Projektionsfläche Palästina
Antifas aus Berlin und Hamburg (Gastbeitrag)Knapp ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023 lässt sich innerhalb der Palästinabewegung eine stärkere Ausbreitung autoritärer Positionen sowie entsprechender Protagonist*innen feststellen. Für einen Teil dieser Szene dient darüber hinaus die Konstruktion des „Antideutschen“ als Möglichkeit eine Kritik am immer offener auftretenden Antisemitismus abzuwehren. Ein Gastbeitrag von "Antifas aus Berlin und Hamburg" (antifas_b_hh [at] systemli.org).
Am 7. Oktober 2023 griff die islamistische Hamas gemeinsam mit weiteren Gruppierungen gezielt Zivilist*innen in Israel an und tötete 1.139 Menschen. Im Zuge dieses Pogroms wurden 250 weitere als Geiseln genommen und in den palästinensischen Gazastreifen verschleppt. Mehr als 5.000 Menschen wurden verletzt und es kam zu gezielter sexualisierter Gewalt durch die Angreifer. Schon vor der erwartbaren militärischen Reaktion der israelischen Armee kam es zu pro-palästinensischen Solidaritätsbekundungen.
Nun sollte es kein Widerspruch sein, sich mit der Zivilbevölkerung in Israel und Palästina solidarisch zu zeigen, ohne das jeweilige Leiden zu relativieren. Doch innerhalb der pro-palästinensischen Proteste wurde das antisemitische Pogrom insbesondere durch links-autoritäre und queer-feministische Aktivist*innen zur legitimen Widerstandshandlung umgedeutet. Suggeriert wird mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt eine einfache Lösung, die im Rückzug der israelischen Armee bestünde und somit die kämpferischen Auseinandersetzungen beenden würde. Dieser Trugschluss blendet den eliminatorischen Antisemitismus der Hamas1 aus, erklärt ihre Taten allein aus der Geschichte palästinensischer Unterdrückung durch Israel heraus und lenkt von ihrer eigenen Rolle als handelnde politische Kraft ab.
Die Umdeutung des vom Vernichtungswillen geprägten Agierens der Hamas hat ihren Ursprung u.a. in der postkolonialen Theorie, die einen stark selektiven Blick auf Israel wirft. Ihr geht es „nicht um eine differenzierte Analyse israelischer Politik und Geschichte, sondern um die Delegitimierung des jüdischen Staates, wenn mit pauschalisierenden Formeln einer kolonialistischen Siedlungs- und Besatzungspolitik hantiert wird.“2 Eben jene Vorstellung Israels als Kolonialstaat3 erlaubt es insbesondere links-autoritären Gruppierungen, die islamistische Hamas kontextlos in eine willkürlich zusammengestellte Widerstandsgeschichte einzuschreiben, da ihr Kampf alleine dadurch, dass er aus ihrer Sicht anti-koloniale Züge trägt, bereits progressiv sei. So scheint es möglich, den reinen Akt des bewaffneten Widerstands, der sich in der Tötung von Jüd*innen und Juden manifestiert, als gar revolutionäres Moment zu verklären.
Ausgeblendet wird darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit den Zielen oder Gesellschaftsvorstellungen der in Palästina politisch Verantwortlichen. Mit der bedingungslosen Unterordnung im Kampf für ein „befreites Palästina“ - das nicht im emanzipatorischen Sinne auf die Befreiung aller Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung abzielt, sondern mit der Auslöschung Israels vollendet scheint - verschwindet jegliche Widersprüchlichkeit und Komplexität hinter plumpen „Free Palestine“-Rufen und ermöglicht es, jede Art von Barbarei zu unterstützen und sich kritiklos an die Seite reaktionär-islamistischer und antiemanzipatorischer Bewegungen zu stellen.
Erlösung und Bauchgefühl
Besonders umtriebig darin, diese Position zu etablieren, ist das (ehemalige)4 Mitglied der Partei Die Linke Ramsis Kilani aus Berlin, der auch bei den Initiativen „Sozialismus von unten“ und „Palästina spricht“ aktiv ist. Kilani ist seit dem 7. Oktober nicht nur durch eine Vielzahl menschenverachtender Postings aufgefallen, sondern inszeniert sich in den sozialen Medien sowie auf Demonstrationen und Veranstaltungen gerne als marxistischer Stichwortgeber der pro-palästinensischen Bewegung. In seinen oftmals redundanten Monologen geht es weniger um politische Inhalte, sondern darum, den Zuhörenden die Absolution zu erteilen, sich auf der „richtigen Seite“ der Geschichte versammelt zu haben. Dafür reicht es, aus „so einem moralischen Bauchgefühl auch Solidarität zu empfinden mit den klar Unterdrückten.“5 Dieses Bauchgefühl verleitet Kilani immer wieder zu historischen Absurditäten wie diesen: „Das Tunnelsystem Gazas dürfte das komplexeste der Widerstandsgeschichte sein – sogar noch komplexer als die Tunnelnetzwerke des Widerstand im Warschauer Ghetto und des Vietnam.“
Thomas von der Osten-Sacken hat dieses Agieren als Glaubenssätze charakterisiert: „Hier erscheint Gaza, wie der ewige Allmächtige. Reales Leiden, reale Menschen vor Ort sind dabei völlig uninteressant. Wie in fast jeder Religion geht es hier um ein kosmisches Ringen zwischen Gut und Böse, von dessen Ausgang auch ALLES abhängt.“6 Eine ähnlich wahnhafte und apokalyptische Deutung gesellschaftlicher und politischer Krisenerscheinungen zeigte sich zuletzt während der Coronapandemie.
Wenig überraschend gibt es mittlerweile neben inhaltlichen auch immer mehr personelle Überschneidungen von verschwörungsgläubigen Pandemieleugner*innen und pro-palästinensischen Protagonist*innen. So nahm z.B. der Aktivist Tarik K. 2021 an Protesten der Pandemieleugner*innenszene in Hamburg teil, bei denen auch die AfD mitlief. Heute ist er u.a. für die Partei „Die Urbane“ sowie die pro-palästinensische Gruppierung „Thawra“ aktiv. In diesem Kontext war K. organisatorisch eingebunden in das vor wenigen Wochen beendete „Palästina-Camp“ an der Hamburger Universität.
Diese fließenden Übergänge zwischen Verschwörungsglaube und Israelfeindschaft werden möglich durch die Bezugnahme auf gemeinsame Feindbilder und eine ähnlich unterkomplexe Erzählstruktur, die als strukturell antisemitisch charakterisiert werden kann. Strukturell meint hier, dass Jüd*innen und Juden als eigentlich Verantwortliche nicht offen benannt werden müssen, sondern antisemitische Chiffren auftauchen, die die gleichen Funktionen erfüllen und von den Rezipient*innen auch ebenso gut verstanden werden.
Autoritäre Antworten
Antisemitismus wird innerhalb der pro-palästinensischen Bewegung höchstens anerkannt als ein geschichtliches Phänomen in Verbindung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland. Aus dieser Denkweise speist sich die Idee, dass Solidarität mit angegriffenen Jüd*innen und Juden allein aus einer Staatsräson, die sich aufgrund einer besonderen deutschen Schuld ergibt, entspringen kann. Dieser „Schuldkult“ wird als Hindernis wahrgenommen und umso stärker bekämpft. Denn „erst wenn die Erinnerung an die jüdischen Opfer der deutschen Tat vollständig mit dem Wahnbild eines jüdischen Täterkollektivs übertüncht ist, kann man auch völlig erlöst von jeder historischen Verantwortung gegen die Existenz des jüdischen Staats zu Felde ziehen.“7
Diese Strategie entlud sich jüngst in Angriffen auf mehrere Gedenkorte in Berlin, die an Deportationen von Jüd*innen und Juden während des Nationalsozialismus erinnern. Dabei dient der Vorwurf der Staatsräson nicht nur als Angriff auf eine antifaschistische Erinnerungskultur, deren Ursprung oftmals in den sozialen Bewegungen der 1980er Jahre liegt, sondern trifft zunehmend auch linke Gruppen und Zusammenhänge, die Kritik am um sich greifenden Antisemitismus äußern.
Erneut bedienen sich die Protagonist*innen dabei einer Projektionsfläche und nutzen die Chiffre des „Antideutschen“ als Möglichkeit, diese nach Belieben zu füllen. Für die links-autoritäre Kampagne „Flora für Alle“ sind es „Deutsche, die die Verbrechen der Großelterngeneration gern auf Muslim*innen projizieren.“ Tatsächlich ist die Rote Flora als zentraler Ort der linksradikalen Szene in Hamburg in den Fokus geraten, weil sie sich mit dem Banner „Killing Jews is not fighting for Freedom“ gegen die Hamas positioniert hat. Auf einer der Kampagne vorausgehenden Kundgebung sowie einer kurzfristigen symbolischen „Besetzung“ wurden Flora-Aktivist*innen wiederum zu „imperialen NATO-Linken und ‚antideutschen‘ Israel-Fetischisierern“, die man aus dem Gebäude herausdrängen wolle. Vermittelt werden soll mit diesen Aktionen das Bild einer kämpferischen Bewegung, deren Inszenierung zwar wenig mit der realen Handlungsmacht dieser Gruppen zu tun hat, dafür viel aussagt über den Wunsch nach einfachen und autoritären Lösungen auf komplexe Verhältnisse.
Dem Ansinnen der „Befreiung Palästinas“ alles unterzuordnen wird letztlich nur den Feinden der Freiheit nützen und islamistische, verschwörungsgläubige sowie autoritäre Positionen stärken.
- 1
www.bpb.de/themen/islamismus/dossier-islamismus/36358/antisemitismus-un…
- 2
Udo Wolter; War es das?; iz3w-Heft 400; S. 10-12
- 3
Stefan Vogt; Ist Zionismus eine Form von Kolonialismus? In: Frenemies. Antsemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen. Meron Mendel, Saba-Nur Cheema, Sina Arnold; Berlin 2022; S. 194-197
- 4
Nachtrag: Im Dezember 2024 hat die Landesschiedskommission der Berliner Linkspartei Ramsis Kilani aus der Partei ausgeschlossen.
- 5
Interview 2020 mit „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“
- 6
https://jungle.world/blog/von-tunis-nach-teheran/2024/05/glaubst-du-gaza
- 7
https://jungle.world/artikel/2024/36/denkmal-free-palestine-from-german…