.«5

Die Bildungssituation heute entspricht in etwa der Situation von 1978. Damals beendeten lediglich 30 Prozent der Roma die Grundschule. Die Zahl der Absolventen einer Sekundarstufe ist noch geringer. Etwa 50 Prozent der Roma sind Analphabeten. Als Resultat des desolaten Zugangs zu Bildung ist die Mehrheit der Roma in Bulgarien, wenn überhaupt, nur in schlechtbezahlten Jobs anzutreffen. In Politik, Verwaltung oder Polizei sind sie absolut unterrepräsentiert. Ihre beruflichen Aufstiegschancen sind sehr gering. In Krisensituationen sind sie als erste von Entlassungen betroffen.

Die Ereignisse ab dem 18. Februar 2002 im von Roma bewohnten Stadtteil Stolipinovo in Plovdiv (Süd-Bulgarien) zeigen die Willkür, mit der von Seiten der Mehrheitsgesellschaft auf die Probleme der Roma reagiert wird. An jenem Tag demonstrierten 300 bis 400 Roma gegen die Entscheidung der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft, dem gesamten Stadtteil den Strom abzustellen. Vorausgegangen war die armutsbedingte Unfähigkeit einzelner Familien, ihre Stromrechnung zu bezahlen. Die Reaktion der Stromgesellschaft glich einer Kollektivstrafe gegen die Roma in Stolipinovo. Etwa eine Stunde nach Beginn der Proteste gingen Sondereinheiten der bulgarischen Polizei (POS) mit Schlagstöcken gegen die Protestierenden vor. Anschließend zogen sie sich zurück und sperrten den Stadtteil ab.

Als Reaktion auf das Angebot der Stromgesellschaft am nächsten Tag, den Strom für vier Stunden täglich wieder fließen zu lassen, wenn 30.000 bulgarische Lev (ungefähr 15.350 Euro) gezahlt würden (die gesamte ausstehende Summe betrug laut Radio Free Europe/Radio Liberty umgerechnet ca. 3,07 Millionen Euro), demonstrierten erneut ca. 1000 Roma im Zentrum von Plovdiv. Aufgrund der anhaltenden unzureichenden Versorgung mit Elektrizität gingen am 14. März 2002 erneut 2000 Roma auf die Strasse. Die Ereignisse wurden von der bulgarischen Presse zum großen Teil mit einer negativen Darstellung der Roma begleitet, die als »Diebe und Betrüger« bezeichnet wurden. Berichte über die Armut in den Romastadtteilen waren die Ausnahme. Aufgrund der Ereignisse sprechen sowohl Radio Free Europe/Radio Liberty als auch die bulgarische NGO Human Rights Project von einem starken Aufschwung antiziganistischer Tendenzen in der bulgarischen Bevölkerung.

  • 1 In diesem Text werden unter dem Begriff Roma auch sämtlich Untergruppen wie Kalderash, Ashkali, Vlach, Xoraxane etc zusammengefasst.
  • 2Vgl. Mihok, Brigitte: Ethnostratifikation im Sozialismus,... Peter Lang Verlag Frankfurt/M 1990, S. 23f.
  • 3Vgl. Grevemeyer, Jan-Heeren: Die Roma Bulgariens. Edition Parabolis Berlin 1998, S. 48.
  • 4Vgl. Rom e.V.: Das Pogrom. 650 Jahre Roma-Kultur im Kosovo. Rom e.V. Köln, S. 3.
  • 5Helsinki Watch Committee: Report 1991, S. 20.