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Antifa-Ost-Verfahren: How much is the snitch?

Carina Book
Einleitung

Im Prozess gegen die Antifaschistin Lina E. und drei Mitangeklagte sagt ein vermeintlicher Kronzeuge aus.

stop snitching
(Foto: Brooke Jones; CC BY-NC 2.0)

Monatelang schien der Prozess gegen Lina E. und drei Mitangeklagte ins Stocken geraten zu sein. Alle Zeichen standen auf „Wie Sie sehen, sehen Sie wenig bis nichts“. Doch hinter den Kulissen arbeiteten BKA und Verfassungsschutz an einer vermeintlichen Wunderwaffe: Im Februar 2021 machte das LKA Sachsen bei den Ermittlungen gegen Johannes Domhöver im Paragraf 129-Verfahren im Antifa-Ost-Komplex1 einen schwerwiegenden Beifang. Bei der Durchsuchung seines E-Mail-Postfachs stießen die Beamt*innen auf eine E-Mail aus dem Jahr 2017, in der Vergewaltigungsvorwürfe gegen Domhöver formuliert wurden. Die Staatsanwaltschaft eröffnete sogleich, noch im Februar 2021, ein Verfahren gegen Domhöver.

Nun ist es ja in Deutschland Brauch, dass Verfahren gegen Vergewaltiger und Täter sexualisierter Gewalt für Betroffene wenig aussichtsreich sind und in den meisten Fällen eingestellt werden. Es überrascht also wenig, dass dies auch in der Causa Domhöver der Fall war. Allerdings liegt hier der besondere Umstand vor, dass sich Johannes Domhöver zwischen dem Beginn des Vergewaltigungsverfahrens im Februar 2021 und dessen Einstellung im Mai 2022 entschlossen hatte, mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten.

Mit Johannes Domhöver präsentieren diese nun einen auskunftsfreudigen vermeintlichen Kronzeugen im Antifa-Ost-Verfahren. Angesichts dessen, dass er selbst Beschuldigter im Antifa-Ost-Verfahren sowie im genannten (aber inzwischen eingestellten) Vergewaltigungsverfahren und einem noch offenen Verfahren in Paris ist, rechnet sich Domhöver offenbar aus, einen guten Deal mit den Behörden gemacht zu haben.

Zeugenschutzprogramm

Domhöver darf auf Strafmilderung hoffen und befindet sich inzwischen im Zeugenschutzprogramm. Wie viel ein "Kronzeuge" im Zeugenschutzprogramm dem Staate Wert ist, zeigt exemplarisch eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Ursula Nonnenmacher an die Landesregierung in Brandenburg im Jahr 2017. Daraus geht hervor, dass sich die Kosten für den Zeugenschutz des NSU-Unterstützers Carsten Szczepanski alias V-Mann Piatto in den Jahren 2006 bis 2017 auf lediglich 38.000 Euro belaufen haben sollen. Ein neues Leben unter Palmen wird damit wohl nicht zu finanzieren sein.

Und auch die Berichte von Domhövers Vorgängern, die sich im Zeugenschutz befinden oder befunden haben, klingen wenig paradiesisch. Klaus Steinmetz, dessen V-Mann-Tätigkeit Anfang der 1990er Jahre von Wiesbadener Autonomen geoutet wurde, berichtet 1994 in einem Spiegel-Interview: „Ich fühle mich so beschissen wie noch nie in meinem Leben. Ständig muss ich aus Sicherheitsgründen den Ort wechseln.“ Auch Volker Speitel, der sich Ende der 1970er als Kronzeuge in den RAF-Prozessen und mit seinen Aussagen zur Stammheimer Todesnacht als „Meistersinger“ profiliert hatte, erlebte ein böses Erwachen: Speitel, der unter der neuen Identität Thomas Keller firmierte, schien es finanziell nicht besonders gut gegangen zu sein, schließlich ließ er sich regelmäßig stattliche Honorare für Zeitungsinterviews mit seinem früheren Ich bezahlen – dies ging so lange gut, bis seine Tarnidentität aufflog. Im Fall des V-Manns Jan Pietsch zeigte sich, dass eine Zusammenarbeit mit den Behörden auch schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben kann. Zehn Jahre lang hatte Pietsch Linke in Wuppertal und Solingen bespitzelt und sogar einen Neonazi, der als V-Mann in der rechten Szene agierte, gedeckt. In der STRG_F-Dokumentation „Der V-Mann – 10 Jahre Freunde bespitzelt“ berichtet er über die manipulative Beziehung, die sein V-Mann-Führer zu ihm aufgebaut hatte. Eine Ärztin diagnostizierte ihm sogar eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund seiner 10-jährigen V-Mann-Tätigkeit. Pietsch hat Schlafstörungen und ist seit zwanzig Jahren auf Schlaftabletten angewiesen. Darüber hinaus leidet er unter Depressionen, Angstattacken und Suizidgedanken. Die Verantwortung für diese Folgen wollten die Behörden nicht übernehmen. Nach einem jahrelangen Rechtsstreit wurden Pietsch schließlich 10.000 Euro zur „abschließenden Erledigung dieser Angelegenheit“ gezahlt. Nach einem Outing auf der Homepage "Indymedia" und während der Dreharbeiten zu seinem geplanten Selbstouting bei STRG_F, tauchte er auf eigene Faust ab – aus Angst vor dem Verfassungsschutz und vor denjenigen, die er zehn Jahre lang bespitzelt hatte.

So oder so ähnlich wird es nun wohl auch für Johannes Domhöver weitergehen. Doch bis dahin will Domhöver unter Beweis stellen, dass sich seine Aussagen für die Behörden wirklich lohnen, und so viele ehemalige Genoss*innen wie möglich beschädigen.

Was hat Domhöver ausgesagt?

Lina E. und die drei Mitangeklagten in dem Verfahren in Dresden sind in unterschiedlicher Konstellation in neun Tatkomplexen angeklagt. Lina E. soll als einzige an allen neun Tatkomplexen beteiligt gewesen sein. Domhöver, der selbst mit weiteren Beschuldigten im selben Konstrukt auf die Eröffnung eines Verfahrens in Gera wartet, gab in den vier Prozesstagen Ende Juli und Anfang August 2022, in denen er bisher aussagte, an, dass er bei einem der neun Tatkomplexe am Rande beteiligt gewesen sei. Insgesamt präsentiert Domhöver im Prozess jede Menge Spekulatives, Hören-sagen und füllt bestehendes Nicht-Wissen mit Fantasie auf. In Bezug auf die Anklageschrift liefert Domhöver bisher folglich recht wenig für einen Kronzeugen, der im Zeugenschutz sein will – denn das muss man sich verdienen.

Und Domhöver will sich das offenbar damit verdienen, einen möglichst massiven Fall Out zu produzieren. Ob wahr oder gelogen, ob wichtig oder unwichtig: Um sich selbst in den Zeugenschutz zu retten, wirft Domhöver alles Mögliche in die Luft.2 So wird plötzlich ein Restaurantbesuch am Kotti in Berlin anlässlich der Rückkehr eines Genossen aus Kurdistan zu einem scheinbar berichtenswerten Ereignis – er benennt alle zehn Personen, die mit ihm dort essen gewesen sein sollen. In Bochum habe er Johann G. einmal in einer WG getroffen, gekocht und sich einen netten Nachmittag gemacht. Bei einem Treffen in einem Berliner Park will Domhöver erfahren haben, wie der erste Angriff auf den Neonazi-Treff Bulls Eye abgelaufen sei. Überdies nannte Domhöver die mutmaßlichen Mitglieder der Grafitti-Gruppe „Nakam“. Und als er gefragt wird, ob es ein Vorratslager oder Depot von Schlagwerkzeugen gegeben habe, antwortet er, das wisse er nicht, aber er könne sich das vorstellen. Schließlich erzählt Domhöver dann von sogenannten „Szenario-Trainings“ in Leipzig, bei denen Angriffe wie auf den Neonazi Leon Ringl in verteilten Rollen eingeübt worden sein sollen. Konkrete Planungen von Angriffen habe er beim Training nicht mitbekommen, wohl aber Gespräche über die sogenannte 215er-Liste.

Die 215er-Liste, auch „Connewitz-Liste“ genannt, wurde im Dezember 2016 veröffentlicht und enthält die Namen der 215 Neonazis und rechten Hooligans, die den Leipziger Stadtteil Connewitz am 11. Januar 2016 überfielen und von der Polizei vor Ort festgesetzt wurden. Welche Rolle die Liste gespielt habe, will der Vorsitzende wissen. Domhöver sagt aus, es sei nur sein subjektiver Eindruck, aber er habe das Gefühl, dass die Liste relevant gewesen sei, weil sich die darauf stehenden Neonazis getraut hätten Connewitz anzugreifen. „Die Liste war quasi wie ein Geschenk“, sagte Domhöver. Man habe sie „abarbeiten“ wollen.

Welche Konsequenzen haben die Aussagen?

Bereits im Juni 2022 hat es aufgrund der Aussagen von Domhöver erneute Hausdurchsuchungen in Leipzig und Berlin gegeben. Zudem wurden mehrfach GPS-Peilsender an PKW gefunden. Dies dürfte wohl noch nicht das Ende der Fahnenstange gewesen sein. In den vergangenen Jahren hat die sächsische Justiz auf der Suche nach einer kriminellen Vereinigung in der linken Szene und/oder im Umfeld des Fußballvereins Chemie Leipzig keinen Stein auf dem anderen gelassen. Drei großangelegte Ermittlungsverfahren wurden lanciert. Ende 2016 und im Juni 2018 mussten zwei Ermittlungsverfahren ergebnislos eingestellt werden. Nun einen vermeintlichen Kronzeugen bei der Hand zu haben, der bereitwillig das aussagen wird, was die Behörden von ihm erwarten, wird das sächsische LKA zu nutzen wissen, um weiterhin massiv gegen die verhasste Szene in und um Leipzig vorzugehen.

Domhöver selbst soll Ende September 2022 an weiteren Verhandlungstagen aussagen. Dann will sich die Verteidigung den vermeintlichen Kronzeugen vornehmen. Dabei wird es auch darum gehen, wie der Kontakt zu Verfassungsschutz und BKA zustande kam und welche Versprechungen die Behörden ihm konkret für eine Aussage gemacht haben. Ist die Einstellung des Vergewaltigungsverfahrens ein Ergebnis der Kooperation mit den Behörden? Wie viel sind Aussagen eines Mannes wert, der sich durch Vergewaltigungsvorwürfe und Verrat in der Szene zur Persona non grata gemacht hat und dessen oberste Ziele sind, nicht aus dem Zeugenschutz zu fliegen und möglichst große Rache an der Szene zu nehmen?

(Der Artikel ist ein aktualisierter und überarbeiteter Nachdruck aus der ak 684 / August 2022)

  • 1Neben dem Prozess gegen Lina E. und die drei Mitangeklagten am OLG in Dresden läuft ein weiteres, abgetrenntes Verfahren gegen fünf weitere Beschuldigte, das an die Generalstaatsanwaltschaft Gera weitergegeben und noch nicht eröffnet wurde. Darüber hinaus gibt es weitere Personen gegen die bereits Verfahren wegen „Mitgliedschaft in derselben Vereinigung“ eingeleitet wurden. Deswegen wird von „Antifa-Ost-Komplex“ gesprochen, denn der Prozess gegen Lina E. und Co. wird wohl nicht der einzige bleiben.
  • 2Alle folgenden Aussagen sind von Domhöver öffentlich vor Gericht in die Welt gesetzt worden. Sie werden hier nur wiedergegeben.