Ungarn: Hate Crime gegen Neonazis? Antifas in Haft.
Budapest Solidarity Berlin (Gastbeitrag)Die Gruppe "Budapest Solidarity Berlin" gibt einen Überblick über die Situation nach den Verhaftungen von zwei Antifaschist:innen aus Deutschland und Italien im Februar 2023 in Budapest.
Seit über einem halben Jahr sitzen Tobi, ein Berliner Genosse, und eine Mailänder Genossin in Budapester Untersuchungs-Haft.1 Sie harren dort nicht nur unter besonders schlechten Bedingungen, Teilisolation und Schließer:innenwilkür aus - etwas, dass wir2 vom Knastsystem nicht anders erwarten, sondern sie sind darüber hinaus inhaftiert in einem rechtsautoritären Staat, der ein besonderes politisches Interesse an der Verfolgung westeuropäischer Antifaschist:innen hat.
Ungefähr ebenso lang werden mindestens sechs weitere Genoss:innen durch einen europäischen Haftbefehl im gleichen Zusammenhang in Budapest gesucht. Deutsche Behörden unterstützen und haben selbst Ermittlungen aufgenommen.
Dass die beiden Genossen:innen nach einem legalen europäischen SS-Gedenken in einer ungarischen Zelle sitzen und nicht einer der zahlreichen und gewaltausübenden Neonazis, spricht Bände darüber, wen die ungarischen Behörden als politische Gegner:innen verstehen. Es weist wenig darauf hin, dass die Haftbefehle fallen gelassen und die inhaftierten Genoss:innen frei gelassen werden.
Dass die ungarischen Polizeibehörden die Verhaftung der ursprünglich drei Genoss:innen nicht als eine ,gewöhnliche‘ Straftat behandeln werden, zeigte die ausgreifende und im TV ausgestrahlte Pressekonferenz der Budapester Polizei. Darin bemühten sich zwei Polizeioffiziere die angegriffenen Neonazis als unbescholtene Opfer darzustellen, während die Verhafteten als besonders gefährliche Gewalttäter:innen erscheinen sollten.
Kein Wunder in einem Land, dass sich mitten im autoritären Umbau der Öffentlichkeit und des Staates befindet. Der Rechtsruck von Victor Orban und der Fidesz-Partei3 bringt nach und nach die Medienlandschaft unter Kontrolle und behindert kritische Stimmen. Die Arbeit der Opposition und NGOs, die sich beispielsweise für die marginalisierte Roma-Bevölkerung oder Anerkennung sexueller Vielfalt einsetzen, wird immer weiter eingeschränkt. Kriminalisierung und Repression gegen Aktivist:innen sind dabei zentraler Teil des politischen Programms. Das wird auch durch die wachsende politische Kontrolle der Fidesz-Exekutive gegenüber dem Justizapparat und Richter:innenschaft ermöglicht, wie bspw. der Amnesty International Bericht „Status of the Hungarian Judiciary“ (2021) dokumentiert.
Darüber hinaus ist es für uns wegen sehr sparsamer Behördeninformationen und Sprachbarrieren schwierig die Situation vor Ort einzuschätzen. Trotzdem ist klar: Die Auswirkungen des rechten Staatsumbaus prägen die Ermittlungen und sind auch in den zukünftigen Gerichtsprozessen zu erwarten. Die ungarischen Anwält:innen haben uns gegenüber geäußert, dass es nur noch wenige Richter:innen gibt, die nicht auf Orbans Linie sind.
Was wird den Genoss:innen bisher vorgeworfen?
Zuerst standen die Verhafteten in Verdacht „Gewalt gegen Mitglieder einer Gemeinschaft“ in besonders schweren Fällen (mehrfach, in einer Gruppe und bewaffnet) ausgeübt oder geplant zu haben. Dass die Staatsanwaltschaft diesen Strafrechtsparagraphen 216 anwendet ist absurd und verrät etwas über deren Bewertung darüber, was es heißt Neonazi zu sein. Der Paragraph 216 des ungarischen Strafgesetzbuches anerkennt die besondere Schwere einer Gewalttat gegen gesellschaftlich diskriminierte Gruppen wie LGBTQI-Personen, ethnische ,Minderheiten‘ oder Personen mit Behinderung. Unterm Strich unterstellt die Budapester Staatsanwaltschaft, Neonazis wären eine diskriminierte Minderheit und die Genoss:innen hätten ein Hate Crime gegen Neonazis begangen. Eine weitere bittere Ironie begleitet den Vorwurf: Diese Hate-Crime-Regelung ist erst auf Druck der Europäischen Union für stärkere Antidiskriminierungsgrundsätze ins ungarische Strafrechtssystem aufgenommen worden.
Zur Zeit wird die direkte Tatbeteiligung nur noch gegen die Mailänder Genossin aufrecht erhalten. Es drohen ihr dafür eine über zehnjährige Haftstrafe. Für den Vorwurf gegen Tobi scheinen die Ermittler:innen nicht ausreichend Indizien präsentieren zu können. Seit April 2023 wird er „nur noch“ beschuldigt, Mitglied in einer kriminellen Vereinigung zu sein, die hinter den Angriffen auf Neonazis in Budapest im Februar 2023 stünde. Dafür drohen ihm ein bis fünf Jahre Haft. Wir vermuten, dass hinter dieser Änderung auch das Interesse steht, Tobi trotz mangelnder Indizien weiter im Knast festhalten zu können. Die Erkenntnislage scheint so dünn zu sein, dass die ungarische Staatsanwaltschaft sich Akten aus dem „Antifa Ost-Prozess“ schicken ließ, um ihre Vorwürfe zu unterfüttern.
Doch die deutschen Behörden tauschen nicht nur Akten mit dem ungarischen Justizapparat aus. Sie sind auf eigene Faust tätig geworden: Am 15. Februar 2023 wurden in diesem Zusammenhang zwei Wohnungen in Berlin durchsucht. Einen Tag später haben die Generalstaatsanwaltschaft Dresden und die Staatsanwaltschaft Berlin Ermittlungen gegen sieben Personen wegen gefährlicher Körperverletzung in Budapest aufgenommen - wieder mal unter der Federführung des LKA Sachsen.
Seit Ende Februar 2023 sucht die ungarische Polizei mit Haftbefehlen nach drei weiteren Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Am 15. März 2023 gab es auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Dresden drei Razzien in Leipzig und fünf in Jena. In Thüringen wurde diesbezüglich offenbar eine Sonderkommission des Staatsschutzes im LKA gebildet.
Auf "Anti-Antifa"-Internetseiten, rechten Blogs und in Teilen der ungarischen und deutschen (rechten) Presse werden diese Fahndungen, inklusive Fotos und Namen der Betroffenen, vielen Spekulationen und auch massive Hetze geteilt und bejubelt.
Der Zustand des Rechtsstaates spiegelt sich auch in den Haftbedingungen in Ungarn als den härtesten in Europa wieder. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied schon 2015, dass Ungarn präventive und entschädigende Maßnahmen einführen sollte. Auch die BRD ist sich diesen Verhältnissen bewusst, so werden bei einer Verrechnung ein Tag Freiheitsentzug in ungarischen Gefängnissen als drei Hafttage in Deutschland gezählt.
Die Informationen, die uns die Genoss:innen zutragen, bestätigen dieses Bild der miserablen Bedingungen: Besonders die Isolation macht den Inhaftierten zu schaffen. In den ersten Wochen hatten sie keinen Kontakt zur Außenwelt, außer zu ihren ungarischen Anwält:innen. Die italienische Genossin wurde mehrere Wochen in Isolationshaft festgehalten. Es war nicht möglich Briefe, Geld und Pakete in die Gefängnisse zu senden. Den Genoss:innen fehlte es so nicht nur am sozialen Austausch, sondern auch am Nötigsten. Über Wochen hatten sie nur die Kleidung zur Verfügung, die sie bei der Inhaftierung mit sich trugen. Die Ernährung der Inhaftierten ist darüber hinaus kaum ausreichend, wenn man die miserable Essensausgabe nicht durch Einkäufe des gefängniseigenen Ladens aufstocken kann. Jene Einkäufe, die oft willkürlich gestrichen werden, waren ohne Kontakte, die Geld auf das Haftkonto überweisen, lange Zeit gar nicht möglich.
Der Nahrungsmangel ist jedoch nicht der einzige Angriff auf die Gesundheit der Inhaftierten. Hofgänge sowie das Recht auf eine Duschmöglichkeit hängen vom Gutdünken der Wärter:innen ab und werden auch mal für zwei Wochen entzogen. Im Sommer haben sich die Räume bis auf über 40 Grad erhitzt, während gleichzeitig die Möglichkeit, Fensterklappen zu öffnen, verboten wurde. Es sind vereinzelt Mithäftlinge aufgrund der Hitze kollabiert. In ungarischen Gefängnissen wimmelt es von Bettwanzen und anderen Insekten. Krankheiten können sich fast ungehindert ausbreiten. Leider macht sich die kaum vorhandene medizinische Versorgung immer stärker bemerkbar. Mehrmals wurde bei Verhören und richterlichem Anhörungen ,vergessen‘, den Rechtsbeistand der Genoss:innen über die Termine zu informieren oder vorher ausreichend mit Informationen zu versorgen.
Die Verhaftungen und Verfolgungen sind als Angriffe auf die antifaschistischen Bewegungen in Ungarn und Deutschland zu verstehen. Der Kontext ist die erfolgreiche Mobilisierung durch die Kampagne ,NS-Verherrlichung stoppen‘ und ungarischer linker Gruppen gegen das neonazistische Gedenken zum „Tag der Ehre“ in Budapest, welches zu den wichtigsten Vernetzungstreffen der europäischen Neonaziszene zählt.
Wir erwarten einen politischen Prozess, der die autoritären Tendenzen weiter stärken und gegen jedweden progressiven Aktivismus mobil machen soll. Wir stellen uns auf ein langwieriges Verfahren und auf eine lange Zeit der Unsicherheit mit Tobi und der italienischen Genossin in Untersuchungs-Haft ein. Die Isolation der Genoss:innen von ihren Freund:innen und Gefährt:innen erschwert die Solidarität. Sie macht sie jedoch nicht unmöglich. Wir freuen uns über Unterstützung jeder Art - Öffentlichkeit, Geld, politischen Druck und gute Einfälle, wie wir unsere Genoss:innen aus dem Knast kriegen.
Nachtrag:
In der Nacht vom 20. auf den 21. November 2023 wurde Gabriele aus Mailand verhaftet und ins Gefängnis von San Vittore gebracht. Nach der ersten Anhörung wurde ihm am Mittwoch, den 22. November 2023, Hausarrest mit allen Einschränkungen gewährt, wo er sich derzeit befindet. Ein von Ungarn ausgestellter Europäischer Haftbefehl lastet auf ihm wegen der Ereignisse vom Februar 2023, als einige Neonazis in Budapest anlässlich des „Tages der Ehre“ angegriffen wurden. In Berlin wurde am 11. Dezember 2023 eine weitere Person im Zusammenhang mit dem Budapest-Komplex verhaftet und in Untersuchungshaft genommen.
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