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Ungarn: (Neo)Faschismus als Krisenmanagement?

Red Jack
Einleitung

In Osteuropa – und anderen peripheren und semiperipheren Regionen der Welt – kann eine marktorientierte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung langfristig nur mit autoritären Mitteln gelenkt werden. Die liberale Demokratie ist „Luxus“ der Länder des Zentrums. In Ungarn hat die bürgerliche Demokratie seit dem 20. Jahrhundert autoritäre, auf demokratischem Weg nicht abwählbare Regierungen nur für eine kurze Zeit abgelöst. Die letzte und längste Phase dauerte von 1990 an 20 Jahre.

Foto: flickr.com; Leigh Phillips; CC BY-NC 2.0

Aufmarsch von "Jobbik" und "Magyar Garda" am 3. April 2011 gegen Roma und Sinti in Hejoszalonta.

Im Jahr 2010 gewann die Partei "Fidesz – Magyar Polgári Szövetség" 1 mit großer Mehrheit die Wahlen. Seither baut sie sukzessive rechtsstaatliche Institutionen ab um sicherzustellen, dass sie alle vier Jahre wieder gewinnen wird. Die Opposition lässt man dahinvegetieren.

Die neofaschistische Partei "Jobbik - Magyarországért Mozgalom" („Bewegung für ein besseres Ungarn“) hat diese Politik von außen unterstützt. Als Jobbik aber an der Macht beteiligt werden wollte, wurde auch sie von der Regierung zermürbt. Nun steht die Partei, die vor einem Jahr noch die stärkste Oppositionspartei gewesen ist, kurz vor der Auflösung. Fidesz kann nicht von rechts überholt werden. Die meisten traditionellen Elemente der faschistischen Ideologie wurden in die Regierungspolitik übernommen. Als Feind gilt alles „Fremde“: Migrant_innen, unabhängige Intellektuelle, die Ärmsten - unausgesprochen die Roma, Drogenabhängige, Homosexuelle, Atheist_innen und Kommunist_innen, aber auch das internationale Finanzkapital (was in Ungarn kaum verdeckt der „Jude“ bedeutet), die Nachbarstaaten und die EU. Ziel ist eine „auf Arbeit basierende“, rein ungarische und christliche Gesellschaft.

Das Regierungsprogramm von 2019 sieht vor, dass alle Frauen vier Kinder bekommen sollen, vor allem „anständige ungarische“ Frauen, die gut verdienen. Die Wirtschaftspolitik von Fidesz ist im Wesentlichen neoliberal. Von der staatlichen Unterstützung bekommt die Mehrheit immer weniger. Für jene, die weit über dem Durchschnitt verdienen2 – das sind ca. zehn bis 20 Prozent der Gesellschaft - werden Förderungen ausgebaut. Es gibt zwar keine offene Diktatur und noch keinen Faschismus, aber das autoritäre System in Ungarn steht auf festem Grund.

90 Prozent der traditionellen Medien sind unter staatlicher Aufsicht. Dass die Unabhängigkeit der Gerichte aufgehoben wurde, fällt besonders auf, wenn es um Wirtschaftskriminalität geht. Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Familie sind über Stroh­männer zu den reichsten Menschen des Landes geworden. Das ökonomische Umfeld birgt Vorteile: Die Fördermittel der europäischen Union und die riesige Steuer­vorteile genießenden, deutschen Autofabriken ermöglichen Lohnerhöhungen. Aufgrund von Auswanderung – bereits fünf Prozent der Bevölkerung lebt in Westeuropa – gibt es kaum Arbeitslosigkeit. Die staatliche Propaganda ist stark und grob. Die permanenten Kampagnen gegen Geflüchtete, György Soros3 und jegliche Opposition atmen einen Nazigeist.

Die ungarische Rechte ist nach rechts hin vollkommen offen. Im geistigen Hinterland der Regierung findet die Alt-­Right-Bewegung eine Heimat sowie alle Vertreter des Geschichtsrevisionismus. Die gemäßigte Rechte gilt in Ungarn als links. Die Gesellschaft ist stark durchdrungen von einem antiziganistischen Rassismus und wegen der xenophoben Regierungspropaganda feindlich gegenüber Migrant_innen eingestellt. Eine Art nationale Romantik, etwa in Form von „nationaler Rockmusik“, ist insbesondere unter Jugendlichen weit verbreitet. Unter diesen Sammelbegriff fallen sowohl gemäßigte irredentistische4 Bands als auch offene Neonazibands.

Die Mitgliederzahlen organisierter Neonazigruppen in Ungarn sind gering, es sind vielleicht ein paar Tausend. Jedes Jahr treffen sie sich im Februar am „Tag der Ehre“, um an den Ausbruchsversuch deutscher und ungarischer Truppen im Jahr 1945 zu erinnern, die in Budapest eingekesselt waren. Größer ist die Basis jener uniformierten und offen mit Nazisymbolik arbeitenden Gruppen, die zum Bewegungsflügel von Jobbik gerechnet werden: Die paramilitärische Bürgerwehrorganisation „Betyársereg“ („Armee der Ausgestoßenen“), die verbotene ultra-rechte Jugendorganisation „64 Vármegye Ifjusagi Mozgalom“ („64 Gespanschaften“) und „Légio Hungária“, die zum „Hammerskin“-­Netzwerk gehört. Diese Gruppen waren lange eng mit dem der Neonaziszene nahestehenden Flügel der Jobbik verbunden, was sich erst änderte, als die Partei versuchte, sich vor den Wahlen das Image einer gemäßigten Zentrumspartei zuzulegen. Das ist ihr nicht gelungen. Fidesz sah in ihr eine Konkurrentin und in den regierungsnahen Medien wurde der frühere Bündnispartner nunmehr als „nazistisch“ betitelt5 . Ein Teil der Partei schied aus und gründete die regierungsloyale Oppositionspartei „Mi Hazánk Mozgalom“ („Bewegung Unsere Heimat“). Sie rekrutiert sich hauptsächlich aus den Reihen der früheren radikalen Mitglieder, aber die Neonazibasis hat sich nicht ganz hinter sie gestellt. Als Arbeiter_innen im Dezember vergangenen Jahres gegen den Abbau ihrer Rechte demonstrierten, drohte einer der führenden Köpfe von Jobbik damit, die paramilitärische „Betyársereg“ gegen sie einsetzen zu wollen. Doch diese weigerte sich.

Die öffentliche Meinung in Ungarn steht Neonazis nicht ablehnend gegenüber, es herrscht eher eine allgemeine Gleichgültigkeit. Die Mehrheit betrachtet vielmehr linken Antifaschismus als eine extremistische Ideologie. Die liberale bürgerliche Mittelschicht setzt ein Gleichheitszeichen zwischen linken und rechten „Radikalismus“. Die Mittelschicht mag zwar auch Neonazis nicht, diskutiert aber dann doch lieber über die „Gräuel des Kommunismus“. Oppositionelle Politiker_innen tolerieren die Hetze gegen Migrant_innen, da sie sich vor den Wahlen doch lieber mit Jobbik verbünden wollen. So wehen auf Demonstrationen neben den Fahnen der „sozialistischen“ Partei die Fahnen von Jobbik.

Antifaschismus ist in Ungarn eine Subkultur. Am aktivsten und sichtbarsten ist die autonome antifaschistische Bewegung seit Jahren bei den Gegendemonstrationen zum „Tag der Ehre“. In diesem Jahr nahmen rund 200 Aktivist_innen daran teil. Da die Verhältnisse immer diktatorischer werden und die Neonazipropaganda zunimmt, steigt auch die Aufmerksamkeit für antifaschistische Aktivitäten. Antifa-Strukturen in Ungarn verbinden Antifaschismus mit Antikapitalismus: Man möchte mit den „liberalen oder sozialdemokratischen Illusionen“ brechen, der Kapitalismus könne nicht zu einem mit „menschlichen Antlitz“ gemacht werden. Die Barbarisierung des Systems gehe weiter und stärke präfaschistische Lösungsversuche wie das Orbansche System. Daher wird versucht, antifaschistische Ideen in oppositionelle, orbanfeindliche Bewegungen hineinzutragen und gleichzeitig den Antifaschismusbegriff zu einem allgemeinen Antikapitalismus zu erweitern.

Orban gilt hier als typische Figur: Er ist noch kein (Neo)Faschist, übernimmt aber, um seine Macht zu erhalten, bestimmte Methoden aus dem klassischen Faschismus – beispielsweise in der Propaganda und der permanenten Mobilisierung der Basis gegen einen „gemeinsamen Feind“. Orban nutzt keinen offenen Staatsterror, weil er ihn nicht braucht - seine Macht kann er auch zwischen der entleerten demokratischen Dekoration aufrechterhalten.

Neonazigruppen entwickeln sich in Ungarn zwar nicht zu Massenorganisationen, aber ihre Mitglieder können in staatliche Institutionen wechseln. Die geistige Basis des (Neo)Faschismus wird mit staatlicher Unterstützung gestärkt, während unabhängiges, kritisches Denken aus der Öffentlichkeit verbannt wird. Das Prinzip gesellschaftlicher Solidarität wurde zu einem, das verfolgt wird. Die gegenwärtige Krise hat den (Neo)Faschismus als Form des „Krisenmanagements“ zu einer „Alternative“ werden lassen.

Die Stärkung des extrem rechten Charakters der Regierung hat verdeutlicht: „Kapital und Faschismus sind verbandelt“, wie es in einem Gedicht des berühmten ungarischen sozialistischen Dichters Attila József (1905-1937) heißt. Zu Beginn der 2000er Jahre hat sich die neofaschistische Bewegung ein rebellisches Image verschafft und konnte eine breite Basis unter Jugendlichen aufbauen. AntifaschistInnen forden daher: "Die Zeit ist gekommen, diese Pseudo-Rebellion zu entlarven und eine wirkliche Rebellion zu ermöglichen."

  • 1Die "Fidesz – Ungarischer Bürgerbund" ist eine nationalkonservative oder ultra-rechte Partei, die ursprünglich als "Bund junger Demokraten" als liberale Protestorganisation gegründet wurde.
  • 2Der Nettodurchschnittslohn liegt bei 650 Euro im Monat, 70 Prozent der Beschäftigten weniger verdienen. Die Durchschnittsrente beträgt 400 Euro.
  • 3Soros selbst wird als der Teufel dargestellt, der die Figur eines alten antisemitischen Topos, „des Juden“ verkörpert. Er ist gleichzeitig Kapitalist und wegen seiner liberalen Prinzipien auch „Kommunist“. Orbán, wie früher bereits die Nazis, stellt sich als Antikapitalisten dar, ist aber eigentlich Antikommunist.
  • 4In den Texten der Bands geht es u.a. darum, dass die vor dem 1. Weltkrieg noch zu Ungarn gehörenden Gebiete (z.B. die Slowakei, Siebenbürgen in Rumänien) wieder zu Ungarn gehören sollen, weil mit dem Verlust ein Teil der ungarischen Seele verloren gegangen ist.
  • 5Zu Recht: Der Jobbik-Vorsitzende Tamás Sneider war vor 20 Jahren noch unter dem Namen „Roy“ ein Neonaziskinhead-Führer